# taz.de -- Der Hausbesuch: Konstanz forever | |
> Einst zog er wegen seiner Freundin nach Australien. Er hat sie verloren | |
> und sich gefunden. Vor allem hat er herausgefunden, wo er hingehört. | |
Bild: In seiner Wohnung in Konstanz: Barbetreiber und Café-Liebhaber Sven Witte | |
Liebe kann zerstören. Oder den Anstoß geben für ganz neue Leidenschaften. | |
Draußen: Wer am Bodensee ist, kann gefangen werden wie eine Fliege im | |
Spinnennetz. Es kann dort schnell passieren, dass das Handy sich in ein | |
Schweizer Mobilfunknetz einwählt. Und das kann teurer werden als Shopping | |
in den Läden rund um das Schnetztor herum, den Wehrbau des | |
mittelalterlichen Konstanz aus dem 14. Jahrhundert. Unweit davon ist auch | |
das Café „Fritz“ mit Chili-Pflanzen vor der Tür. Wer eintritt, geht auf | |
aromatische Reise nach Australien. Direkt gegenüber dem Café wohnt Sven | |
Witte – der Fritz von Australien. | |
Drinnen: „In meiner Wohnung schlafe ich nur. Mein ganzes Leben spielt sich | |
im Café ab“, sagt Witte, 39 Jahre alt, gelernter Glaser. Auch wenn er zu | |
Hause ist, wirft er oft einen Blick aus dem Fenster seiner Dachwohnung | |
hinüber zu seinem Café. Er hat Kaffeesäcke an die Wand im Flur gehängt und | |
ein Sarong-Pareo-Strandtuch neben sein Bett. In der Küche wachsen | |
Kängurupfoten. Das sind Pflanzen, deren Blütenform der Kängurupfote | |
ähnelt. Witte wacht mit einer Tasse Espresso auf und schläft mit einer | |
Tasse Espresso ein. Auch tagsüber trinkt er Kaffee – so etwa 15 Tassen, | |
manchmal mehr. | |
Fritz: In Australien nennt man die Deutschen „Fritz“, wie in anderen Ecken | |
der Welt auch. Sven Witte war keine Ausnahme. Und er hatte nichts dagegen, | |
als er so genannt wurde. Sein Hund heißt auch Fritz und sein Kaffeegeschäft | |
nun ebenso. Kaffee ist seine große Leidenschaft. Dahinter stecke | |
Liebeskummer, viel Schmerz und ein tiefes Gefühl für Ungerechtigkeit, sagt | |
er. | |
Arabica oder Robusta? Wer mit Witte über Kaffee redet, verliert die | |
Orientierung ob der vielen Details. Vor allem ist es gut, ihm keine | |
falschen Fragen zu stellen, etwa die, ob Arabica oder Robusta besser | |
schmeckt. „Die Kaffeeindustrie verwirrt oft mit blöder Werbung“, sagt er. | |
„Oft liest man auf einer Kaffeepackung 100 Prozent Arabica. Das wäre, wie | |
wenn auf einem Weißwein-Etikett stehen würde: 100 Prozent Weißwein“, sagt | |
er. Doch gerne erklärt er seiner Kundschaft, dass Arabica ein | |
Hochlandkaffee ist und Robusta mehr Koffein enthält, cremiger ist und im | |
Tiefland wächst. „Es ist wie beim Apfel, von dem es mehrere Sorten gibt – | |
süß wie Pink Lady oder schmackhaft wie Boskop, der sich eher zum Backen | |
eignet.“ | |
Die Wahl der Kaffeesorten: Es gebe über 8.000 Geschmackssorten, darüber | |
kann er stundenlang reden. Sein Wissen macht seine Kaffeemischungen | |
besonders. Seine Nase riecht und seine Zunge bestimmt. Will die Kundschaft | |
etwa Kaffee, der nach Citrus schmeckt, dann stellt „Fritz“ ihn vor eine | |
schwierige Wahl: „Nach Lime? Nach Grapefruit? Nach Clementine oder | |
Mandarine? Oder besser nach Orange?“ Am Ende bietet er einen Kaffee an mit | |
dem Geschmack von Lemon und Limonade. Eine gute Wahl. | |
Vereinigung der Schwestern: Nach seinem Zivildienst lernte er seine | |
Ex-Freundin in Konstanz kennen, eine Inderin aus Uganda. „Da man in Afrika | |
schlecht studieren kann, waren sie und ihre zwei Schwestern in der Welt | |
verteilt“, erzählt er. Die älteste wohnte in Australien, die andere in | |
Kanada und die jüngste in Konstanz. Die Schwestern hatten sich seit sieben | |
Jahren nicht mehr gesehen und wollten wieder zusammenleben. Für immer. In | |
Australien. Witte musste eine Entscheidung treffen: Entweder bleibt er | |
alleine in Konstanz oder er zieht mit seiner Freundin, mit der er schon | |
sieben Jahre eine Beziehung hatte, nach Australien. Die Liebe hat gewonnen. | |
Jung und dumm: 2007 ging die Reise nach Melbourne. Er verkaufte sein Auto, | |
löste seine Wohnung auf, verabschiedete sich von seiner Familie und den | |
Freund*innen. „Ich bin nur der Frau gefolgt, die ich liebte“, sagt er. | |
Die Liebe habe ihn blind gemacht. „Ich war jung und dumm.“ | |
Ausgeschlossen: In Melbourne wurde sein Leben auf den Kopf gestellt. „Ich | |
war nicht akzeptiert von den Schwestern. Die Familie mochte mich nicht“, | |
sagt er. Zudem war Sven Witte plötzlich nicht mehr privilegiert „als weißer | |
deutscher Mann“, sagt er. Und was ist aus der Liebe geworden? „Meine | |
Exfreundin hat sich untergeordnet. Und ihre Schwestern hatten das Sagen.“ | |
In Melbourne wohnte die Freundin bei ihren Schwestern und er allein. So | |
regelten es die Schwestern. „Ich war ausgegrenzt, weil ich nicht gut genug | |
für diese Familie war.“ Dabei hatte er sich so gefreut, dass er bald Vater | |
werden würde, denn seine Freundin war schwanger. Doch die Familie brachte, | |
so erzählt er es, seine Freundin dazu, das Kind abzutreiben. „Ich habe | |
Schluss mit ihr gemacht. Sonst hätte mich das ruiniert.“ | |
Die Polen: Er musste nun auf eigenen Beinen stehen. „Australien war böse zu | |
mir. Hier passiert nur Mist“, dachte er sich damals. Er fand Arbeit als | |
Fensterbauer in einer Glaserei, die einem Mann aus Polen gehörte. Die | |
Verständigung war kompliziert. Er lief mit dem deutsch-polnischen | |
Wörterbuch in der Hand von zu Hause zur Arbeit. Über diesen Job bekam er | |
ein Arbeitsvisum und dann eine permanente Aufenthaltserlaubnis. 2008 war | |
die Wirtschaftskrise, er aber hatte eine Arbeit und blieb neun Jahre. Denn | |
nach dem Liebeskummer eroberte der Kontinent sein Herz. „Ich habe | |
Australien geliebt.“ | |
Spießig, aber nicht für immer: Die Deutschen, die die Deutschen satthaben, | |
wandern aus. So denken auch die in Australien lebenden Deutschen. In | |
Australien merkte Sven Witte, dass auch er in Deutschland ein spießiges | |
Leben hatte. Heute freut er sich, dass er sich ändern konnte. „In | |
Australien lebt man entspannter. Wenn die Tür nicht richtig schließt, kann | |
man damit leben, in Deutschland regt man sich heftig darüber auf. Es muss | |
hier alles perfekt funktionieren“, sagt er. Seit fünf Jahren lebt er wieder | |
in Konstanz – „tief entspannt“. „Ich habe die Lebensfreude aus Australi… | |
nach Deutschland mitgenommen“, sagt er. „Doch ich konnte nicht die deutsche | |
Lebensart nach Australien bringen.“ Aber warum wollte er das denn | |
überhaupt? Ist das nicht wieder typisch deutsch? Witte lacht. | |
Der Erfinder: „Jeder Deutsche ist ein kleiner Ingenieur“, sagt er. Während | |
seiner Zeit herrschte in Australien Trockenheit. „Die Australier haben mit | |
dem Wasserschlauch ihre Gärten gegossen“, erzählt er. Geht das nicht auch | |
anders?, fragte er sich und holte Fässer von einem Unternehmen, das | |
Essiggurken herstellte. Darin sammelte er Regenwasser. Er installierte auch | |
alte Colaflaschen auf dem Dach seines Hauses. „Beim großen Sturm saßen | |
normale Menschen zu Hause, und ich sprang raus, um zu sehen, ob die | |
Flaschen sich mit Wasser füllen.“ Für die Australier war das bescheuert, | |
sagt er. | |
Kaffeekultur: Sven Witte hat immer neue Ideen. Der Kaffeetrinker stieg in | |
die Gastronomie in Melbourne ein und begann eine Barista-Ausbildung. | |
Nachhaltigkeit und Transparenz seien ihm wichtig. „Von der Farm zur | |
Rösterei und zum Barista. Diese Kette spricht für Qualität“, sagt er. | |
„Nicht unreife Kerne ernten, oder die Bohnen nicht tot rösten.“ Er | |
studierte die Kaffeewelt und brachte die Kaffeekultur in seine Heimat am | |
Bodensee mit. | |
Das gute Beispiel: „Ich habe mir die Italiener und Türken hier angeschaut, | |
beobachtet, wie sie sich in Deutschland präsentiert haben“, sagt er. „Sie | |
machen das, was sie am besten können – mit Fleiß und Herz. Ich habe sie | |
nachgeahmt.“ | |
Ausbeutung: Sein Kaffee kommt vor allem aus Äthiopien, dem Ursprungsland | |
des Kaffees. Er fliegt selber dorthin und kauft seine Kaffeebohnen. „Kaffee | |
wird immer mit Ausbeutung verbunden sein“, meint er. Deswegen meidet er | |
Kaffeeplantagen. Er kaufe seinen Kaffee bei den einfachen Familien, die in | |
ihren Hausgärten Kaffee ernten oder Wildkaffeebohnen sammeln. „Ich will | |
auch diese Menschen vor Ort unterstützen“, sagt er. Er freue sich, dass | |
wenigstens hinter seinem Kaffee keine Kinderarbeit stecke. „Deutsche | |
trinken viel Kaffee, haben aber keine Kaffeekultur“, stellt er fest. „Ob | |
man tiefgefrorene Pizza isst oder zum Italiener geht, macht einen großen | |
Unterschied.“ So sei es auch beim Kaffeetrinken. Kaffee solle man so | |
bewusst trinken, wie man auch bewusst lieben soll. | |
Neue Liebe: Sven Witte hat wieder eine neue Frau kennengelernt. Ihr zu | |
folgen, komme allerdings nicht infrage. Denn eines sei ihm klar: Sein Leben | |
wird immer in der Kreuzlinger Straße spielen, wo er nur eine Minute | |
braucht, um von seiner Wohnung zu seinem Café zu kommen. | |
15 Feb 2022 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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