| # taz.de -- Schwangerschaftsabbrüche in Bayern: Zurück zum Engelmacher? | |
| > Frauen, die in Bayern abtreiben wollen, haben es nicht leicht: Die Praxen | |
| > werden weniger, die Kliniken drücken sich. Und der Staat? Schaut zu. | |
| Bild: Pro Choice: Protest gegen eine Abtreibungsgegner-Demo in München | |
| München taz | Eigentlich war es ja nicht mehr als eine Art | |
| Erinnerungsservice. Mit ihrem Antrag vom 27. April erinnerte die | |
| SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag die Staatsregierung lediglich an ihre | |
| Verpflichtung, für ein ausreichendes Angebot an Einrichtungen zu sorgen, | |
| die im Freistaat [1][Schwangerschaftsabbrüche anbieten]. Denn so steht es | |
| im Paragraf 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes: „Die Länder stellen | |
| ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur | |
| Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicher.“ | |
| Stellen sie? Nein, stellen sie eben nicht, beklagt nicht nur die SPD. Auch | |
| Verbände wie Pro Familia und Mediziner sind mit der Situation, freundlich | |
| formuliert, unzufrieden. | |
| Das gilt nicht nur für Bayern. In allen katholisch geprägten Regionen | |
| Deutschlands mussten Frauen schon immer weit fahren, bis sie einen Arzt | |
| oder eine Klinik fanden, in denen ihnen geholfen wurde. Und in anderen | |
| Gegenden, auch in liberalen Großstädten, fehlt immer häufiger ärztlicher | |
| Nachwuchs, der den Eingriff anbietet. | |
| Aber in keinem Bundesland ist die Situation so dramatisch wie in Bayern. | |
| „Es gibt ganze Regierungsbezirke, wo es gar niemanden mehr gibt, der noch | |
| Schwangerschaftsabbrüche vornimmt“, schimpft etwa Ruth Waldmann, die | |
| gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. „Und das führt dazu, | |
| dass die Frauen weite Reisen auf sich nehmen müssen und dass es auch zu | |
| Verzögerungen in der Behandlung kommen kann.“ | |
| ## Ein „bayerischer Sonderweg“ | |
| Wenn aber alle Vorklärungen gelaufen seien, müssten die Frauen in | |
| zumutbarer Entfernung die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch auf | |
| dem medizinisch bestmöglichen Standard bekommen. Was die Entfernung angeht, | |
| hat das Bundesverfassungsgericht 1993 vorgegeben, dass diese „von der Frau | |
| nicht die Abwesenheit über einen Tag hinaus“ verlangen dürfe. | |
| In der Theorie dürfte das gewährleistet sein, in der Praxis wird es da in | |
| einem Flächenland wie Bayern eng. Fast zwei Drittel der 11.000 bis 12.000 | |
| Abbrüche, so hat das Münchner Gesundheitsreferat 2019 erhoben, werden in | |
| München gemacht. In Augsburg, der drittgrößten Stadt Bayerns, gibt es für | |
| Frauen überhaupt keine entsprechenden Anlaufstellen. Die bayerische | |
| Regierungskoalition aus CSU und Freien Wählern sieht keinen | |
| Handlungsbedarf. Mit ihren Stimmen wurde der SPD-Antrag im | |
| Gesundheitsausschuss abgelehnt. | |
| Dass sich ausgerechnet die bayerische Staatsregierung aus der Verantwortung | |
| stiehlt, wundert Waldmann wenig. „Die CSU hat ja in Sachen | |
| Schwangerschaftsabbrüchen immer schon eine wenig konstruktive Rolle | |
| gespielt.“ Noch in den 1990er Jahren hätte der Freistaat Ärztinnen und | |
| Ärzte, die Abbrüche anbieten wollten, abgeschreckt. | |
| In der Tat gehörten Christsoziale wie Barbara Stamm und Edmund Stoiber zu | |
| den energischsten Abtreibungsgegnern. 1996 verabschiedete der Landtag das | |
| Schwangerenhilfeergänzungsgesetz, wonach die Einnahmen aus Abtreibungen | |
| einer Praxis ein Viertel ihrer Gesamteinnahmen nicht übersteigen durften. | |
| Reine Abtreibungspraxen wären nicht mehr möglich gewesen und damit auch die | |
| meisten ambulanten Abbrüche. Zwei Jahre später kippte das | |
| Bundesverfassungsgericht diesen „bayerischen Sonderweg“. | |
| ## Nachwuchsprobleme | |
| Anruf bei [2][Friedrich Stapf, einem der Ärzte, die damals erfolgreich | |
| Verfassungsbeschwerde eingelegt haben]. Stapf hat einen anstrengenden Tag | |
| hinter sich. Ein Drittel aller Abbrüche in Bayern übernehme seine Praxis, | |
| erzählt er. Bis zu 3.500 im Jahr. | |
| Aber die ungleiche Verteilung der Einrichtungen über den Freistaat sieht er | |
| nicht als das größte Problem an. Prinzipiell gingen die Frauen gern in die | |
| Großstadt, wo sie sicher sein können, dass sie keinen Bekannten begegnen. | |
| Nein, das größere Problem sei ein anderes. Im Mai hat Stapf im Frauenarzt, | |
| dem Fachorgan für Gynäkologinnen und Gynäkologen, eine Anzeige geschaltet. | |
| Eine halbe Seite, 6.000 Euro: „Suche Frauenarzt“. „Es hat sich nicht einer | |
| gemeldet.“ Stapf selbst ist 75 Jahre alt. Seit 40 Jahren nimmt er als | |
| niedergelassener Arzt Schwangerschaftsabbrüche vor. Man tritt ihm nicht zu | |
| nahe, wenn man vermutet, dass er den Job nicht noch jahrzehntelang machen | |
| wird. | |
| Und Stapf ist nicht der Einzige, der längst im Ruhestand sein könnte. Beim | |
| Gesundheitsreferat in München waren 2019 insgesamt 37 Ärztinnen und Ärzte | |
| gemeldet, die Schwangerschaftsabbrüche machen durften. 22 von ihnen waren | |
| bereits über 60, fünf sogar über 70. Ab 2010 sind 20 Ärzte ausgeschieden, | |
| nur 6 sind dazugekommen. Und andernorts sieht es nicht besser aus. | |
| ## Der Hass der sogenannten „Lebensschützer“ | |
| „Die, die es machen, das sind größtenteils noch Medizinstudenten der | |
| sechziger, siebziger Jahre“, sagt Stapf. Als 1971 [3][der berühmte | |
| Stern-Titel „Wir haben abgetrieben“] erschien, standen viele im | |
| Medizinstudium oder kurz davor. „Das Bewusstsein, dass das eine politisch | |
| notwendige Sache ist, fehlt heute komplett“, findet auch Marianne Weiß von | |
| Pro Familia Augsburg. | |
| „Ich mach’ das aus Überzeugung“, sagt Stapf. Eine Überzeugung, die aus | |
| Erlebnissen aus dieser Zeit erwachsen ist. „Ich habe während meines | |
| Studiums in der Klinik in Wiesbaden miterlebt, wie täglich Frauen nach | |
| einem illegalen Abbruch halbtot mit Blaulicht gebracht wurden, das prägt.“ | |
| Heute ist Stapf der wohl bekannteste und erfahrenste Abtreibungsarzt in | |
| Deutschland. Er ist aber auch ein bunter Vogel seines Berufsstands, was | |
| nicht nur an seinen Hawaii-Hemden liegt, die er auch in seiner Praxis gerne | |
| trägt. Stapf ist keiner, der sich versteckt, auf das Nummernschild seines | |
| Autos hat er seinen Namen untergebracht. | |
| Er erzählt viel und gern. Vom Hubschrauberflugschein, den er im hohen Alter | |
| noch gemacht hat, von seinen Begegnungen mit Rudolf Augstein, am meisten | |
| aber von seinem Beruf, und den Schwangerschaftsabbrüchen. Dass er den | |
| [4][Hass der sogenannten Lebensschützer] auf sich zieht, nimmt er in Kauf. | |
| Wenn sie ihn „Massentöter“ nennen, ist das noch eine der freundlicheren | |
| Bezeichnungen. | |
| ## „Die Situation ist widerwärtig.“ | |
| Die Anfeindungen tragen sicher dazu bei, dass so wenig junge Ärztinnen und | |
| Ärzte noch Schwangerschaftsabbrüche anbieten wollen. Der Kern des | |
| Nachwuchsproblems sitzt aber tiefer. Das fange schon in der Ausbildung an, | |
| meint Stapf. „Da kommt niemand nach, weil es auch in den bayerischen | |
| Krankenhäusern nach der Beratungsregelung noch nie gemacht wurde. Wenn Sie | |
| in Ihrer ganzen Ausbildung nur gehört haben, Schwangerschaftsabbruch, das | |
| gehört sich nicht, wir machen das nicht, dann wollen Sie das auch nicht | |
| machen. Das könnte ja Ihrem Ruf schaden.“ | |
| In der Tat gibt es nur ein paar wenige Kliniken in Bayern, die überhaupt | |
| Abbrüche nach der Beratungsregelung anbieten. Manche Städte und Landkreise, | |
| zum Beispiel Passau, sollen ihren Kliniken Abtreibungen sogar verboten | |
| haben. Stapf wird wütend. „Die Situation ist widerwärtig. Die drücken sich, | |
| wo sie nur können.“ Aber zur Gynäkologie gehöre eben die Behandlung | |
| ungewollt schwanger gewordener Frauen genauso wie Geburtshilfe oder | |
| Verhütung. „Es gibt keinen Eingriff, der in Deutschland häufiger gemacht | |
| wird als Schwangerschaftsabbrüche. Dann sollte das bitte auch im | |
| Krankenhaus gelehrt werden.“ | |
| Dass es auch anders geht, zeigten etwa Hamburg oder Berlin. Dort würden in | |
| fast jeder Klinik Abbrüche nach der Beratungsregelung gemacht. Und dort | |
| gebe es keinen Mangel an entsprechenden niedergelassenen Ärztinnen und | |
| Ärzten. | |
| „Moralisch halte ich es für sehr fragwürdig, dass Kliniken das überhaupt | |
| ablehnen können“, sagt auch SPD-Politikerin Waldmann. „Es gibt Notlagen, wo | |
| es zu so einer Entscheidung kommen kann. Und wenn es so weit ist, dann ist | |
| es doch klar, dass das medizinisch gut gemacht werden muss. Was ist denn | |
| die Alternative? Wir wollen doch nicht, dass die Frauen wieder zum | |
| Engelmacher gehen müssen.“ So wurden früher Personen genannt, die illegal | |
| Schwangerschaftsabbrüche durchführen. | |
| ## Vielfach unter Druck | |
| Waldmanns klare Forderung an die Staatsregierung: Zum einen solle sie sich | |
| dafür einsetzen, dass Schwangerschaftsabbrüche in der medizinischen | |
| Ausbildung besser abgebildet würden. Zum anderen müsse sie eine vernünftige | |
| Versorgung in allen Regierungsbezirken bereitstellen. „Dafür könnte man zum | |
| Beispiel die bayerischen Universitätskliniken nutzen, die ja dem Freistaat | |
| gehören. Die sollten dazu verpflichtet werden, dieses medizinische Angebot | |
| vorzuhalten.“ | |
| In Augsburg gibt es ein solches Universitätsklinikum, es ist eines der | |
| größten Krankenhäuser Deutschlands. Wenn aber eine Augsburgerin ihre | |
| Schwangerschaft abbrechen möchte, muss sie nach München fahren. Wenn sie | |
| das den Frauen sage, seien diese oft schockiert, erzählt Familienberaterin | |
| Weiß. „Die Frauen oder Paare gehen davon aus, dass ich ihnen jetzt ein paar | |
| Adressen in Augsburg nenne. Stattdessen muss ich ihnen sagen, dass es nur | |
| in München gemacht wird. Das ist doch überhaupt nicht nachvollziehbar.“ | |
| Weiß ist überzeugt davon, dass durch die Politik, es den Frauen möglichst | |
| schwer zu machen, keine einzige Abtreibung verhindert wird. Im Gegenteil: | |
| Die Frauen fühlten sich vielfach unter Druck gesetzt und schauten nur, dass | |
| sie den Schwangerschaftsabbruch rechtzeitig über die Bühne brächten. „Dabei | |
| müsste man ihnen doch die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen, die Frauen | |
| brauchen Zeit für Gespräche und zum Nachdenken, um mögliche Alternativen | |
| zum Abbruch auszuloten.“ | |
| Übrigens habe sich doch ein Bewerber gemeldet, schreibt Stapf später. | |
| Alter: 75 Jahre. | |
| 3 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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