| # taz.de -- Intersexuelle: Weder männlich noch weiblich | |
| > Bei der Geburt muss schnell entschieden werden, welches Geschlecht das | |
| > Kind hat. Nicht immer ist das möglich. Für Betroffene hat dies oft | |
| > katastrophale Folgen. | |
| Bild: Mitglieder einer Selbsthilfegruppe von Intersexuellen demonstrieren in K�… | |
| BERLIN taz | Es handelt sich um Launen der Natur: Das biologische | |
| Steuerungsprogramm funktioniert aufgrund eines veränderten | |
| Chromosomensatzes oder einer genetischen Mutation nicht vorschriftsmäßig, | |
| der Hormonhaushalt ist gestört oder ein anderes Stoffwechselproblem führt | |
| zu einer atypischen Geschlechtsausprägung. Manchmal ist das schon bei der | |
| Geburt zu sehen, manchmal erst mit aufwendiger Diagnostik nachweisbar, und | |
| gelegentlich bilden sich die gegengeschlechtlichen Anlagen sogar erst in | |
| der Pubertät aus. | |
| Dann ist der Mensch nicht männlich oder weiblich, sondern irgendetwas | |
| "dazwischen", wobei sich der Variantenreichtum dem systematisierenden | |
| Willen entzieht. Dennoch hat der naturwissenschaftliche Glaube, die Natur | |
| korrigieren und in ordnungsgemäße Bahnen lenken zu müssen, bis in die | |
| Gegenwart viel Schmerz und Leid verursacht. | |
| Nachlesen lässt sich das in den einschlägigen Internetforen sogenannter | |
| intersexueller Menschen und neuerdings auch in der [1][Stellungnahme | |
| "Intersexualität" des Deutschen Ethikrats], nachgerade ein Novum, weil sich | |
| dieser in seinen Verlautbarungen sonst nicht auf individuelle Schicksale | |
| bezieht. | |
| Von entwürdigenden und schmerzhaften Genitalkorrekturen im Kindes- und | |
| Jugendalter wird dort berichtet, von Verstümmelungen und lebenslangen | |
| Hormontherapien, davon, wie Eltern und Betroffene von Ärzten belogen und | |
| ihnen Akten vorenthalten wurden und wie die medizinische Zurichtung das | |
| gesamte Leben der zu Patienten deklarierten Menschen bestimmt hat. | |
| Anlass der Stellungnahme war ein Auftrag der Bundesregierung, die | |
| Lebenssituation von Menschen mit Unterschieden in der geschlechtlichen | |
| Entwicklung (differences of sex development, DSD, so die | |
| nichtdiskriminierende Bezeichnung) zu erkunden und Empfehlungen zu ihrer | |
| Gleichstellung zu geben. | |
| ## Schluss mit dem binären Schema | |
| Unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Selbsthilfegruppen hat der Rat | |
| nach 14-monatiger Vorbereitungszeit ein bemerkenswertes Papier vorgelegt, | |
| in dem nicht nur erstmals offiziell die Leiderfahrungen eingeräumt werden, | |
| sondern das unmissverständlich festhält, dass jedem Menschen das Recht | |
| zusteht, "seine eigene Geschlechtlichkeit in eigener Verantwortung zu | |
| entscheiden" und deshalb nicht gezwungen werden kann, sich in einem | |
| "binären Schema von männlich und weiblich" festzulegen. | |
| Dieser Grundsatz stellt zunächst einmal die geltenden ärztlichen Leitlinien | |
| infrage, in denen Operationen noch immer als gängige Therapieform bei | |
| uneindeutigem Geschlecht gelten. Wobei zu unterscheiden ist zwischen | |
| Eingriffen, die das Geschlecht vereindeutigen - das sind zum Beispiel | |
| Hormongaben bei der relativ häufig auftretenden Androgenüberfunktion (AGS) | |
| - und solchen, die das Geschlecht gezielt zuordnen. | |
| Etwa, wenn einem "Mädchen" verborgen vorhandene Hoden entnommen, wenn | |
| Genitale "geweitet" oder Fortpflanzungsorgane entfernt werden. Entscheiden | |
| Eltern über den Kopf ihres Kindes hinweg, dessen Geschlecht noch unbestimmt | |
| ist, stellt dies einen erheblichen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht | |
| dar. | |
| ## Lebenslange Folgen | |
| Diese Irreversibilität der Intervention bei der "Herstellung" eines | |
| bestimmten oder bei der "Angleichung" an ein bestimmtes Geschlecht ist ein | |
| Problem, vor das Eltern und Therapeuten gestellt sind. Mit den Folgen haben | |
| die Betroffenen lebenslang zu tun. | |
| Die wenigen, teilweise methodisch nicht vergleichbaren Untersuchungen, die | |
| durch eine Onlinebefragung des Ethikrats ergänzt wurden, zeichnen ein | |
| beunruhigendes, allerdings auch widersprüchliches Bild von der | |
| Lebenswirklichkeit und Lebensqualität intersexueller Menschen. | |
| Nicht nur die traumatischen chirurgischen Behandlungserfahrungen scheinen | |
| darin auf; viele Betroffene wurden gar nicht oder nicht ausreichend | |
| aufgeklärt, sind unzufrieden mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht oder mit | |
| dem Operationsergebnis oder klagen über sexuelle Störungen und | |
| Missempfindungen. | |
| ## Option lange offen halten | |
| AGS-"Frauen" scheinen sich offenbar besser in ihre Rolle einzufinden | |
| (AGS-Betroffene, die als "Männer" leben, wurden allerdings überhaupt nicht | |
| berücksichtigt). Betroffene mit anderen DSD-Formen berichten von Angst vor | |
| sexuellen Kontakten, Rollenunsicherheit, Depressionen und starken | |
| körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit. | |
| Deshalb setzt sich zumindest langsam die Erkenntnis durch, dass die | |
| "Optionen" möglichst lange offen gehalten werden und Interventionen nur | |
| unter Einbeziehung der betroffenen Kinder und Jugendlichen - je nach Stand | |
| ihrer Entscheidungsfähigkeit - erfolgen sollten. | |
| Selbst wenn der chirurgische Eingriff in einem früheren Stadium mehr Erfolg | |
| verspricht, sind die damit verbundenen möglichen Lasten und Probleme | |
| dadurch nicht aufzuwiegen. | |
| ## Kindeswohl muss Vorrang haben | |
| Es mag Eltern schwerfallen, ein Kind ohne eindeutige Geschlechtsidentität | |
| zu erziehen. Ihre Rechte und ihre Fürsorgepflicht enden jedoch, wenn es um | |
| die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes geht. | |
| Viele Betroffene fordern deshalb, dass Eingriffe bei Minderjährigen nur in | |
| lebensbedrohlichen Lagen - zum Beispiel bei hormonell bedingtem Salzverlust | |
| oder Tumorbildung - indiziert seien. | |
| Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, erleben | |
| auch im Alltag Diskriminierungen. Das beginnt schon bei der | |
| Selbstdeklarierung: Mann oder Frau? Das deutsche Personenstandsrecht | |
| verpflichtet zu entsprechenden Angaben, daran änderte auch das | |
| Transsexuellengesetz nichts. | |
| Der Gesetzgeber in Deutschland verlangt Eindeutigkeit, aus familien- oder | |
| sozialrechtlichen Gründen und - paradoxerweise - um den Grundsatz der | |
| Gleichbehandlung von Männern und Frauen durchsetzen zu können. Doch viele | |
| Juristen behaupten, dass die beiden ausschließlichen Kategorien "männlich" | |
| und "weiblich" - die seitens des Rechts gar nicht definiert sind - | |
| ordnungspolitisch nicht zu begründen sind. | |
| ## Hirschfelds Vorschlag: ein "drittes Geschlecht" | |
| Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hatte in den zwanziger Jahren | |
| deshalb ein "drittes Geschlecht" vorgeschlagen, und es gibt Länder, wo man | |
| "anderes" ankreuzen kann, wenn man sich weder nur männlich oder nur | |
| weiblich fühlt. | |
| Dies aber, wird dagegengehalten, könnte schon wieder zu Diskriminierungen | |
| führen. Also doch lieber gar keine Zuordnung und Verzicht auf die | |
| entsprechende Rubrik, die künstlich Ordnung schaffen soll, wo offenbar doch | |
| nur sex trouble herrscht? | |
| Mit der messerscharfen, ordnungschaffenden Zurichtung kam viel Unglück in | |
| die Welt. Vielleicht ringt sich der Gesetzgeber ja ein einziges Mal zu | |
| einer fröhlichen Unordnung durch. | |
| 23 Feb 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Baureithel | |
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