# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie hat den Kontakt zur Straße | |
> Gloria Romeike ist 73 und erzählt, warum sie gern in einer „warmen | |
> Gegend“ lebt. In Berlin-Schöneberg, mit Sex, Alkohol, Liebe und | |
> Freundschaft. | |
Bild: Gloria Romeike in ihrer Wohnung | |
Wäre Gloria eine Romanfigur, sie würde für überzeichnet befunden. Aber | |
diese Gloria ist echt. | |
Draußen: „Ich wohn’ in einer warmen Gegend“, sagt Gloria Romeike. Nur ist | |
gerade nichts los rund um den Nollendorfplatz in Berlin. Ein paar Dealer | |
vor dem Metropol, das schon, aber kein Heititei, kein Gecruise, kein | |
Küsschen hier, Küsschen da. Die Homobars sind zu, die stylischen Barber, | |
Lederläden und Tattoostudios ebenso. Nur die Magnus-Apotheke in der | |
Motzstraße hat geöffnet. Benannt nach [1][Magnus Hirschfeld], dem | |
homosexuellen Sexualwissenschaftler. | |
Drinnen: Gloria Romeike will ein offenes Haus. Deshalb ist Corona eine | |
Strafe. „Aber wir haben schon Schlimmeres überstanden in Berlin.“ In ihrem | |
Wohnzimmer ist alles üppig, die Polstermöbel, die offene Küche, die Sauna | |
im Bad. Dazu der Schnickschnack, all die Dinge mit Geschichte. Ins Auge | |
springt das Porträt des tuntig ausstaffierten Pudels über der Couch. Sie | |
hat das Bild von Else, einer Nachbarin, für ihren Flohmarkt bekommen. „So | |
was verkauf ich doch nicht, das häng ich auf.“ | |
Die Gloria: Sie ist laut, sie ist dick, sie ist rot gefärbt und sie hat | |
immer gemacht, was sie wollte. Sie tut es noch, aber inzwischen, 73-jährig, | |
kann sie nur mit dem Rollator – „ein Segen, der“ – raus auf die Straße. | |
Seit zwanzig Jahren wohnt sie im Nollendorfkiez in Berlin-Schöneberg; lange | |
nickten die Leute in ihrem Haus sich nur freundlich zu. „Eines Tages habe | |
ich die, die mir am sympathischsten waren, zum Frühstück eingeladen. Bis | |
Mitternacht ging das.“ Fast alle schwul. So hat sie sich Freundschaften in | |
ihr Zimmer geholt. Die Wohnung gehört ihr. Sie liegt im Erdgeschoss, „ich | |
brauche Kontakt zur Straße“. | |
Die Laufstraßen: Dreißig Jahre bevor sie ihre Wohnung kaufte, erwarb sie | |
ihren Friseursalon im Kiez, „Salon Gloria“. 1972 war es. „Damals war der | |
Kiez mehr Nuttenviertel als Schwulenviertel.“ Berührungsängste hat sie | |
keine. „Ich hab ja als 15-Jährige auch meine Jungfräulichkeit für 50 D-Mark | |
verkauft.“ Wie jetzt? „Das war so“: Um etwas zu verdienen, hat sie | |
Illustrierte an Türen verkauft, das Geld dann aber mit Mitschülerinnen | |
verjubelt. Als sie es dem Chef abliefern sollte, war sie pleite. „Ich | |
brauch Knete“, sagt sie zu einer Freundin. „Du, ich kenn einen, der zahlt | |
50 Mark für die Entjungferung“, meint die. „Das hab ich dann gemacht.“ U… | |
wie war’s? „’ne schöne Erfahrung. Er war einfühlsam.“ | |
Der Spitzname: Den Namen Gloria hat ihr Vater für sie ausgesucht, als sie | |
1947 zur Welt kam. Ein Antiprogramm zum verlorenen Krieg, zu Flucht, zu | |
Schuld. „Aber Gloria – Ruhm und Ehre – war kein Name für nach dem Krieg.… | |
Irgendwie wurde „Mäusi“ daraus. Alle in der Familie nennen sie so. Ihre | |
Jungs aber sagen Gloria zu ihr oder manchmal auch „alte Frau“. | |
Die Familie: Ihre Eltern kommen aus „Landsberg an der Warthe, heute Gorzów“ | |
und landeten nach der Flucht bei Perleberg in der Prignitz. Dort arbeitete | |
der Vater als Lehrer, obwohl er nie studiert hat, „die Zeiten waren so“. | |
Die Mutter war Schneiderin. „Wie es so ist, sagte der Vater einmal nach | |
Feierabend beim Bier ein paar hässliche Worte gegen die SED.“ Ein Freund | |
riet ihm daraufhin, abzuhauen, bevor er abgeholt würde. So landeten sie in | |
Westberlin. Aber der Vater ist keiner, auf den Romeike stolz ist. „Er war | |
Alkoholiker und Zocker. Der hat die Mutter geschlagen. Mein Bruder hat auch | |
viel Dresche gekriegt.“ Die Mutter habe immer gesagt, erst durch den Krieg | |
sei der so geworden. | |
Im DDR-Knast: In Westberlin arbeitet der Vater als Enttrümmerer. Einmal, in | |
den fünfziger Jahren noch, besucht er seine Eltern, die es nach dem Krieg | |
nach Krefeld verschlagen hat. Er nimmt den Bus, erkundigt sich vorher, ob | |
er auf einer DDR-Fahndungsliste steht. Nee, alles sauber. Auf der Rückfahrt | |
wird er an der Grenze doch aus dem Bus geholt und zu dreieinhalb Jahren | |
Knast verurteilt. Wegen angeblicher Spionage. Er hatte einen Bekannten mit | |
einem Amerikaner in Kontakt gebracht, für den der Bekannte Informationen | |
über die Kameratechnik aus Jena besorgte. Als der verhaftet wird, zieht er | |
den Vater mit rein. Im Knast bekommt der Vater Krebs. Kurz nach der | |
Entlassung stirbt er. Gloria ist da ein Teenager. | |
Abhauen: Nach dem Tod des Vaters will die Mutter nach Krefeld ziehen und | |
schickt die Tochter vor. Die legt sich mit der Oma an, „es gab Streit, weil | |
ich kein Unterhemd anziehen wollte“. Da haut sie ab, lernt einen Jungen, | |
der auf der Straße lebt, kennen und zieht mit ihm rum, bis sie von der | |
Bahnhofspolizei aufgegriffen wird. „Gut, dann bleiben wir halt in Berlin“, | |
sagt die Mutter. „Das war mein Glück.“ Als jetzt im nebenbei dudelnden | |
Radio „Nights in White Satin“ läuft, hält sie inne: „Ach, schönes Lied… | |
ist meine Jugend.“ | |
Ein paar Lehren: Gloria ist gut in der Schule, aber ihre Aufmerksamkeit | |
gehört anderem. Nach Abbruch der 10. Klasse macht sie eine Lehre als | |
Friseurin, wird schwanger und jobbt in der Gondel in der | |
Apostel-Paulus-Straße, um das Geld für die Abtreibung zu verdienen. Nach | |
der Lehre arbeitet sie abends weiter in der Gondel. „Ich habe jeden Abend | |
Alkohol getrunken.“ Irgendwann habe sie sich die anderen Serviererinnen | |
angeschaut und etwas kapiert: nämlich dass man, wenn man so lebt, mit | |
Anfang 40 fertig ist. „Wie die aussahen, so verbraucht, so versoffen.“ Da | |
sucht sie sich wieder eine Friseurstelle, macht den Meister, eröffnet einen | |
Salon. „Ich wollte mir was leisten, Trinken, Urlaub, Kreuzfahrten, | |
Klamotten, ’ne Wohnung.“ In der Reihenfolge zählt sie es auf. 20.000 D-Mark | |
kostet die Salonübernahme; ihre Mutter pumpt ihr die Anzahlung. | |
Männer: Sie hatte auch mal mit Frauen Sex. „Nicht mein Revier. Trotzdem, | |
ich finde, dass man alles ausprobiert haben muss.“ Drei Lieben hat sie, den | |
Ex-Verlobten, dann Wulfi und Didi. Mit den zwei Letztgenannten war sie | |
verheiratet. Den Ex-Verlobten und Wulfi hat sie abserviert, als diese | |
„fremdvögelten“. Der Dritte, Didi, „ein Riesenkerl“, hat Klimakanäle | |
eingebaut. „Dem hab ich die Finanzen erst mal in Ordnung gebracht.“ Als er | |
wegen Unterhaltsschulden verhaftet wird, erfährt sie, dass er nicht nur | |
einen Sohn, sondern fünf Kinder hat. Romeike und er sind mehr als zehn | |
Jahre zusammen, bis zu seinem Tod; sie begleitet ihn beim Sterben. „Das ist | |
ein gutes Gefühl, zu wissen, dass jemand gut hinüberkommt.“ 2001, das | |
„Scheißjahr“, als Didi stirbt, begleitet sie auch ihre Mutter auf diesem | |
Weg. | |
Die Kneipengängerin: „Ich will Menschen um mich. Ich will feiern.“ Als sie | |
noch besser zu Fuß war, machte sie ihre Runden im Kiez von einer Kneipe zur | |
anderen. Überall konnte sie anschreiben. „Ich hab mit vielen gesoffen, auch | |
Zuhältern.“ Hauptsache, sie liest in den Augen ihres Gegenübers, dass er | |
eine ehrliche Haut ist. Romeike organisiert Preisskat und Bingo, sie lädt | |
zu Festen ein, und freitags ist Frauenabend mit Canasta. „Ich kann nicht | |
alleine trinken.“ | |
Programm: Heute holt sie sich die Leute in die Wohnung. Montags kommt eine, | |
die ihr beim Putzen hilft, dienstags kocht sie für die Jungs, mittwochs hat | |
sie Lymphdrainage, donnerstags gibt’s Sauna und Massage, freitags wieder | |
Lymphdrainage und samstags Sauna, Massage und Kartenspielen. Einen neuen | |
Mann nach Didi will sie nicht. „War mir nicht danach, mich nach einem | |
anderen zu richten.“ | |
Die neue Rolle: „Schwule Jungs lieben ältere Damen. Die Mutti. Eine, die | |
die Jungs liebt, für das, was und wie sie sind.“ Romeike mag diese Rolle. | |
Nur dass das Highlight des Jahres zuletzt wegen Corona ausfallen musste, | |
bedauert sie: das schwul-lesbische Straßenfest, das im Sommer vor ihrem | |
Fenster tobt. Findet es statt, macht sie in der Hofeinfahrt mit ihren | |
Jungs, alle in Frauenklamotten, einen Flohmarkt, verkauft Zeug, alte | |
Dildos, Reizwäsche, Erotikkassetten, CD, Nippes, Brüste als | |
Briefbeschwerer, Penisse als Schlüsselanhänger, alles, was das gereizte | |
Herz begehrt. „Ist anstrengend von morgens bis Mitternacht, ist aber ein | |
Fest.“ Da ist dann auch immer wer, bei dem sie eine Zigarette schnorren | |
kann – trotz Asthma. | |
6 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://mh-stiftung.de/biografien/magnus-hirschfeld/ | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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