# taz.de -- Der Hausbesuch: Zum Glück braucht sie wenig Schlaf | |
> Annika Braun hat das Undine-Syndrom. Die angehende Journalistin hört auf | |
> zu atmen, sobald sie einschläft. Seit ihrer Jugend kämpft sie für | |
> Normalität. | |
Bild: Gegen die Müdigkeit hilft am besten laute Musik | |
Sie ist nachts auf eine Maschine angewiesen, die sie am Atmen hält – und | |
auf einen Menschen, der diese Maschine überwacht. Ihre Eigenständigkeit hat | |
sie sich erkämpft. | |
Draußen: Mainz. Annika Braun hat sich „schockverliebt“. Vor einem halben | |
Jahr zog sie für Hospitanzen bei ZDF und SWR von ihrem Studienort in | |
Sachsen nach Rheinland-Pfalz. Schnell war klar, dass sie bleibt. Mainz ist | |
für sie „einfach die perfekte Stadt“, die sowohl Dorf als auch Großstadt | |
kann, schön mittig in Deutschland liegt und umgeben ist von vielen | |
potenziellen Arbeitgebern. Aktuell schreibt sie ihre Bachelorarbeit, es | |
geht um lösungsorientierten Journalismus bei den Öffentlich-Rechtlichen. | |
Drinnen: Über ihrem Schreibtisch hängt ein selbstgemalter Zeitstrahl, auf | |
dem letzten Blatt mit Edding „You rocked it!“. Noch ist sie nicht am Ziel, | |
aber bald sollte es soweit sein. Annika läuft mit dem Handy in den Flur, | |
der „Besuch“ findet über Zoom statt. Gleich am Eingang steht ein weißer | |
Klapptisch, darauf Desinfektionsmittelspender und FFP2-Masken. Annika | |
Brauns Wohnung hat ein eigenes Hygienekonzept, denn jeden Abend um 22 Uhr | |
klingelt es an ihrer Tür. | |
Schlafen: Die Pflegekraft bleibt bis 8 Uhr morgens und checkt in der Nacht | |
regelmäßig, ob die Atemmaske richtig auf dem Gesicht sitzt, der Schlauch | |
nirgends knickt und sie in einer für Luftröhre und Lunge guten Position | |
liegt. Zusätzlich trägt Annika Braun an ihrem Finger ein Pulsoximeter, das | |
die Sauerstoffsättigung misst und im Notfall Alarm schlägt. Die restliche | |
Zeit verbringen die Pfleger*innen in der Küche, lesen Bücher, schauen | |
Serien, lernen für Prüfungen, „machen die Steuererklärung, alles schon | |
gehabt“, sagt Braun und lacht. | |
Kämpfe: Dass sie zum [1][Studieren] ausziehen und nun in einer eigenen | |
Wohnung leben kann, Hunderte Kilometer von zu Hause, dem oberfränkischen | |
Pegnitz, entfernt, war keineswegs klar und ist nach wie vor nicht | |
selbstverständlich. Nicht etwa, weil ihr Wille, Leistungen oder | |
Selbstständigkeit fehlten, sondern weil ihr die Krankenkasse Steine in den | |
Weg legte, immer wieder. Annika Braun ist es seit ihrer Jugend gewohnt, | |
gerichtlich Dinge erstreiten zu müssen. Früher die Kostenübernahme für ihre | |
Schulbegleitung, zuletzt eine Zweitausstattung ihrer Geräte. Die hätte sie | |
gern, um ihre Eltern in Bayern besuchen zu können, ohne einen 30 Kilogramm | |
schweren Rucksack durch Deutschland schleppen zu müssen. Die Krankenkasse | |
lehnte das ab, weil sie aus der „persönlichen Entscheidung der Klägerin (�… | |
einen Zweitwohnsitz zu gründen“, keine Leistungsverpflichtung ableite. „In | |
anderen Worten: ‚Ist doch nicht unser Problem, wenn Sie zum Studieren | |
wegziehen wollen.‘“ | |
[2][Jens Spahn]: Wegen des Gesundheitsministers machte Annika Braun auf | |
ihrem Instagram-Profil erstmals ihre Krankheit öffentlich und tat einen | |
Schritt, für den sie sich gerne noch etwas mehr Zeit gelassen hätte. Aber | |
es ging nicht anders. Jens Spahn hatte einen Gesetzentwurf eingebracht, mit | |
dem die Intensivpflege mit künstlicher Beatmung in der eigenen Wohnung | |
künftig zur Ausnahme gemacht werden sollte. Wer Beatmung brauche, solle in | |
der Regel in Pflegeheimen oder speziellen Wohngemeinschaften untergebracht | |
werden. Sie schrieb einen offenen Brief, Spahn antwortete beschwichtigend, | |
dass er nicht die Absicht habe, sie aus ihrem Umfeld zu reißen. | |
Identität: Annika Braun weiß, wer sie ist, was sie kann, was sie will. „Das | |
liegt auch daran, dass ich einen langen Reflexionsprozess hinter mir habe, | |
um herauszufinden, inwiefern die Behinderung ein Teil von mir ist“, sagt | |
sie. Dieser Prozess sei sehr intensiv gewesen und habe ordentlich weh | |
getan. Braun traut sich viel zu, schreckt vor Verantwortung nicht zurück, | |
auch wenn sie irgendwo gerade erst neu angefangen hat. Hin und wieder stoße | |
das auf Irritation. „Ich glaube, manche Menschen verunsichert mein | |
Selbstbewusstsein. Die kennen meine Geschichte nicht und sind überzeugt, | |
dass eine 23-Jährige das nur faken kann.“ | |
Normalität: Die meiste Zeit ist sie okay mit sich und dem Undine-Syndrom, | |
sie ist „die Annika, die tagsüber normal und nachts halbtot“ ist. Nun sind | |
die Querelen mit der Krankenkasse nicht nur zeitaufwendig, sondern stören | |
massiv die Selbstbestimmtheit. „Im Prinzip werde ich nur durch andere daran | |
erinnert, dass ich eine Behinderung habe, und kann so nicht selbst für mich | |
entscheiden, wann ich normal sein will.“ | |
Eltern: In ihrer Kindheit sei das anders gewesen. Wenn ihre Eltern ihr | |
eines eingetrichtert hätten, dann, „dass ich nicht behindert, sondern | |
besonders bin, dass wir alles hinkriegen, alles schaffen, alles versuchen | |
irgendwie für mich möglich zu machen“. Annika Braun verbringt die ersten | |
anderthalb Jahre ihres Lebens im Krankenhaus. Bis sie neun Jahre alt ist, | |
schläft sie zu Hause in einer Unterdruckkammer. Sie ist ein aufgewecktes | |
Kind, das seine Kräfte oft nicht richtig einschätzt, „den Macker spielt“ | |
und seiner Mutter kurz vor der Bewusstlosigkeit in die Arme fällt. | |
Undine: Das Undine-Syndrom ist eine angeborene Erkrankung des zentralen | |
Nervensystems. Bei den Betroffenen ist die Kommunikation zwischen Gehirn, | |
Zwerchfell und Brustwandmuskeln gestört, was sich auf die Atmung auswirkt. | |
Manche Menschen müssen sich auch tagsüber ans Luftholen erinnern, bei | |
anderen kommt es nur im Schlaf oder bei Bewusstlosigkeit zu Problemen. Der | |
umgangssprachliche Name geht auf die Sage der Nymphe Undine zurück, die | |
untreue Liebhaber umbringt, indem sie ihnen den Atemreflex raubt. | |
Vertrauen: Neben ihren Eltern und dem Bruder werden auch ihre nächtlichen | |
Pfleger*innen zu engen Bezugspersonen. Da wäre zum einen Thomas – Annika | |
Braun nennt ihn „Schwester Thommy“ –, einer der wenigen männlichen Pfleg… | |
der jahrelang über ihren Schlaf wachte und ein „zweiter Papa“ für sie | |
wurde. Braun telefoniert heute noch manchmal mit ihm. Ihre Umzüge, erst zum | |
Bachelorstudium ins sächsische Mittweida, dann nach Mainz, bedeuteten für | |
Braun auch, neue Pflegedienste suchen und sich auf immer neue Menschen | |
einlassen zu müssen. | |
Unsicherheiten: Nicht alle von ihnen sind mit ihrem Beatmungsgerät | |
vertraut, immer wieder muss sie Menschen vor dem Schlafengehen erst | |
einarbeiten. Corona riss in viele durch den Pflegemangel ohnehin schon | |
löchrige Dienstpläne klaffende Lücken. Es kam schon vor, dass Braun nicht | |
wusste, ob abends jemand klingeln würde. Dann muss sich ihre Mutter spontan | |
auf den Weg nach Rheinland-Pfalz machen oder Braun packt ihren | |
30-Kilo-Rucksack und setzt sich in den Zug. | |
Musik: Sich nach der Uni mal kurz hinlegen geht nicht. Dem abendlichen | |
Druck, einzuschlafen, während im Nachbarzimmer jemand Fremdes sitzt, | |
begegnet Braun mit ihrem Musik-Mantra. Von A bis Z geht sie erst alle ihre | |
Lieblingslieder, dann Alben, dann Interpreten durch. Von „Alles ist jetzt“ | |
bis „Zuhause sind wir“, von Antje Schomaker bis Zate. Musik hilft ihr aber | |
auch, wenn sie bei langen Bahnfahrten in stickigen Waggons müde wird, dann | |
setzt sie sich ihre Kopfhörer auf und hört Hardrock. | |
Energie: Gut, dass ihr Ruhe, Stille und Erholung sowieso nicht viel | |
bedeuten. „Ich bin ein Energiebündel, ich muss mich ständig bewegen.“ | |
Aktuell sitzt sie wegen ihrer Bachelorarbeit viel am Schreibtisch, steht | |
aber immer wieder auf, um durch die Wohnung zu tanzen. Sie geht regelmäßig | |
laufen und liebt jede Sportart, für die es Schnee oder einen Ball braucht. | |
Im Team geht sie auf, ob in der Mannschaft oder beim Uniradio in Mittweida. | |
„Wenn ich mich für irgendein Projekt richtig begeistere, ist mir völlig | |
egal, wie viel Schlaf ich kriege.“ | |
Erleben: Über Annika Brauns Bett hängt eine Lichterkette, an der sie Fotos | |
und Zettel befestigt hat. Der Abschlussball an ihrer Uni, mit ihren | |
Freundinnen in der Mainzer Küche beim Brunchen, ein Skript der ersten | |
Nachricht, die sie fürs „heute journal“ geschrieben hat. „Ich kann | |
wahnsinnig gut Momente aufsaugen und mich später wieder an ihnen | |
hochziehen“, sagt sie. „Ich liebe es, Sonnenuntergänge anzuschauen, und | |
gleich gehe ich bestimmt noch raus und mache einen Schneeengel.“ Sie | |
glaubt, dass sie vielleicht etwas bewusster lebt als andere in ihrem Alter. | |
Auch weil sie schon früher lernen musste, dass alles endlich ist. „Ich will | |
einfach nichts an mir vorbeirauschen lassen.“ | |
1 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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