| # taz.de -- Der Hausbesuch: Er will Leute treffen | |
| > Begegnungen sind für Boubker Moussalli eine Inspiration. Menschen in | |
| > Hannover kommt das zugute. Er lehrt sie tanzen. | |
| Bild: Boubker Moussalli in seinem Studio | |
| Boubker Moussalli wollte eigentlich nur ein Jahr in Hannover bleiben. Zehn | |
| Jahre später ist er immer noch da. | |
| Draußen: Boubker Moussalli wohnt in einer ruhigen Wohngegend. Die für | |
| Hannover so typischen Mietshäuser mit roten Klinkerfassaden prägen das | |
| Straßenbild. Der quirlige Szenestadtteil Linden, der fast nebenan liegt, | |
| wirkt weit weg. | |
| Drinnen: Der 39-Jährige ist zufrieden in seiner Zweizimmerwohnung; er mag | |
| die Ruhe. Nur ab und zu hört er die S-Bahn vorbeirauschen. Vom Balkon kann | |
| er ins Grüne schauen. „Wenn ich frühstücke, beobachte ich die | |
| Eichhörnchen.“ In der Küche erinnert ein Tee-Set an seine Heimat Marokko. | |
| Auf dem Kühlschrank kleben Fotos seiner Familie in Casablanca. | |
| Ordnung: Die Wohnung wirkt leer, weder gibt es Schränke noch hängen Bilder | |
| an den Wänden. „Meine Augen brauchen Platz, leere Wände sind für mich | |
| Ordnung im Kopf“, sagt er. | |
| Tanz: Moussalli arbeitet bei der Musikschule Hannover als Tanzlehrer, | |
| unterrichtet Hip Hop, Impro und Modern Dance. Beim Tanzen finde man seine | |
| Kreativität, vergesse Probleme. Tanzen, das bedeute für ihn rauszukommen | |
| aus Monotonie und Stress, reinzukommen in innere und äußere Welten. | |
| Rausgekommen ist er damit übrigens tatsächlich, denn das Tanzen hat ihn | |
| nach Hannover gebracht. 2009 war er zum ersten Mal hier. Mit einem | |
| Austauschprogramm der Universität von Casablanca führt er mit anderen eine | |
| Performance aus Tanz, Zirkus und Theater auf. | |
| Überraschung: Zurück in Marokko erfährt er, dass er ausgewählt wurde, an | |
| einem kulturellen Austauschprogramm teilzunehmen. „Ich war überrascht, | |
| wusste erst gar nicht, was ich davon halten soll.“ Er arbeitet damals in | |
| einer Drogenberatungsstelle, ist zufrieden mit seinem Job, seinem Leben. | |
| Doch Hannover betrachtet er als Chance, frei arbeiten zu können, er gibt | |
| Tanzunterricht, lebt mit Kollegen in WGs. In Casablanca hat er Musik, | |
| Theater und Tanz studiert, doch weil es schwer ist, damit Geld zu | |
| verdienen, hat er einen „Brot-Job“ gelernt: IT-Programmierer und | |
| Grafikdesigner. Das kommt ihm bald auch in Deutschland zugute. An das | |
| Austauschjahr reiht sich Projekt an Projekt. | |
| Nachbarschaft: „Ich lebe nicht gerne an Orten, wo ich die Menschen nicht | |
| kenne“, sagt er. Seine Nachbarn offenbar schon, doch er ändert das. „Ich | |
| habe einen Bann gebrochen, bei Leuten geklingelt, im Treppenhaus mit ihnen | |
| gequatscht. Jetzt schauen wir hier nacheinander.“ Erst mal guckten die | |
| Leute immer ein bisschen komisch, „ich weiß, dass das an meiner Hautfarbe | |
| liegt“. Rassismus sei das nicht. „Es ist einfach immer dieser erste Blick, | |
| dafür habe ich Verständnis. Diese große Frage: Woher kommt er wohl?“ Wenn | |
| Menschen ihn nicht grüßen, sagt er trotzdem „Hallo“. | |
| Casablanca: Er ist mit drei Geschwistern in einem großen Haus aufgewachsen, | |
| hat zwei weitere Halbgeschwister. Zu den Nachbarn trennen die Familie nur | |
| Jalousien, Türen gibt es nicht. „Wir waren wie eine große Familie. Wenn | |
| meine Mutter nicht da war, ging ich zu meiner zweiten oder meiner dritten | |
| Mutter.“ Er vermisst seine Familie, mehrfach in der Woche telefoniert er | |
| mit den Verwandten in Casablanca. „Die Stadt ist verrückt, sie schläft | |
| nie“, sagt er. „In Casablanca muss man kämpfen, trotzdem lachen die | |
| Menschen, machen Spaß, immer.“ Normalerweise fährt er einmal im Jahr nach | |
| Marokko zurück; 2020 ging das nicht, wegen Corona. Er erinnert sich an eine | |
| einschneidende Reise nach Hause 2014. „Plötzlich waren die meisten der | |
| alten Freunde nicht mehr da, das war eine ziemliche Enttäuschung. Da habe | |
| ich gemerkt, jetzt gibt es eine neue Generation hier.“ | |
| Bleiben: Immer wieder wird er gefragt, ob er bleiben möchte. Er versteht | |
| die Frage nicht. „Jetzt bin ich hier. Aber ich bin ein Rucksackmensch, mal | |
| sehen, was kommt.“ Auf die Frage, wie er Deutschland finde, antwortet er | |
| gern mit „normal“. Darauf reagieren Leute enttäuscht. Dabei meint er es | |
| positiv: Er will sagen, dass er hier alles fand, was er auch zu Hause | |
| hatte: Freunde, Arbeit, Spaß. Und so anders findet er Deutschland gar | |
| nicht. | |
| Hannover: Casablanca hat fast so viele Einwohner und Einwohnerinnen wie | |
| Berlin; Hannover empfand er zuerst als klein, aber hier gebe es alles, was | |
| er braucht: das Maschseefest, die Fête de la Musique, das Theaterfestival. | |
| Hier lernte er auch seine Frau kennen, nach acht Jahren trennten sie sich | |
| in Freundschaft. Viele seiner Freunde sind Künstler. „Warum geht ihr nicht | |
| nach Berlin?“, fragte er sie früher. „In Berlin ist man nur einer von | |
| vielen“, antworteten sie. | |
| Integration: Es ärgert ihn, wenn Leute sagen, dass Ausländer sich | |
| integrieren müssen. Integration sei doch keine Einbahnstraße. „Ich bin hier | |
| in einem Land mit einer anderen Struktur, einer anderen Kultur. Aber | |
| deswegen muss ich nicht alles lernen. Ich bin kein Papagei. Das, was besser | |
| ist, nehme ich auf, den Rest nicht.“ Manchmal hat er das Gefühl, | |
| unterschätzt zu werden. In Diskussionen muss er sich immer wieder | |
| behaupten. „‚Ich habe das auch studiert‘, sage ich dann, nur in einer | |
| anderen Sprache. Ich kenne diese Schriftsteller auch.“ Das ärgert ihn. | |
| Was er sieht: Seit 2015 arbeitet er als Dolmetscher für Arabisch und | |
| Französisch und hat mit angesehen, wie Menschen, die sich doch integrieren | |
| sollten, in Ghettos am Rande der Stadt abgeschoben wurden. „Wie sollen | |
| Menschen Deutsche treffen und die Sprache lernen, wenn niemand sagt: Kommt | |
| rein!“ Und jetzt noch die Pandemie. „Wie finden die Menschen Anschluss und | |
| bekommen Lust, die Sprache zu lernen? Doch durch Musik, Kunst, Tanz.“ Dass | |
| das alles wegen Corona brachliegt, macht ihm Sorgen. Beim Sprechen | |
| gestikuliert er lebhaft, das Thema berührt ihn. | |
| Rastlosigkeit: Seine Tanzkurse fallen aus, seit Monaten. Vor allem die | |
| Kinder fehlten ihm, er zeigt Geschenke seiner jungen Schüler. Die Kinder | |
| machten ihn glücklich, sagt er. „Ich weiß, dass sie viel mit Tiktok machen | |
| und Youtube. Ich lasse mir das von ihnen zeigen, bin neugierig, darauf | |
| reagieren die Kinder. Ich habe auch ein Kind in meinem Gehirn, sage ich | |
| dann.“ Um in Kontakt zu bleiben, macht er jetzt Video-Tutorials für sie. | |
| Außerdem dreht er mit dem Kulturbüro Linden-Süd einen Dokumentarfilm | |
| darüber, was die Menschen im Kiez dort dieser Tage bewegt. „Manche sagen, | |
| sie hätten erst durch Corona gemerkt, was ihnen im Leben gefehlt hat, ihre | |
| Familie, ihre Hobbys. ‚Ich war wie eine Maschine‘, hat ein Mann gesagt. | |
| Andere berichten, wie sehr sie die Solidarität in der Nachbarschaft durch | |
| diese schwere Zeit trägt.“ | |
| Ein Auskommen haben: Auch er hat finanzielle Einbußen, doch Unterstützung | |
| zu beantragen komme für ihn nicht infrage. „Ich habe doch Glück, ich kann | |
| meine Miete und mein Essen bezahlen, habe jetzt Zeit, um nach neuen Ideen | |
| zu suchen, mir Choreografien auszudenken.“ Mit einem befreundeten | |
| Saxofonisten hat er ein kleines Impro-Musik-Projekt, das läuft jetzt eben | |
| über Video. | |
| Kunst: Er sitzt viel im Arbeitszimmer, produziert Musik. Am Boden lehnen | |
| Leinwände mit Zeichnungen von ihm, er hat sie mit Naturfarben gemalt, mit | |
| Kurkuma, Kaffee, Henna. Kunst, das sei seine Welt, da ist er bei sich. Und | |
| bei den anderen ist er, wenn er reist, egal wohin. „Ich habe kein Ziel, ich | |
| will einfach nur andere Leute treffen.“ Denn Urlaub brauche er nicht, | |
| sondern Inspirationen. | |
| 14 Feb 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Schulze | |
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