Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Vom Allgäu in den Dschungel
> „Wir haben abgetrieben“, dazu bekannte Rita Mühlbauer sich 1971 im
> „Stern“. Bis heute arbeitet sie als Illustratorin. Ein Besuch in
> München-Schwabing.
Bild: Leben im kreativen Gewimmel: Rita Mühlbauer an ihrem Arbeitsplatz
Sie ist auf eine leise Art sehr offenherzig und zugleich sehr entschieden.
Von traditionellen Rollenbildern hat sich Rita Mühlbauer genauso
emanzipiert wie von linken Dogmen.
Draußen: Schwabing-West, Nähe Hohenzollernplatz. Durch den Bau der
Kunstakademie Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Münchner
Stadtteil zum Künstlerviertel, mit den Schwabinger Krawallen 1962 wurde er
zu einem Zentrum der deutschen Studenten- und Protestbewegung, auch die
erste deutsche Frauenbuchhandlung entstand hier. In den 1970er Jahren
gründete die Kunststudentin Rita Mühlbauer in Schwabing mit Gleichgesinnten
eine WG. In der Wohnung lebt sie immer noch. Heute mit ihrem
Lebensgefährten, dem Bühnenplaner Günther Nahr.
Drinnen: „Wir leben wie in einer Menagerie“, sagt die 79-jährige Malerin
und Illustratorin, die langen Haare hochgesteckt, die Augenbrauen hoch
geschwungen, sanft lächelnd und in ihrem ganzen Wesen von unaufdringlicher
Eleganz. In ihren beiden Arbeitszimmern stapeln sich auf dem Boden, auf
Tischen und Regalen zahllose Bücher, Postkarten und Papierhaufen, Stifte,
Pinsel, Farbtuben und Farbkästen, Gemälde und Rahmen.
Mittendrin im kreativen Chaos liegt auf einem Tisch ein kleines Blatt
Papier, darauf die unfertige Zeichnung eines Drüsigen Springkrauts in
Hellrosa. Eines von 28 Porträts für ein Buch, das sie zurzeit illustriere,
erzählt Mühlbauer mit sanft bayerisch rollenden R. Man merkt gleich, sie
ist keine, die ihre eigene Meinung für wichtiger hält als die Objekte, über
die sie redet.
Dschungel: Viel eher schon lässt das Gewimmel in Rita Mühlbauers
Altbauwohnung darauf schließen, dass sie die Dinge selbst sprechen lassen
möchte. Überall liegen, hängen, stehen, lugen Dinge, Wesen, Pflanzen und
Tierfiguren um die Ecke. Da steckt ein großer Holzpilz in der Erde des
großen Blumentopfes im Wohnzimmer, die Sofadecke ist mit riesigen Libellen
bedruckt, auf dem langen Glasregal im Flur liegen Baumstücke und Samen aus
dem Amazonas, gleich daneben ist eine Ratte aus Holz („weiß gar nicht, wo
die her ist“).
In der Küche quellen die Regale über vor Behältern und Geschirr, und an der
Wand hängt eine brasilianische Uhr, aus der – nicht zur vollen Stunde,
sondern immer zehn Minuten später – Vogelzwitschern zu hören ist. Trotz
allem ist die Wohnung nicht unaufgeräumt. Es herrscht eine Ordnung, deren
Struktur nur für Außenstehende wie ein undurchdringlicher Dschungel wirkt.
Allgäu: Rita Mühlbauer liebt den Dschungel. Elfmal war sie in Brasilien und
Peru, um ihn zu malen. Dabei ist sie in einer Gegend groß geworden, in die
andere Maler kommen, um sich inspirieren zu lassen: in den Allgäuer Alpen.
Aber der Zeichnerin, die schon als Kind Porträts ihrer Familie malt, ist es
dort zu eng. Sie will weg, dahin, wo sie das Gefühl hat, frei zu sein, zu
tun, was sie will. Sie geht nach München.
Akademie: Um ihrer Mutter die Angst zu nehmen, brotlose Kunst zu machen,
lässt Mühlbauer sich zur Gebrauchsgrafikerin ausbilden, arbeitet in
Werbeagenturen. Bis ihr größter Wunsch in Erfüllung geht: Als erste Frau
wird sie in der Klasse von Xaver Fuhr an der Münchner Kunstakademie
angenommen. „Dort hab ich lesen gelernt“, sagt Mühlbauer heute. Und meint
damit, dass sie – aus einem bildungsfernen Arbeiterhaushalt stammend – an
der Akademie die Welt entdeckt hat.
Tabu: Noch in Kempten war Mühlbauer als junge Frau ungewollt schwanger,
dreimal. „Verhütung war ein Tabu und auch praktisch mit vielen
Schwierigkeiten verbunden. Es gab ja die Pille noch nicht.“ Ihre Mutter
verriet ihr, wo sie hingehen könne: zu einem „Flüchtlingsarzt“. Mit
Flüchtlingen sind jene Deutschen gemeint, die nach dem Zweiten Weltkrieg
aus Osteuropa geflohen oder vertrieben worden waren. „Die waren viel
gebildeter und weltoffener als die meisten Einheimischen. Damals hätte in
dem Ort niemand wissen dürfen, dass ich abgetrieben habe.“
Frauenbewegung: 1971 erfährt es die ganze Welt. Rita Mühlbauer ist eine der
374 Frauen, [1][die im Stern bekennen: „Wir haben abgetrieben!“] – und
damit gegen geltendes Recht verstoßen. Rita Mühlbauer ist aktiv in der
Frauenbewegung, beteiligt sich an der Gründung revolutionärer Frauengruppen
an der Kunstakademie und publiziert dazu theoretische Texte.
Heute muss man sie schon fast dazu drängen, über diese Zeit zu sprechen.
Zwar betont sie immer wieder, dass sie durch 68 und die Folgen „schon sehr
geprägt“ wurde, dass das, was an der Zeit gut war, auch geblieben sei, und
dass die Gleichberechtigung der Geschlechter ihr immer noch wichtig ist.
Aber in ihrem Leben sei diese Episode eben von vielem anderen überlagert.
Dogma: Hinter dieser Haltung steckt aber offenbar auch, dass sie von den
Zielen und Ideen dogmatischer Revolutionäre letztlich nie so richtig
überzeugt war. „Es gab ja damals ein Diktat, unbedingt abstrakt malen zu
müssen. Naturalistisch und realistisch war verpönt.“ Auch sie hat dann eine
abstrakte Phase, und wie so viele ihrer Akademiegenossen überlegt
Mühlbauer, die Malerei als „bürgerliche, egoistische Angelegenheit“
aufzugeben und stattdessen ein Soziologiestudium zu beginnen, um der
Gesellschaft „nützlich“ zu sein. Ihr „letztes Bild“ übermalt sie schw…
Realismus: Schließlich bleibt Rita Mühlbauer aber doch an der Akademie und
malt weiter: realistisch. „Mir war der ehrliche Umgang mit den Materialien
immer wichtig. Ich stand nie auf Manierismus, habe nicht fieberhaft nach
einem eigenen Stil mit großen Schwüngen gesucht, um aufzufallen“, sagt sie.
Es habe sie auch nie interessiert, sich und ihre seelischen Zustände
auszudrücken. „Beim Malen geht es mir darum, eine Liebeserklärung zu machen
an die Wesen, die ich sehe. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich
anderen damit eine Freude machen kann und dass das mein Beitrag zu einer
besseren Welt ist.“
Distanz: Rita Mühlbauers Bilder sind gemalte Feste der Natur, aber immer
findet man auch etwas, das sich dagegen wehrt, dieser Faszination völlig zu
erliegen. Stets malt sie Dinge, die nicht wirklich dazugehören, eine kleine
gehörnte ägyptische Göttin zwischen einer imposanten Kuh und einer
Holzhütte, oder einen Frosch neben ein Aktporträt. Dieses angedeutet
Unernste holt die überwältigende Schönheit aus der sakralen Sphäre und hebt
sie auf Augenhöhe mit dem Betrachter. Man kann das als einen
Restsurrealismus aus Mühlbauers Studienzeit interpretieren. Aber noch viel
mehr entspricht diese kleine Geste ihrem Wesen: überbordende Wissbegier und
Begeisterung für das Schöne, aber immer auch eine gewisse Distanz zu den
ganz großen Gesten. „Es geht mir darum, immer eine ganze Welt abzubilden“,
sagt Mühlbauer. Und zu dieser Welt gehört eben auch, was nicht im
Vordergrund steht.
Grenzgängerin: Rita Mühlbauer scheint gar kein 1968 gebraucht zu haben, sie
hatte sich auch so immer durchgesetzt: erst gegen ihre bildungsferne
Herkunft, dann gegen die revolutionäre Linke und schließlich gegen den
Vermarktungsdruck auf dem Kunstmarkt. Ausstellungen hatte sie zahlreiche,
darunter in angesehenen Institutionen für Naturkunde wie dem Senckenberg
Museum in Frankfurt am Main. In verkaufsfördernden Galerien auszustellen
hat sie jedoch immer abgelehnt. „Ich mag das Stromlinienförmige nicht. Ich
bin absichtlich Grenzgängerin geblieben“, sagt Mühlbauer. Während sie heute
vor allem Naturbücher illustriert und Postkarten von der heimischen
Artenvielfalt für Münchens bekannteste Bäckerei, die „Hofpfisterei“,
gestaltet, hat sie früher, um Geld zu verdienen, auch für Spiegel und
Playboy Geschichten illustriert.
Recherchen: 1992 war Rita Mühlbauer zum ersten Mal im Regenwald. „Nirgendwo
sonst ist die Erfahrung von Natur so intensiv. Zwei, drei Stunden sitze ich
dann da still vor mich hin und male“, erzählt sie. Mühlbauer ist kein
ätherisches Wesen, sie malt nicht einfach aus dem Bauch heraus. Sie ist
eine gründliche Rechercheurin und steht mit Wissenschaftlern und Verbänden
in engem Austausch für ihre Motive.
Miniaturen: Ihr Interesse am Detail in der Theorie setzt sich in ihrer
Praxis fort. In ihrem erfolgreichsten Buch, „Himmelszelt und
Schneckenhaus“, das sie mit dem Maler Hanno Rink gemeinsam gestaltet hat,
finden sich Dutzende Miniaturen von Behausungen: vom Schloss Neuschwanstein
über das Kloster Taktsang im Himalaya bis zur Palastdschunke in Nangking.
Man kann sich nicht sattsehen an der Detailfülle in den bloß 7,5 mal 5,5
Zentimeter kleinen Bildchen. Schier unbegreiflich erscheint, wie eine
menschliche Hand derart winzige Details mit solch einer Präzision
hinbekommt.
Sammelbildchen: Die Inspiration für diese Art Buch hat sie aus den Alben
ihrer Oma: querformatige Pappbände mit Titeln wie „Aus Wald und Flur. Tiere
unserer Heimat“ oder „Deutsche Kulturbilder 1400–1900“. „Das waren die
einzigen Bücher zu Hause. Das war meine Bildwelt“, erzählt Rita Mühlbauer,
während sie in einem dieser sogenannten Cigaretten-Alben blättert: eine Art
Lexikon, in das man zu den entsprechenden Textbeiträgen Bildchen klebte,
die man beim Kauf von Zigaretten oder anderen Waren bekam. Man stelle sich
vor, Panini würde Rita Mühlbauer den Auftrag geben, derartige Alben neu zu
konzipieren und zu gestalten – antikolonialistisch, antinationalistisch und
geschlechtergerecht. Es könnte so schön sein.
27 Mar 2021
## LINKS
[1] /Vera-Tschechowa-ueber-den-Paragraf-218/!5751309
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Der Hausbesuch
Feminismus
Illustratorin
Schwabing
München
Paragraf 218
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Lesestück Interview
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
50 Jahre „Wir haben abgetrieben!“: „Frauen schweigen noch immer“
Vor 50 Jahren erschien der „Stern“ mit der Zeile: „Wir haben abgetrieben!…
Das Thema sei noch heute ein Tabu, sagt Grünen-Netzpolitikerin Laura
Dornheim.
Der Hausbesuch: Auf zwei Rädern ins Glück
Beständigkeit trägt Renate Wiehmann durchs Leben. Dazu der Glaube, dass
alles gut wird. Abwechslungsreich ist ihr Leben trotzdem.
Der Hausbesuch: Im Leertakt
Für Dennis Weissert ist Musicaldarsteller mehr als nur ein Beruf. Dass er
in der Coronapandemie kaum arbeiten kann, belastet ihn.
OMASGEGENRECHTS über Rechtspopulismus: „Für eine bunte Gesellschaft“
Renate Christians und Marion Geisler von OMASGEGENRECHTS über Demos früher
und heute, ihre Sozialisation, das Verhältnis zu jungen Aktivist:innen.
Der Hausbesuch: Einer, der Action will und Ruhe
Für Fionn Ziegler lief es nicht gut in der Schule. Erst als er einen Lehrer
traf, der ihn förderte, begann er, an sich zu glauben.
Der Hausbesuch: Vom Klötzchenkurs zum Eigenheim
Die Zwillinge Sarah und Wanda Seegers sind Tischlerinnen. Für ihren Job
braucht man Liebe zum Holz und Freude am Pfuschen. Zu Besuch im Wagendorf.
Der Hausbesuch: Das Wort „Glück“
Paula Yacomuzzi ist von Buenos Aires über Barcelona nach Berlin gezogen.
Hier gibt sie ein Magazin heraus für die spanischsprachige Community.
Der Hausbesuch: Zum Glück braucht sie wenig Schlaf
Annika Braun hat das Undine-Syndrom. Die angehende Journalistin hört auf zu
atmen, sobald sie einschläft. Seit ihrer Jugend kämpft sie für Normalität.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.