Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 50 Jahre „Wir haben abgetrieben!“: „Frauen schweigen noch imm…
> Vor 50 Jahren erschien der „Stern“ mit der Zeile: „Wir haben
> abgetrieben!“ Das Thema sei noch heute ein Tabu, sagt
> Grünen-Netzpolitikerin Laura Dornheim.
Bild: Unterschriftensammlung zur Abschaffung des Paragrafen 218 in West-Berlin
taz: Frau Dornheim, am 6. Juni 1971 erschien der Stern mit 374 Frauen, die
erklärten: Wir haben abgetrieben. Gerade erschien die [1][aktuelle Ausgabe
des Magazins] mit einer Wiederauflage von einzelnen Statements, auch von
Ihnen. Warum ist das nötig?
Laura Dornheim: Weil sich seit 50 Jahren in der Sache fast nichts getan
hat. Weil der [2][Paragraf 218] immer noch im Strafgesetzbuch steht und
damit Schwangerschaftsabbrüche eine Straftat sind. Weil Menschen, die ihre
Schwangerschaft abbrechen möchten und die, die ihnen dabei helfen – also
die Ärzt*innen – so zu Kriminellen deklariert werden. Nur unter
bevormundenden Auflagen werden sie nicht strafverfolgt.
Der Aufreger damals war, dass die Frauen im Stern eine Straftat gestanden
haben. Aber auch das öffentliche Sprechen über eine Abtreibung war
skandalös. Sind Schwangerschaftsabbrüche heute immer noch ein Tabu?
Auf jeden Fall, ja. Da Abtreibungen im Strafgesetzbuch geregelt werden,
sind sie stark stigmatisiert. Von einer erstarkenden neuen Rechten und von
Evangelikalen werden sie zusätzlich diffamiert. Frauen werden beschimpft
als Mörderinnen. Ärzt*innen werden belästigt und dann auch über den
unsäglichen 219 a mit Anzeigen und Klagen überzogen.
Wie erleben Sie das Sprechen über Abtreibung im persönlichen Bereich, unter
Freund*innen?
Obwohl ich mich in einem ziemlich progressiven feministischen Umfeld
bewege, kenne ich einige Frauen, die nicht offen über den Abbruch sprechen.
Sie schweigen aus Furcht vor Stigmatisierung, aber auch aus Scham. Wir sind
weit davon entfernt, eine Abtreibung wie andere medizinische Eingriffe auch
zu behandeln. Wenn ich mir etwa das Sprechen über Reproduktionsmedizin
anschaue, finde ich, dass sich da viel mehr getan hat. Das wird öffentlich
thematisiert, da sagen mittlerweile auch viele Eltern, dass sie
medizinische Unterstützung in Anspruch genommen haben, um Kinder zu
bekommen. Sobald es aber um Schwangerschaftsabbrüche geht, ist noch immer
viel Scham im Spiel.
Wie war das bei Ihnen? Im Stern schreiben Sie, dass Sie mit Freund*innen
darüber gesprochen hatten. Wie haben die reagiert?
Die waren sehr, sehr empathisch. Ich habe auch mit meiner Mama drüber
gesprochen. Meine Mutter hat mich mit neunzehn bekommen, eine Abtreibung
wäre für sie nie infrage gekommen, obwohl sie damals noch nicht mal Abitur
hatte. Aber auch sie hat mir klargemacht, dass ich das selbst entscheiden
muss, und wenn ich nicht das Gefühl habe, dass es die beste Situation ist,
um einen neuen Menschen auf diese Welt zu bringen, dann sollte ich das
nicht tun. Niemand hat meine Entscheidungskompetenz infrage gestellt.
Warum haben Sie sich für eine Abtreibung entschieden?
Die Schwangerschaft kam für mich total überraschend und war zu dem
Zeitpunkt einfach nicht Teil meiner Lebensplanung. Ich war auch gerade
zwischen zwei Jobs, und die Beziehung, aus der die Schwangerschaft
entstanden ist, war sehr neu und noch gar nicht klar, ob es langfristig
trägt. Ich finde aber auch, niemand muss sich rechtfertigen. Ein Kind zu
bekommen oder nicht ist eine höchstpersönliche Entscheidung, für die es
keine allgemeingültigen Kriterien gibt.
Sie schreiben im Stern, Sie hätten vor Wut weinen müssen. Warum?
Weil ich eben nicht nur mit den Leuten sprechen konnte, denen ich mich
anvertrauen wollte. Ich musste mich einer fremden Person offenbaren. Ich
musste einen Termin in einer Beratungsstelle ausmachen und das schnell.
Meine Entscheidung stand zu dem Zeitpunkt noch gar nicht final fest, aber
ich musste mich sofort kümmern, weil mir klar war: Wenn ich mir die
Entscheidung offenhalten will, dann muss ich diesen Prozess so schnell wie
möglich anstoßen. Es gibt drei Tage Bedenkfrist zu beachten, dann die Suche
nach einer Ärztin, die dauert. Es hat mich so wütend gemacht, dass ich
derartig gegängelt werde in einer Situation, die ohnehin schon schwierig
genug ist.
Sie wollen den Paragrafen 218 abschaffen.
Unbedingt.
Wie soll das gehen?
Aus meiner Sicht können sowohl Paragraf 218 [3][als auch 219] einfach
gestrichen werden. Die Fristenlösung wird bereits im
Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt. Paragraf 218 sagt letztlich nur,
dass der Schwangerschaftsabbruch eine Straftat ist. Es gibt manchmal aus
der sogenannten Pro-Life-Bewegung das Scheinargument, 218 müsse erhalten
bleiben, um Abbrüche gegen den Willen einer Frau strafbar zu machen. Das
ist aber hanebüchen, weil ein Abbruch gegen den Willen einer schwangeren
Person schlicht eine schwere Körperverletzung wäre. Dafür gibt’s einen
Straftatbestand.
Im [4][Grundsatzprogramm] von den Grünen ist die Forderung nach Abschaffung
von Paragraf 218 ja sehr konkret formuliert, im vorläufigen Wahlprogramm
eher ungenauer. Beim Parteitag Mitte Juni möchte der Bundesfrauenrat die
Passage im Wahlprogramm per Änderungsantrag konkretisieren. Wie konkret
soll das werden?
Das wird noch diskutiert. Es steht aber schon fest, dass wir eben genau das
wollen, was im Grundsatzprogramm steht, also die Streichung aus dem
Strafgesetzbuch. Diese Forderung wird im Wahlprogramm stehen.
Dann steht die Abschaffung im [5][Wahlprogramm der Grünen], aber wenn die
Grünen in einer Regierung mit der CDU sind, was passiert dann? Mit der CDU
ist ja nicht mal die Abschaffung des Werbeverbots möglich gewesen.
Wenn ich im Herbst in den Bundestag komme, wird das meine erste
Legislaturperiode. Ich werde also vermutlich nicht die
Koalitionsverhandlungen anführen. Aber ich werde natürlich alles in meiner
Macht Stehende tun, damit wir in den Verhandlungen unsere feministischen
Werte hochhalten.
Sie erwarten gerade Ihr zweites Kind. Was wünschen Sie sich für Ihren
Nachwuchs?
Ich wünsche mir, dass mein Kind diese Paragrafen nur noch aus dem
Geschichtsunterricht kennt. Seit 150 Jahren gibt es Paragraf 218.
Jahrzehntelang war der Kampf gegen den Paragrafen ganz eng mit dem Kampf
gegen Paragraf 175 verknüpft, der sexuelle Handlungen unter Männer unter
Strafe gestellt hat. 175 sind wir zum Glück losgeworden. Und ich hoffe
sehr, dass wir das von 218 auch bald sagen können.
6 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.stern.de/panorama/vor-50-jahren--wir-haben-abgetrieben---alice-…
[2] /Paragraf-218/!t5437648
[3] /Kristina-Haenel-ueber-ihr-219a-Urteil/!5745523
[4] https://www.gruene.de/grundsatzprogrammprozess
[5] /Gruene-Aussen--und-Sicherheitspolitik/!5771141
## AUTOREN
Katrin Gottschalk
## TAGS
Paragraf 218
Schwerpunkt Abtreibung
Stern
Grüne
GNS
Paragraf 218
Paragraf 218
Paragraf 218
Der Hausbesuch
Hans-Dietrich Genscher
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Abtreibung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schwangerschaftsabbrüche: Petition will §218 streichen
Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung will die Legalisierung von
Abbrüchen. 86.000 Menschen haben die Petition unterschrieben.
Schwangerschaftsabbrüche in Bayern: Zurück zum Engelmacher?
Frauen, die in Bayern abtreiben wollen, haben es nicht leicht: Die Praxen
werden weniger, die Kliniken drücken sich. Und der Staat? Schaut zu.
Abtreibung aus Ärztesicht: Verweigern ist der Normalfall
Was muss sich ändern, damit mehr Ärzt*innen bereit sind, Abbrüche
vorzunehmen? Zwei Medizinerinnen erklären, wo es hakt.
Der Hausbesuch: Vom Allgäu in den Dschungel
„Wir haben abgetrieben“, dazu bekannte Rita Mühlbauer sich 1971 im „Ster…
Bis heute arbeitet sie als Illustratorin. Ein Besuch in München-Schwabing.
Vera Tschechowa über den Paragraf 218: „Schrecklich, dass das normal war“
Vera Tschechowa war Schauspielerin, dann Regisseurin. Und auf dem berühmten
„Stern“-Cover „Wir haben abgetrieben“. Ein Gespräch.
Schwangerschaftsabbruch nach § 218: Quer zur Wirklichkeit
Seit 150 Jahren ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland strafbar.
Was würde passieren, wäre der Paragraf 218 abgeschafft?
Reproduktive Rechte: Als Mutter pro choice
Die gebürtige Australierin Kate Cahoon kämpft für sexuelle
Selbstbestimmung. Den „Marsch für das Leben“ hält sie für organisierten
Antifeminismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.