Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Einige Entscheidungen, viele Zufälle
> Jutta Schwerin ist in Jerusalem geboren, gründete in Ulm einen
> Kinderladen und saß für die Grünen im Bundestag. Am 25. Februar wird sie
> 80 Jahre alt.
Bild: Jutta Schwerin im Wohnzimmer am Schreibtisch ihres Vaters, dem Bauhausarc…
Wir wissen Dinge aus der Zukunft; wir wissen, dass wir sterben werden.
Jutta Schwerin weiß noch mehr: Der Schreibtisch ihres Vaters, an dem sie
gern sitzt und in die Wolken über Berlin schaut, wird nach ihrem Tod ins
Bauhaus-Archiv gebracht. Sie findet das tröstlich.
Draußen: Ein in den 60er Jahren gebautes Haus direkt am Marheinekeplatz. In
pandemiefreien Zeiten ist hier viel los, und der Lärm von unten würde Jutta
Schwerin in ihrem Permanent-Lockdown, in dem sie auch steckt, wenn keine
Pandemie ist, als Geräuschkulisse begleiten.
Drinnen: Von der Küche geht es über eine steile Wendeltreppe in das darüber
liegende Zimmer im ausgebauten Dach. Wie eine Kobra windet sich der
Treppenlift um die Mittelstange, die Schwerin langsam von unten nach oben
transportiert. Oben ist die Einrichtung dezent. Die [1][Bauhaus]-Möbel
ihres Vaters geben klare Linien vor. Jutta Schwerin hat sie von Jerusalem
nach Berlin bringen lassen.
Die Krankheit: Schwerin hat Parkinson, Schüttellähmung, Nerven sind
zerstört. Deshalb der Treppenlift, deshalb kommt sie nur aus der Wohnung,
wenn jemand sie begleitet. Kürzlich ist sie gestürzt, seitdem habe die
Trittunsicherheit zugenommen. „Ich weiß nicht, ob organisch oder aus
Angst.“ Es ist, als sei sie von den Erschütterungen ihrer Biografie
gezeichnet.
Einspruch: „Nein“, widerspricht Schwerin, keine Erschütterungen. Für ihre
Eltern, Kommunisten, die nicht nur vor den Nazis flohen, sondern auch das
Bauhaus deswegen verlassen mussten, die in Israel landeten, wo der Vater
Heinz, Architekt und Jude, früh starb, und die Mutter Ricarda, Fotografin
und nichtjüdische Atheistin, lange nicht bleiben wollte, träfe das mit den
Erschütterungen eher zu. „Meine Eltern waren durch Zufall in Israel
gelandet, Zionisten waren sie nicht.“ Sie, Jutta, ist 1941 in
[2][Jerusalem] geboren. Aus ihrer engsten Verwandtschaft sei im
[3][Holocaust] niemand gestorben. Wobei natürlich vielen Menschen um sie
herum die Verfolgung in die Haut gebrannt war. Trotzdem: „Ich hatte eine
schöne Kindheit. Nach dem Tod des Vaters wurde es schwieriger“, sagt sie.
Die Eltern: Inspiriert vom Bauhaus bauten die Eltern eine
Holzspielzeugmanufaktur in Jerusalem auf. Aber als die Tochter fast sieben
Jahre alt war, starb der Vater. Wie genau? „Darüber will ich nicht reden.
Lesen Sie es in meinem Buch nach“, sagt sie. Sie meint ihre Biografie
„Ricardas Tochter“. Sie war dabei, als der Vater verunglückte. Um über die
Runden zu kommen, eröffnete die Mutter danach ein privates Säuglingsheim
für verwaiste Babys. Zu den eigenen zwei Kindern, Jutta und dem vier Jahre
jüngeren Bruder, dem Historiker [4][Tom Segev], kamen zehn weitere Kinder
ins Haus. „Mit nur einer Helferin hat meine Mutter das gestemmt.“ Erst
später, als die Mutter einen neuen Partner hatte, fand sie zurück zur
Fotografie. Ihr Porträt von Hannah Arendt ist weit bekannt.
Ricardas Tochter: Die Mutter sei streng gewesen. Bildhübsch auch.
Anpackend. Praktisch. So mit dieser Haltung: Probleme seien da, um sie zu
lösen. Das habe sie der Tochter mitgegeben. Als diese etwa in der Schule
statt Handarbeit wie die Mädchen lieber Werken wie die Jungen machen
wollte, riet die Mutter, nicht zu meckern, sondern ihr Anliegen an die
Schule zu schreiben. Es klappte. Und als sie nicht zum in Israel für alle
Juden und Jüdinnen obligatorischen Militärdienst wollte, weil sie
Pazifistin war, riet die Mutter, eine Eingabe bei Ben-Gurion, dem
Staatsgründer und damaligen Ministerpräsidenten Israels, zu machen. Jutta
Schwerin tat es, schrieb, sie sei nach den religiösen Vorgaben gar keine
Jüdin, da jüdisch nur sein könne, wer eine jüdische Mutter hat, folglich
der Militärdienst für sie nicht zwingend sei. Auch das klappte.
Zufall: Dennoch, es dürfe kein falsches Bild entstehen, „ich plante mein
Leben nicht haargenau“. Schwerin habe einige Entscheidungen getroffen, der
Rest habe sich ergeben. Entschieden hat sie, dass sie nach der Schule in
die Schweiz geht und in einem jüdischen Kinderheim arbeitet. „Die wollten,
dass ich den Kindern Hebräisch beibringe.“ Auch dass sie dann in Stuttgart
Innenarchitektur studiert, hat sie entschieden. Auf ihr Konto geht noch,
dass sie an den Ostermärschen teilnimmt. Da lernt sie Uli Oesterle kennen –
das war Schicksal. „Oder Zufall.“
Mehr Zufälle: Als sie Kinder bekommen, zieht die Familie nach Ulm. Ihre
Schwiegermutter will mit der Betreuung helfen. Das war praktisch. In Ulm
beginnt sie, Probleme zu lösen, die sich auftun – und es ist wie Ricardas
Echo. Noch heute gibt es den Kinderladen, den sie 1972 mit anderen
gründete. Bald sitzt sie als SPD-Mitglied in der Ulmer
Stadtverordnetenversammlung, streitet für mehr Kindergärten und sozialen
Wohnungsbau, streitet gegen unsinnige Bauvorhaben. „Das Wiesenwegle hab ich
mit anderen zusammen gerettet“, eine vierspurige Straße sollte da hin.
Die 70er und 80er Jahre: In Israel sei sie in Kontakt gekommen mit jungen
Deutschen. „Wir dachten, alle sind jetzt in Deutschland so: weltoffen,
antinazistisch.“ Dann war es doch anders, Deutschland war konservativ, und
der Antisemitismus lungerte in den Ecken. Schwerin hat das zu spüren
gekriegt, umso mehr beteiligt sie sich an allen Aufbruchsbewegungen von
damals: Friedensbewegung, Anti-Atom-Bewegung, Frauenbewegung. Als die SPD
dem [5][Nato-Doppelbeschluss] zustimmte und US-Atomwaffen in Deutschland
stationiert werden, wechselt sie zu den Grünen. Über die Landesliste kommt
sie 1987 in den Bundestag. Dort ist sie für Wohnungspolitik zuständig.
Hängen bleibt aber eher, dass sie die erste offen lesbische Abgeordnete
ist.
Die Liebe: Die Kinder waren noch klein, als sie sich in eine Frau
verliebte. Die Gefährtin zog bei ihr ein und die Kinder mit groß. Acht
Jahre waren sie zusammen, als die Entscheidung anstand, in den Bundestag zu
gehen. „Geh nach Bonn, ich bleibe bei den Kindern“, die waren da 14 und 17,
habe die Freundin gesagt. „Aber genau, als es so weit war, hat sich in
ihrem Leben was verändert.“ So beschreibt Schwerin, dass sie verlassen
wurde. „Das hat mich natürlich nicht gestärkt.“ Sie zog dann in ein Haus,
in dem der Vater der Kinder mit neuer Partnerin lebte; wenigstens die
Elternaufgabe war geklärt. „Das war natürlich Glück.“ Das noch größere
Glück: Anfang der 90er Jahre trifft sie eine neue Frau; die Liebe dauert
an.
Nach der Wende: Bei der Wahl nach der Wiedervereinigung 1990 scheiterten
die Grünen an der 5-Prozent-Hürde. Jutta Schwerin arbeitete anschließend
vier Jahre im Bundestagsbüro von Christina Schenk, die als Vertreterin des
Unabhängigen Frauenverbandes über Bündnis 90, dem Zusammenschluss der
DDR-Oppositionsbewegungen, in den Bundestag kam. Schenk hat 2002 sein
Coming-out als Transmann.
Zurück in den Beruf: Mit ihrer neuen Freundin, die in der deutschen
Vertretung der UNO arbeitet, geht Schwerin 1997 für zwei Jahre nach New
York, und als sie zurückkommt, brennt die Frage: „Was tun? Du bist bald
60.“ Lange hatte sie nicht als Architektin gearbeitet. Trotzdem kauft sie
einen Dachgeschossrohling in Berlin, baut ihn aus, verkauft ihn, kauft sich
wieder einen Rohling. „Das war ein irres Risiko.“ Sie macht es, bis sie
nicht mehr auf Gerüste klettern kann.
Kleine Dinge: Jetzt ist Pandemie, und ihr Körper zittert. „Meine Mutter
sagte immer: Andere haben gar nichts“; soll heißen: Anderen geht’s
schlechter. Die Weltlage sieht sie kritisch. Sie fürchtet, dass sich alles
in Richtung autoritärer Staat entwickelt. Gern würde sie dagegensteuern.
„Nur, ich kann an meinem Zustand nichts ändern, wie kann ich da noch die
Welt ändern?“
Trotz allem: Worüber aber freut sie sich? „Wenn ich aus einer Narkose
aufwache und meine Liebste sehe, das ist Glück“, sagt sie. „Und wenn ich
ein schönes Buch lese.“ Gerade ist es „Annette, ein Heldinnenepos“,
geschrieben von Anne Weber in Versform. „So kann man Frauen auch besingen,
die für eine bessere Gesellschaft kämpften, Fehler machten, mitunter etwas
bewirkten, oft gescheitert sind“, sagt sie.
20 Feb 2021
## LINKS
[1] /Bauhaus/!t5021156
[2] /Jerusalem/!t5008382
[3] /Holocaust/!t5007706
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Tom_Segev
[5] https://bewegung.taz.de/termine/der-nato-doppelbeschluss-und-die-friedensbe…
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Der Hausbesuch
Israel
Jerusalem
Schwerpunkt Flucht
Lockdown
Architektur
lesbisch
Flucht
Bauhaus
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Hannover
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Vom Klötzchenkurs zum Eigenheim
Die Zwillinge Sarah und Wanda Seegers sind Tischlerinnen. Für ihren Job
braucht man Liebe zum Holz und Freude am Pfuschen. Zu Besuch im Wagendorf.
Der Hausbesuch: Das Wort „Glück“
Paula Yacomuzzi ist von Buenos Aires über Barcelona nach Berlin gezogen.
Hier gibt sie ein Magazin heraus für die spanischsprachige Community.
Der Hausbesuch: Zum Glück braucht sie wenig Schlaf
Annika Braun hat das Undine-Syndrom. Die angehende Journalistin hört auf zu
atmen, sobald sie einschläft. Seit ihrer Jugend kämpft sie für Normalität.
Der Hausbesuch: Er will Leute treffen
Begegnungen sind für Boubker Moussalli eine Inspiration. Menschen in
Hannover kommt das zugute. Er lehrt sie tanzen.
Der Hausbesuch: Sie hat den Kontakt zur Straße
Gloria Romeike ist 73 und erzählt, warum sie gern in einer „warmen Gegend“
lebt. In Berlin-Schöneberg, mit Sex, Alkohol, Liebe und Freundschaft.
Der Hausbesuch: Sie war ein Draußenkind
27 Jahre war Monika Ziebeil Telefonistin im Virchow-Krankenhaus in Berlin.
Als sie ein betrunkener Kollege schlug, hat sie gekündigt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.