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# taz.de -- Aktivist_innen über Intergeschlechtlichkeit: „Es gibt viele Arte…
> Im Schwulen Museum in Berlin ist erstmals eine Ausstellung über
> Intergeschlechtlichkeit zu sehen. Viel zu oft wird sie im „LGBTIQ“
> ignoriert.
Bild: Sunil Gupta: Untitled #13, aus der Serie „The New Pre-Raphaelites“, 2…
taz: LGBTIQ-Themen wurden in den letzten Jahren viel diskutiert – doch das
I fällt dabei meist aus dem Blick. Wie kommt das, Ev Blaine Matthigack und
Ins A Kromminga?
Ev Blaine Matthigack: Es ist immer noch so, dass die Medizin hauptsächlich
die Autorität hat, das Thema Intergeschlechtlichkeit zu verhandeln. Das
Thema Inter* hat in den letzten Jahren tatsächlich mehr gesellschaftliche
Aufmerksamkeit bekommen, allerdings wird häufig über Inter* gesprochen
anstatt mit ihnen.
Das Schwule Museum in Berlin zeigt zum ersten Mal in seiner Geschichte eine
Ausstellung, die dezidiert dem Thema Intergeschlechtlichkeit gewidmet ist
und maßgeblich von inter* Personen gestaltet wurde. Was ist das Besondere
an dieser Ausstellung?
Matthigack: Die Ausstellung ist ein Statement in die Gesellschaft und
möchte Wissen vermitteln. Die Inter*-Community kommt hier selbst zu Wort.
Es werden Perspektiven von Menschen gezeigt, die in verschieden
Weltregionen Menschenrechtsarbeit machen. Nennen wir es einen
aktivistischen Wissens- und Erfahrungsspeicher.
Ins A Kromminga: Uns war es wichtig, eine Verbindungslinie aufzuzeigen mit
denen, die vor uns da waren. Intergeschlechtlichkeit ist nichts Neues, es
hat sie schon immer gegeben. Nur wie wir als Gesellschaft damit umgehen,
hat sich in den letzten 60, 70 Jahren extrem verändert. In westlichen
Ländern wurde der Zugriff der Medizin seit den 1950er Jahren so enorm, dass
es eigentlich kaum noch Inter* gibt, die durch dieses Raster rutschen und
nicht im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Weise medikalisiert werden. Es
geht also leider immer noch um Grundsatzfragen wie körperliche
Unversehrtheit und Selbstbestimmung.
Matthigack: In der Ausstellung werden Gewalterfahrungen in Bezug auf
Medizin und Rechtsprechung thematisiert, sie werden aber künstlerisch
transformiert. Die Ausstellung zeigt dabei auch, dass es eine starke
Community gibt, die mittlerweile anfängt, sich in ihrem Inter*-Sein zu
feiern.
Das Begleitheft zur Ausstellung beschreibt Fotografie als ein gewaltvolles
Instrument der Medizin. Inter* Körper wurden für einen medizinischen Blick
exponiert, den Fotografierten wurde auf solchen Abbildungen sogar häufig
ein schwarzer Balken über die Augen gelegt.
Kromminga: Es gab die Frage, ob wir noch mal direkteren Bezug nehmen auf
solche historischen Abbildungen, die auch im Schwulen Museum im Archiv
vorhanden sind. Da haben wir uns aber ganz klar dagegen entschieden. Auch,
weil wir noch heute nicht an der Stelle sind, entpathologisiert zu sein.
Wir haben noch nicht die Menschenrechte, die andere Menschen vielleicht
erst mal so für sich in Anspruch nehmen können.
Matthigack: Fotografie wurde dann später zu einem Mittel, auf diese
Traditionen zu antworten. Eine der ersten Inter*-Aktivist_innen, Mani Bruce
Mitchell, hat das Medium zum Beispiel für sich angewendet. Und zwar bereits
in den 1990er Jahren, als das Thema überhaupt erst sichtbar wurde und bevor
es auf einer Menschenrechtsebene bei den Vereinten Nationen diskutiert
wurde. Da hat sie_er sich sehr stark mit der Fotoarbeit „Mani (I am not a
monster)“ von Rebecca Swan platziert. Das ist eine ganz klare Ansage.
Wie würden Sie den Platz von I in LGBTIQ beschreiben?
Kromminga: Der kleinste gemeinsame Nenner war immer, dass wir ähnliche
Diskriminierungserfahrungen machen wie Schwule, Lesben, Trans* usw. Zum
Beispiel was Pathologisierung angeht und die Normvorstellung, wie Körper zu
sein haben. Das ist eng verflochten mit Vorstellungen von Geschlecht und
Gender. Diese Binarität, die weiterhin in unserer Gesellschaft vorherrscht,
hat sehr stark damit zu tun, wie mit inter* Menschen, mit inter* Kindern
umgegangen wird.
Wir müssten also viel grundsätzlicher über Geschlecht und Gender
nachdenken?
Matthigack: Wir können auch beim Personenstandsgesetz noch weiter denken.
Bei [1][OII Germany] setzen wir uns für die Abschaffung einer Registrierung
des Geschlechtes ein.
Kromminga: Diese Vorstellung, dass die körperliche Norm klar männlich und
klar weiblich ist und dass sich alle später auch mit dem Geschlecht, das
ihnen zugewiesen wurde, identifizieren, wird als selbstverständlich
vorausgesetzt. Inter* fallen da schon auf der körperlichen Ebene raus und
werden aufgrund dieser starren Wahrnehmung diskriminiert und in ihren
Menschenrechten verletzt.
Hinzu kommt Unwissen darüber, wie inter* Menschen sich selbst sehen.
Kromminga: Beim [2][Personenstandsgesetz] gab es oft diese verkürzte
Wahrnehmung, „jetzt gibt es das dritte Geschlecht in Deutschland“. Diese
Vorstellung von einem „Dritten Geschlecht“ ist aber eine Versimplifizierung
und falsche Darstellung von dem, was Intergeschlechtlichkeit bedeutet. Das
betrifft auch „divers“. Nach dem Motto, „dann sind alle Inter* jetzt
‚divers‘“. Im Leben vieler inter* Menschen ist das aber nicht so, viele
finden sich da nicht wieder. Es gibt so viele unterschiedliche Arten,
inter* zu sein. Natürlich sind nicht alle Inter* automatisch auch LGBTQ. Es
gibt aber Inter*, die sich auch als queer definieren, als trans*, lesbisch
oder schwul lebend.
Die Kategorie „cis-gender“ wird oft benutzt, um Menschen zu bezeichnen,
deren Genderidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt
zugewiesen wurde. Ist das auch eine Kategorie, die wir noch mal überdenken
müssten?
Matthigack: Es gibt natürlich auch Inter*, die sich als Mann oder als Frau
verstehen oder heterosexuell leben. Der Begriff „cis“ ist aber trotzdem für
Inter* in Teilen wirklich nicht hilfreich.
Kromminga: Es gibt ja häufig die Vorstellung, „cis ist erst mal
privilegiert“. Inter* erleben das aber oft anders. Wenn eine inter* Person
als Mann oder Frau lebt, könnte man sagen, dass diese Person auch
Privilegien erlebt, wenn sie sich mit einem der üblichen Geschlechter
identifiziert. In der Wahrnehmung des Außen wird das ja auch bestätigt oder
unterstützt.
Gleichzeitig bedeutet aber Inter* zu sein in dem Fall, dass man andere
Punkte hat, wo man Diskriminierungen erlebt oder verletzt wird, wie z. B.
durch medizinische Eingriffe, die nicht notwendig sind, oder bei der
Gesundheitsversorgung, in der der eigene inter* Körper an unpassenden
Standards gemessen und tatsächliche Bedarfe oft nicht berücksichtigt
werden. Das ist also eine wichtige Frage von Intersektionalitäten.
In Deutschland ist dieses Jahr das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit
Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verabschiedet worden.
Matthigack: Das ist ein wichtiges Signal, dass intergeschlechtliche Kinder
geschützt werden müssen vor nicht eingewilligten Eingriffen.
Kromminga: Wir haben mehrere [3][Stellungnahmen] in diesem Prozess
formuliert und hoffen, dass sich diese Sachen zumindest in Deutschland zum
Positiven verändern. Aber wir haben da auch weiter große Bedenken, wie zum
Beispiel bei der Zusammenstellung der angedachten Kommission, die weiter im
klinischen Setting verbleibt und damit Entscheidungsprozesse von vornherein
unter einen pathologisierenden Blickwinkel stellt.
Beim Thema Operationen an Kindern horchen viele auf. Wie geht es eigentlich
inter* Teenagern oder Erwachsenen?
Kromminga: Es wird tatsächlich nie wirklich geschaut, was ist denn mit den
Leuten los, wenn sie dann einmal 18 oder 19 oder noch älter sind. Ich
persönlich mache zum Beispiel seit 21 Jahren Inter*-Aktivismus, und als ich
angefangen habe, wurden Leute geboren, denen ich heute als junge
Inter*-Aktivist_innen begegne, weil sie die gleichen Verletzungen erlebt
haben. Das macht einem schon zu schaffen, so als alte_r Herm.
Matthigack: In der Kindheit gibt es einen entscheidenden Unterschied beim
Aufwachsen. Andere Personen haben meist erst mal eine gewisse Zeitspanne,
in der sie in einem nicht von außen in Frage gestellten Körper heranwachsen
können. Bei inter* Kindern und Teenagern ist das nicht so.
Kromminga: Die Medikalisierung, von der Inter* betroffen sind, hat
Auswirkungen auf das ganze Leben. Wenn du dein Leben lang so wahrgenommen
wirst und das erlebst, macht das natürlich etwas mit deinem
Selbstverständnis, mit deinem Selbstbewusstsein. Es ist ganz schwierig für
viele inter* Menschen, sich davon zu befreien und festzustellen, das ist
nicht normal, was mir die letzten 20 Jahre passiert ist, und da stimmt was
nicht mit dem Außen.
Lange kamen inter* Figuren nur in Krankenhausserien vor. Quasi eine
Bestätigung der Idee, dass Intergeschlechtlichkeit eine Krankheit sei.
Matthigack: Genau. Oder es gibt dieses mythologisierende Bild. In jeder
Doku taucht z. B. die hermaphroditische Statue von Gian Lorenzo aus dem
Louvre auf.
Kromminga: Repräsentation ist ein entscheidendes Thema. Es gibt zu wenige
kulturelle Produktionen, wo Inter* selber zu Wort kommen. In der Literatur
tauchen zwar beispielsweise immer mehr inter* Figuren auf, häufig bleiben
diese Figuren aber einfach nur Projektionsfläche von endogeschlechtlichen
Menschen.
3 Nov 2021
## LINKS
[1] https://oiigermany.org/
[2] /Aenderung-des-Personenstandsgesetzes/!5554623
[3] https://oiigermany.org/stellungnahme-nov-2020/
## AUTOREN
Noemi Molitor
## TAGS
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