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# taz.de -- Der Hausbesuch: Boxen, bis die Tränen kullern
> Marco Rauch war Kaufhausdetektiv, Animateur, Kellner und Türsteher. Heute
> betreibt er eine eigene Boxschule in Hamburg. Und er hat einen Traum.
Bild: Marco Rauch ins seinem Heimstudio in Hamburg-Winterhude​
Wer Marco Rauch zuhört, zweifelt keine Sekunde daran, dass Kinder lernen
müssen zu boxen – die Rabauken und die Schüchternen.
Draußen: Am Mühlenkamp in Hamburg-Winterhude reihen sich zahlreiche Cafés,
Restaurants und Boutiquen aneinander. Vor allem im Sommer ist hier die
Hölle los, da stehen die Leute dicht an dicht auf der Kanalbrücke,
flanieren, am liebsten mit einem Aperol Spritz in der Hand. Die Autos sind
groß und schnell, die Kleidung teuer, viele Menschen sind sehr
braungebrannt und sehr blond. „Es fehlen nur noch Palmen, dann wäre das
St.-Tropez“, sagt Marco Rauch.
Drinnen: Seine Einzimmerwohnung liegt im Souterrain eines herrschaftlichen
Altbaus, in einer Seitenstraße ganz nah an der Gastromeile Winterhudes,
fußläufig zur Außenalster. Über ihm sind Büroräume und ein Café, dort ist
er mit allen per Du. Wenn er mit seiner Hündin Emma reinschaut, ist es wie
Familie. Anders seine Wohnung: „Das ist hier eine richtige
Single-Männerbude“, sagt er. Hier wohnt Marco Rauch, hier hat er auch ein
kleines Boxstudio. Die „Bude“ ist einfach eingerichtet, schwarzweiße
Fliesen, plüschige rote alte Kinosessel, die Wände mit Graffiti verziert.
In einem Regal liegen unzählige Sneaker, von den Decken hängen Boxsäcke. An
einer Wand prangt in großen Lettern auf himmelblauem Grund „Marco Rauch
Boxschule“. Zwei Stufen hinauf führen in ein kleines Separee, wo er
schläft. „Mehr brauche ich nicht, das ist perfekt so.“
Der Mann: Anders als die Schickeria um ihn herum ist Marco Rauch oft in
Sportkleidung unterwegs, Jogginghose, Hoodie, Turnschuhe. Trifft man ihn in
Zivil, so ist sein Stil extravagant und gibt oft den Blick auf seine
zahlreichen Tattoos frei. Die hätten meist keine tiefere Bedeutung, sagt
er, vieles habe sich einfach zufällig ergeben, als er im Tattoostudio war.
„Und jetzt bin ich süchtig.“ Rauch ist ein Feierbiest: Seinen 50.
Geburtstag beging er im vergangenen Jahr gleich dreimal. Weil er gerne
feiere und die Nacht zum Tag mache, sagt er.
Früher: Mit seinen Eltern und seiner Schwester lebte er im Zentrum
Hamburgs, bis die Familie in einen Hamburger Vorort zog. Die Eltern trennen
sich, als er 14 ist, bald hat die Mutter einen neuen Mann. „Meine Mutter
war überfordert mit mir. Ich hab mir ältere Freunde gesucht, Mofas
frisiert, was man damals so gemacht hat.“
Freude am Landleben: Einen Sommer lang hilft er auf einem Bauernhof bei der
Ernte mit, eine Zeit, an die er sich gerne zurückerinnert. „Ich hab da in
meinen Cowboystiefeln vier Wochen Himbeeren gepflückt und das war einfach
schön. Da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass es sich auf dem Dorf besser
lebt als in der Stadt.“
Was werden: Nach einem Schulpraktikum macht er eine Ausbildung zum
Maschinenschlosser im gleichen Betrieb. „Das war totaler Schwachsinn“, sagt
er heute. „Alle wollten damals in einen Kfz-Betrieb, mein Sitznachbar in
der Schule hat das angekreuzt und ich hab’s ihm nachgemacht. Ich gefiel dem
Meister und dann hat er mir die Lehre angeboten.“ Er zuckt mit den
Schultern. „Ich hab das gemacht, ohne viel Leidenschaft.“ Als
Kriegsdienstverweigerer geht er danach in eine Klinik, versorgt Wunden,
baut Gipse. Was er wirklich will, geht für ihn nicht: „Ich hätte Bock auf
was Kreatives gehabt. Schauspieler zum Beispiel. Aber damals auf dem Dorf
warst du schwul, wenn du das gemacht hast.“
Nachtleben: Schon während der Lehre arbeitet er nachts in einer
Cocktailbar. „Das hat mich getriggert.“ Er habe Menschen verzaubern wollen,
sagt er. „Als Schauspieler, Rockstar oder Barbesitzer.“ Barbesitzer ist
das, was schließlich klappt: Schon mit 19 schmeißt er die erste eigene Bar
am Fischmarkt, 20.000 Mark Umsatz habe die am Abend gemacht. Wilde Jahre
seien das gewesen, ein Leben in Saus und Braus. „Nightlife, Trinken,
Tanzen, Frauen. Ich war jung und Barbesitzer, mehr ging nicht.“
Kiezianer: Er baut das legendäre Zwick auf dem Kiez mit auf, ist eine
Größe. Doch der Glamour bekommt Risse: Er ist knapp 30, als alles vorbei
ist. Er lässt sich mit den falschen Leuten ein, verliert Geld, verliert die
Bar, muss noch einmal von vorne anfangen. „Ich bin ein Stehaufmännchen.“
Jobs: Fortan arbeitet er als Kaufhausdetektiv, Animateur, ist Türsteher bei
Cartier und bedient in der Bar Tabac am Jungfernstieg die feinen Leute. Die
wilden Jahre hört man seiner Stimme noch heute an, sie klingt dunkel und
rau. „Und eines Tages spricht mich der Professor von Tisch 11 an, ob ich
nicht seinen Sohn trainieren könnte. Ich hab angefangen zu boxen, als ich
17 war, und das hat man mir angesehen.“ Er hat Ja gesagt. „Mehr als 9 Euro
pro Stunde in der Gastro, das war alles, was ich gedacht habe.“
Alles neu: 2010 legt er los – als Personal Trainer. „Es war, als hätte ich
meine Berufung gefunden.“ Es läuft zunächst mehr schlecht als recht, obwohl
auch Promis zu ihm kommen: HSV-Spieler, Politiker*innen,
Schauspieler*innen. Lange kann er nicht davon leben, bleibt
Hartz-IV-Aufstocker. Bis vor zwei Jahren.
Lehrkraft: Wieder rutscht er irgendwie über Kontakte in etwas Neues hinein:
Ein Kunde fragt, ob er sich vorstellen könne, als Boxtrainer an einem
Gymnasium Arbeitsgemeinschaften anzubieten. Ein Gymnasium, noch dazu in
einem der reichen Elbvororte. Seine Welt ist das nicht, trotzdem sagt er
zu. Am Anfang habe es Berührungsängste gegeben, bei allen. „Ins
Lehrerzimmer habe ich mich erst nicht getraut, irgendwie prallten da Welten
aufeinander.“
Kulturclash: Ehemaliger Kiezianer trifft auf Kinder und Pädagogen. „Herr
Rauch, wenn man Sie sieht, bekommt man Angst“, habe mal ein Junge zu ihm
gesagt. „Aber sobald Sie anfangen zu reden, ist alles gut.“ Erst mal sei er
der Tätowierte gewesen, sagt er. Doch das habe sich schnell geändert. Harte
Schale, weicher Kern.
Fack ju Göhte: Ein bisschen sei das gewesen wie bei Fack ju Göhte, sagt
Rauch. Das war der Film, bei dem Elyas M’Barek sich als Lehrer ausgibt,
eigentlich aber gerade aus dem Knast ausgebrochen ist. „Das sind studierte
Leute, natürlich haben die eine ganz andere Sprache. Und trotzdem gehöre
ich inzwischen dazu, habe dort Freunde gefunden.“ An der Schule ist er
inzwischen fest angestellt, hat schon mal eine Vertretung im
Sportunterricht und die Pausenaufsicht übernommen. Die Arbeit mit den
Kindern begeistert ihn – und die Kinder mögen ihn. „Mit dem Boxen kann ich
so vielen Kindern helfen. Es ist gut für Rabauken, für solche, die laut
sind, aber auch für solche, die nicht so stark sind und schüchtern.“
Letztere lernten durchs Boxen, aus sich herauszukommen. Das Boxen würde sie
selbstbewusster machen: „Das mitansehen zu dürfen, ist ein wahres
Geschenk.“
Faszination Boxen: Spricht er vom Boxen, fängt er an zu strahlen. „Das ist
einfach total geil. Es ist sehr anstrengend und hart, es geht nicht, ohne
über Grenzen zu gehen.“ Jeder Schutzwall werde irgendwann durchbrochen, das
mache frei. „Und vor Stolz kullert dann auch schon mal ’ne Träne.“ Perso…
Training beim Boxen sei etwas sehr Intimes, mit den meisten seiner
ehemaligen Kunden sei er inzwischen befreundet. Was ihn zu einem guten
Trainer mache? Seine Authentizität. „Ich hab auch schon mal 20 Kilo zu viel
gewogen, zu viel gesoffen und geraucht, ich kenne das alles, die ganzen
menschlichen Laster.“
Es läuft: 2022 wird er das erste Mal einen Trainer einstellen können. „Der
hat eine ähnliche Vergangenheit wie ich.“ Ein weiterer Plan für die
Zukunft: Nie stand er selbst für einen Kampf im Ring, das soll sich ändern.
„Dafür trainiere ich jetzt.“
Der Traum: Würde er im Lotto gewinnen, er wüsste ganz genau, was er mit dem
Geld machen würde: „Eine richtig große Boxschule mit einem Ring in der
Mitte, das wär’s. Küche, Kinder, alte Leute, Hunde, alles zusammen. Und
eine Ecke, in der ich an meinen Motorrädern und Oldtimern rumschrauben
kann.“ Er will Leute zusammenbringen, Brücken bauen. Vielleicht wird ein
Teil des Traums wahr? „Gerade bin ich auf der Suche nach neuen Räumen zum
Wohnen und Trainieren, hier auf der Ecke in Winterhude oder Uhlenhorst. Ich
will mich vergrößern, eine alte Werkstatt oder Fabrikfläche wäre toll.“
6 Feb 2022
## AUTOREN
Lea Schulze
## TAGS
Boxen
Hamburg
Trainer
Sport
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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