Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Die Suchende
> Es ist schwer, ein Leben lang für den Frieden zu kämpfen. Deshalb kämpft
> Ursula Renner aus dem Berliner Wedding jetzt für das Leben.
Bild: Ursula Renner in ihrem Zuhause in Berlin-Wedding
Sie gehört zu den Nachkriegsgeborenen, die immer Suchende geblieben sind.
Sie sucht den richtigen Weg.
Draußen: Ursula Renner wohnt an einer Kopfsteinpflasterstraße im Berliner
Bezirk Wedding. Es ist eine raue Gegend. Als sie vor zehn Jahren einzog,
fragten Bekannte entsetzt: „Was, dahin?“ Heute heißt es: „Finger weg vom
Wedding.“ Denn auch hier steigen und steigen die Mieten.
Drinnen: Die Wohnung ist voller Dinge. Nicht nur Bücher und Schallplatten.
Auch Fotos, Lampen, vollgepackte Kartons, Teppiche, gefundene Objekte, die
wie Frauenskulpturen aussehen, Strohhüte, Karaffen, Kakteen. „Jedes Ding
hat eine Geschichte. Deshalb kann ich nichts wegwerfen“, sagt Ursula
Renner. Wo viele Geschichten sind, gibt es viel zu erzählen.
Hannover: „Ich bin ja auch in eine Erzählerfamilie hineingeboren“, sagt
sie, in Hannover vor 68 Jahren. Gut fand sie, dass die 1926 geborene Tante
im Alter immer gesprächiger wurde und dabei das Dritte Reich nicht
ausklammerte. Gerade fällt ihr die Geschichte ein, die die Tante oft
erzählte: Da trafen sie und ihre Eltern, also Renners Großeltern, auf der
Straße die Frau ihres jüdischen Hausarztes und taten so, als wäre sie
fremd. Die Arztfrau sagte: „Frau Renner, Sie auch?“ Daraufhin blieb die
Großmutter stehen und sprach mit ihr. Als sie ihren Mann, der hastig
weitergegangen war, wieder einholte, schimpfte der: „Wie kannst du nur, das
kann mich die Stellung kosten.“
Fragen: Ursula Renner ist eine jener Nachkriegsgeborenen, die ihre Eltern
und Großeltern immer wieder fragten: „Was habt ihr gemacht?“ „Was habt i…
gewusst?“ „Wie konntet ihr es zulassen?“ Die Reaktion sei immer die gleic…
gewesen. „Sie haben sich sofort verteidigt: Ihr könnt euch nicht
vorstellen, wie es damals war.“
Der Mund: Als Kind wurde Ursula Renner von ihrem Vater angeraunzt, wenn sie
mit offenem Mund dastand. „Mach den Mund zu, du siehst aus wie ein Kretin“,
schimpfte er. „Ich war drei oder vier und wusste nicht, was ein Kretin ist.
Aber ich verstand: Er hat Angst. Nur wovor?“ Nachdem der Vater gestorben
war, sagte die Tante: „Jetzt kann ich es dir erzählen: Es war die
Epilepsie.“ Der Vater hatte als Jugendlicher nach einem Sturz eine Zeitlang
epileptische Anfälle. In der Familie hatte man Angst, dass er von den Nazis
aussortiert wird, unwert ist. Soweit war man im Bilde. Bei der Wehrmacht
war der Vater später trotzdem. Das mit der Epilepsie hatte sich
ausgewachsen. Er war bei der Luftwaffe, in einem Einsatzkommando, das in
Slowenien und Kroatien Stellungen für die Flak installierte.
Hände hoch: Renner hat vier Geschwister, sie ist die Älteste. „Als Kind
habe ich viele Abenteuerbücher gelesen“, erzählt sie. Mutig sein, in die
Welt gehen, so die Sehnsucht. Zu Hause aber wurde sie mehr auf Sicherheit
getrimmt; sie sollte Lehrerin werden. „Ich wollte das nicht.“ Und dann war
da noch diese familiäre Angst, die aus den Erfahrungen des Krieges
resultierte. Das müsse ein Grund gewesen sein, warum sie schon in der
Schule Russisch lernte, meint sie. Zum einen, weil Russland „so etwas
Weites ist; das hat mich angezogen“, aber da war eben auch Furcht: Hannover
sei doch nicht weit von der „Zonengrenze“ gewesen und sie dachte: „Wenn d…
hier sind“, sie meint die Russen, „will ich wissen, was sie sagen. Ich will
nicht sterben, weil ich ‚ruki vjerch‘ – Hände hoch – nicht verstehe.“
Fast reingerutscht: Nach dem Abitur studiert Renner Slawistik und
Geschichte. Zehn Jahre lang, „unheimlich lang“. Sie habe damals mit vielen
verkrachten Existenzen zu tun gehabt. Da war so eine Atmosphäre extremer
Verneinung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Es klingt, als hätte es
Berührungspunkte mit Leuten von der RAF gegeben. „Ja“, sagt sie, irgendwie
war das knapp, ich hätte da reinrutschen können.“
Rasterfahndung: Polizeilich erfasst war sie jedenfalls – wegen der Leute
von der Roten Hilfe, die in einer ihrer Arbeitsgruppen an der Uni waren.
„Wenn die argumentierten, habe ich nichts verstanden.“ Zu der Zeit lebte
sie in einer Wohnung, wo sie nicht angemeldet war. Zack landete ein
Rasterfahndungsdossier auf dem Schreibtisch des Regierungsvizepräsidenten
vom Bezirk Braunschweig, der auch der Chef der Polizeibehörde war. Und der
war ihr Vater. „Er war entsetzt, hatte Angst, ich hab mich schleunigst
angemeldet.“
Krisen: Die Zeit im Studium sei chaotisch gewesen. „Ich wusste nur, was ich
nicht will. Nicht heiraten, keine Kinder. Wie meine Mutter wollte ich auf
keinen Fall sein, so depressiv auch.“ Dann kam ihr die Idee, Lektorin zu
werden. Aber kaum war der Abschluss geschafft, „fühlte ich mich wieder
verloren“. Sie kriegte einen Auftrag, ein Buch zu lektorieren, und rutschte
in die nächste Krise: Schwangerschaft. Der Kindsvater wollte es nicht. „Ich
habe abgetrieben mit der mir selbst gestellten Aufgabe: Jetzt nimmst du
dein Leben wirklich in die Hand.“
Die Sinnerfüllung: Ist, wer einmal Suchende ist, immer Suchende? „Es gibt
Etappenziele“, sagt sie. In alle Kanäle habe sie ventiliert, sie brauche
einen Job. „Der sollte entsprechend bezahlt sein und auch eine Bezeichnung
haben.“ Und tatsächlich, sie findet einen als Lektorin in Nürnberg bei
einem [1][Verlag der Bundesanstalt für Arbeit], wird Redakteurin für
Berufskunde. Dort ist sie 13 Jahre, dann sei die „Leere“ immer größer
geworden. „Die Frage nach dem Sinn“, sagt sie, „der Wunsch, Abenteuer zu
erleben, war wieder da.“
Der Balkan: Sie hatte schon in den 70er-Jahren Jugoslawien bereist und war
betroffen ob der Feindseligkeit der verschiedenen Volksgruppen
untereinander. „Es wunderte mich, dass noch kein Krieg war.“ Seitdem gab es
Kontakte, auch Einladungen zu Frauencamps nach Novi Sad. Das war Anfang der
90er-Jahre. Da waren viele Serbinnen, Kroatinnen, Bosnierinnen, auch
geflüchtete Frauen, „da war dieser Haufen durcheinander redender Frauen und
ich verstand gar nichts mehr. Deren Lebensmut, obwohl sie alles verloren
hatten, hat mich umgehauen. Aber was es bedeutet, hab ich erst verstanden,
als ich wieder zurück war in dieser Welt hier, wo es im Supermarkt 27
Sorten Joghurt gibt.“
Balkan Peace Team: Sie erlebt in Jugoslawien maximale Unsicherheit und
fühlt in Deutschland maximale Leere. Da habe sie gedacht: „Das einzige, was
mir bleibt, auf der Eisscholle leben.“ Sie kündigt und geht mit der
Abfindung nach Serbien. Für zwei Jahre verpflichtet sie sich im Balkan
Peace Team. Es ist Mitte der 90er-Jahre kurz nach dem Genozid in
Srebrenica. Sie baut Graswurzelstrukturen auf mit Leuten, die in Serbien
überhaupt noch Interesse haben, mit Kosovoalbaner*innen etwas zu tun
zu haben. Und in Pristina mit Leuten, die mit Serb*innen zusammenarbeiten
wollten.
Bleiben: Aus zwei Jahren werden 15. Sie erlebt die Bombardierung Belgrads
durch die Nato mit, baut später ein Traumatherapie-Zentrum für Veteranen in
Novi Sad auf und noch später ein Friedensprojekt in Kroatien. „Es ging um
die kroatische Seite der Gewalt. Das wollte niemand dort wissen.“ Einer
ihrer Schwerpunkte: Fundraising. Die Weltumstände seien dabei hilfreich
gewesen, 9/11 etwa.
Zurück: Sie ist 58 Jahre; ihre Hüften sind kaputt. 2009 zieht sie nach
Nürnberg, lässt sich operieren; 2010 geht sie nach Berlin und arbeitet bei
einer NGO von t[2][raumatisierten Bundeswehrsoldaten]. „Jede Armee
funktioniert gleich. Die Soldaten sind Nummern und Kanonenfutter.“
Jetzt: Nun ist sie Rentnerin, nah an der Altersarmut und engagiert sich in
der Stadtteilgruppe, die den „Tag des guten Lebens“ im Wedding organisiert.
„Mir gefällt, dass man Leute ins Gespräch bringt. Davor hab ich im Kiez wie
eine Touristin gelebt.“ Beim Tag des guten Lebens geht es um Umwelt,
Nachhaltigkeit und Nachbarschaft. Sie glaubt, die Weltlage ist so, dass uns
das Halt geben wird in Zukunft. Es sei, meint sie, „schon wahnsinnig, wie
sehr wir noch glauben, wir entkämen“ – der Klimakatastrophe, der sozialen
Katastrophe, den ökonomischen Zerwürfnissen.
Was fehlt: Aber sagen Sie, da fehlt doch etwas: die Liebe. „Ich dachte mir,
dass Sie das fragen.“ Und? Ja, es gab große Lieben, sagt sie. Sechs. Meist
Männer. Keine dauerte länger als vier Jahre. „Ich habe schon sehr gelitten,
wenn es auseinander ging.“
17 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.arbeitsagentur.de/kinderbuch
[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/99213/Bundeswehr-hat-Probleme-bei-Be…
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Der Hausbesuch
Balkankrieg
Trauma-Pädagogik
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
Boxen
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Auftakt zum 1. Mai in Berlin: Klassenkampf ohne Klasse​
Da war schon mal mehr los im Wedding: Lediglich 700 Menschen demonstrieren
am Samstag gegen den Kapitalismus. ​
Der Hausbesuch: Boxen, bis die Tränen kullern
Marco Rauch war Kaufhausdetektiv, Animateur, Kellner und Türsteher. Heute
betreibt er eine eigene Boxschule in Hamburg. Und er hat einen Traum.
Der Hausbesuch: Für ihn gibt’s nur den Stahl
Karl Maurer ist Künstler, das Zentrum seines Hauses im Allgäu ist das
Atelier. Mehr als 50 Quadratmeter brauche er nicht zum Leben, sagt er.
Der Hausbesuch: Das Leben ist crazy
Sie wuchs zwischen Picassos auf, interviewte die Pariser High Society.
Heute macht Marion Broodthuis Gravier Schmuck aus Berliner
Graffitischichten.
Hausbesuch bei einer Biegsamen: Stratosphere Baby
Die 85-jährige Elfy Braunwarth ist extrem biegbar. Aber nicht nur ihren
Körper, sondern auch ihr Denken hält sie flexibel.
Der Hausbesuch: Drübergucken ist erwünscht
In einer Notunterkunft lernten die Mohammeds 2016 Morian Samuel kennen.
Heute sind beide Familien gut befreundet – und Kleingartennachbarn.
Der Hausbesuch: Er baut sich seine Welt
Daniel Hahn füllt leere Räume mit Träumen, und das in München. Mit
Frachtcontainern, einem ausrangierten Ausflugsschiff und immer als „Wir“.
Der Hausbesuch: Für immer Cowboy
Auf einer kleinen Ranch in einem brandenburgischen Dorf lebt Peter Lüttich.
In seinem früheren Leben war er Stuntmen, einer der ersten in der DDR.
Der Hausbesuch: Dem Leben etwas zurückgeben
André Ritonnale und Mandy Barthel haben als Paar lange vergeblich versucht,
Kinder zu kriegen. Sie wären fast daran zerbrochen. Dann kam Frieda.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.