# taz.de -- Paragraf 218 verhindert Lösungen: Abgebrochene Gesundheitspolitik | |
> Zum Scheitern verurteilt sind Versuche von Kommunen, die Versorgungslage | |
> bei Schwangerschaftsabbrüchen zu verbessern. | |
Bild: Eine Demonstration gegen den Paragrafen 218, 1973 in Bonn | |
BREMEN taz | Einen Shuttle-Service für Frauen, die einen | |
Schwangerschaftsabbruch brauchen? Ja, so etwas gibt es. Heute nicht mehr | |
für Tausende, [1][die in die Niederlande reisen] wie bis in die 80er- und | |
90er-Jahre. Sondern nur noch vereinzelt, innerhalb Deutschlands. Dort, wo | |
es weit und breit keine Praxen oder Kliniken gibt, die den ambulanten | |
Eingriff durchführen oder das Medikament verschreiben, das eine Fehlgeburt | |
auslöst. In Norddeutschland gab es solche Versorgungswüsten bisher nur im | |
tief katholischen Westen Niedersachsens, [2][wie eine taz-Recherche vor | |
vier Jahren zutage förderte]. | |
Doch die weißen Flecken auf der Landkarte werden größer, auch im | |
vermeintlich liberalen Norden. Das liegt vor allem daran, [3][dass | |
Ärzt*innen in Rente gehen], die die Auseinandersetzungen um das | |
Abtreibungsrecht Ende des vergangenen Jahrhunderts miterlebt und sich | |
deshalb bewusst dafür entschieden haben, Menschen in dieser Situation zu | |
helfen. Sie finden keine Nachfolger*innen, weil bei jüngeren Ärzt*innen | |
und Studierenden das Bewusstsein dafür fehlt, dass es sich beim | |
Schwangerschaftsabbruch um eine medizinische Notwendigkeit handelt. | |
Außerdem haben viele Angst vor der Auseinandersetzung mit selbsternannten | |
Lebensschützer*innen, die Ärzt*innen und Patient*innen im Internet | |
nachstellen und vor Praxen belästigen. | |
Hinzu kommen Klinik-Fusionen und -übernahmen durch konfessionelle Träger | |
wie derzeit in Flensburg, wo eine evangelische und eine katholische Klinik | |
zusammengehen. Die katholische Kirche lehnt Schwangerschaftsabbrüche | |
grundsätzlich ab, [4][ein Arbeitskreis sucht derzeit nach Lösungen], einen | |
Ersatz zu schaffen, wenn ab dem Jahr 2023 die Fusion vollzogen ist. | |
Ähnlich ist es in Nordhorn direkt an der niederländischen Grenze gelaufen, | |
dort fusionierten 2007 eine kommunale und eine katholische Klinik. Oder im | |
niedersächsischen Schaumburg. Dort war vor fünf Jahren bekannt geworden, | |
dass der evangelikale Agaplesion-Konzern, der die kommunalen Kliniken | |
übernommen hatte, [5][keine Abtreibungen durchführen würde]. Ende 2017 | |
eröffnete der Neubau, viele Frauen aus dem Landkreis hatten sich dafür | |
eingesetzt, dass ein externes Ärzteteam in den Klinikräumen den Eingriff | |
durchführen würde. | |
Darunter befand sich auch Heidemarie Hanauske, Geschäftsführerin der | |
Arbeiterwohlfahrt im Landkreis Schaumburg, die dort die gesetzlich | |
vorgeschriebenen Schwangerschaftskonfliktberatungen anbietet. Sie hat sich | |
einen vorsichtig formulierten Satz zurecht gelegt, weil sie immer noch die | |
Hoffnung hat, dass sich die Situation verbessert. „Die Rahmenbedingungen im | |
Klinikum sind für die Frauen und die kooperierende Praxis, die die Abbrüche | |
vornimmt, sehr schwierig.“ So schwierig, dass viele in eine gynäkologische | |
Praxis außerhalb des Landkreises fahren würden. | |
## Shuttle-Service zur Abtreibung | |
Manchmal verabschieden sich auch säkulare Kliniken aus der Versorgung, wie | |
in Cuxhaven vor über einem Jahr. Häufig steckt dahinter ein Chefarzt, der | |
seiner Abteilung Schwangerschaftsabbrüche verbietet wie i[6][m Jahr 2016 im | |
wendländischen Dannenberg.] | |
Den eingangs erwähnten Shuttle-Service gibt es für Frauen aus Bremerhaven | |
und Umgebung. Dort hatte im Dezember vergangenen Jahres [7][der letzte Arzt | |
seine Praxis aufgegeben]; die kommunale Klinik macht nur vereinzelt | |
Abbrüche. Seitdem müssen Frauen 130 Kilometer nach Hamburg oder 65 | |
Kilometer nach Bremen fahren. | |
Das Abtreibungs-Taxi brauchen viele, weil sie kein Geld für den Zug haben, | |
sich nicht zutrauen, die Strecke mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu | |
bewältigen. Oder weil sie nach einer Vollnarkose nicht allein fahren | |
dürfen, aber niemanden in ihre Pläne einweihen können. | |
Ein Paar aus einem Bremer Vorort hatte nach einem Medienbericht | |
entschieden, in diesen Fällen zu helfen. Mit einer kostenlosen Autofahrt | |
oder der Übernahme des Zugtickets. Die taz hat mit den beiden gesprochen, | |
aber öffentlich äußern können sie sich nicht. | |
Ihr Handeln, das sie mit einem Verantwortungsgefühl für Menschen in Not | |
begründen, ist, wie alles, was das Thema berührt, ein juristischer | |
Graubereich. [8][Sie könnten nach Paragraf 219a], der Werbung für und | |
Informationen über den Schwangerschaftsabbruch verbietet, angezeigt und im | |
schlimmsten Fall verurteilt werden. | |
Und sie müssten mit Anfeindungen und Angriffen von Personen rechnen, die | |
Frauen ein Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper absprechen – weil | |
sie das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines Embryos oder Fötus höher | |
werten. [9][Der Abtreibungsparagraf 218], der Schwangerschaftsabbrüche als | |
Tötungsdelikte in einer Liga mit Mord und Totschlag brandmarkt, macht es | |
ihnen leicht. | |
## Keine Aussicht auf Besserung | |
Es sind keine vereinzelten Spinner, die so denken. Vielleicht ist es nicht | |
mehr die Mehrheit der Gesellschaft, weil das Thema seit Ende 2017 [10][dank | |
der Gießener Ärztin Kristina Hänel] und ihrer Unterstützer*innen | |
wieder auf der Tagesordnung ist und vor allem Jüngere das geltende Recht | |
zunehmend kritisch sehen. Aber deren einflussreichster Teil. | |
Denn im Jahr 2021, [11][genau 150 Jahre nach Inkrafttreten des Paragrafen | |
218], gibt es kaum Aussichten darauf, dass der Gesetzgeber das | |
Abtreibungsrecht liberalisiert – und Frauen damit ein Recht einräumt, ohne | |
Bevormundung und Strafandrohung darüber zu entscheiden, ob sie eine | |
Schwangerschaft austragen wollen oder nicht. | |
Vor allem CDU und FDP halten eisern an Verbot und Zwangsberatung fest, wie | |
eine Debatte über das Thema im Deutschen Bundestag Anfang März zeigte. Die | |
Redebeiträge der Abgeordneten von CDU, CSU und FDP unterschieden sich zwar | |
von denen der AfD im Ton – nicht aber im Inhalt. | |
Sie alle eint die Vorstellung, dass die Hürden für einen | |
Schwangerschaftsabbruch so hoch wie möglich gelegt werden müssen– um zu | |
verhindern, dass Frauen „ohne jede Einschränkung bis zur Geburt“ | |
Schwangerschaften abbrechen, wie es die FDP-Rednerin und der CSU-Redner | |
behaupteten. Nachweise für diese These gibt es nicht. Internationale | |
Studien sprechen dafür, dass ein rigides Recht eher die Fallzahlen | |
ansteigen lässt. | |
Dieses Nicht-Handeln auf Bundesebene hat konkrete Auswirkungen auf die | |
Handlungsmöglichkeiten vor Ort. Es gibt im Norden durchaus Politiker*innen, | |
die sich der Verantwortung stellen und sich nicht wegducken. Doch sie | |
können nicht viel mehr tun, als sich wie in Flensburg und Bremerhaven an | |
runden Tischen zu treffen – und zu hoffen, dass sich doch noch ein*e | |
Mediziner*in breit schlagen lässt, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten. | |
## Straftat kann keine Kassenleistung sein | |
Denn der Strafrechtsparagraf 218 verhindert die staatliche Steuerung des | |
Angebots. Weil eine Straftat keine Kassenleistung sein kann, können | |
Kliniken nicht verpflichtet werden, einen Sicherstellungsauftrag zu | |
erfüllen wie bei anderen medizinischen Eingriffen. Erschwerend kommt hinzu, | |
dass im Schwangerschaftskonfliktgesetz extra festgehalten ist, dass niemand | |
verpflichtet ist, „an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken“. | |
Viele Bemühungen zielen daher darauf, beim ärztlichen Nachwuchs anzusetzen. | |
Aber auch das ist zum Scheitern verurteilt, wie das Bundesland Bremen | |
erfahren hat. Das wollte ein eigenes Fortbildungsprogramm zu | |
Abtreibungsmethoden auflegen und musste im Februar mitteilen, dass das | |
nicht geht. Zudem liegt die ärztliche Weiterbildung in den Händen der | |
Ärztekammern, für die universitäre Ausbildung sind die Universitäten | |
zuständig. | |
Andere Bundesländer machen es sich leichter: Sie leugnen das Problem von | |
vornherein. So war die Versorgung von ungewollt Schwangeren in | |
Niedersachsens Westen immer schon miserabel, aber bis heute gibt es im oder | |
aus dem Emsland und der Grafschaft Bentheim keine Mandatsträger*innen, die | |
sich des Problems annehmen. | |
## Länder erkennen keine Unterversorgung | |
Auch die Landesregierung ist untätig. Seit vier Jahren fragt die taz | |
regelmäßig das Gesundheits- und Sozialministerium, was es dafür zu tun | |
gedenkt, dass die Wege kürzer werden. Ebenso regelmäßig lautet die Antwort: | |
„Dem Ministerium liegen keine Informationen über Versorgungslücken im Land | |
Niedersachsen vor.“ So ähnlich lautete die Antwort der | |
schleswig-holsteinischen Landesregierung auf eine SPD-Anfrage im Oktober: | |
Es lägen „zum jetzigen Zeitpunkt keine Hinweise für eine Unterversorgung“ | |
vor. Beide Länder werden von der CDU mitregiert. | |
Dabei haben die Ministerien sogar recht. Denn nirgends ist definiert, wie | |
weit die Wege sein dürfen. Im Schwangerschaftskonfliktgesetz heißt es | |
lediglich: „Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot ambulanter und | |
stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen | |
sicher.“ | |
Doch was ist ausreichend? Diese Frage beantworten Landesministerien gern | |
mit dem Verweis auf zwei Sätze aus einem Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993: „Zum anderen kann es in einer | |
solchen Situation auch der Schwangeren eine Hilfe in der Not sein, wenn sie | |
für einen ersten Arztbesuch die An- und Rückreise – auch mit öffentlichen | |
Verkehrsmitteln – an einem Tag bewältigen kann. Es wird ihr leichter, die | |
Betreuung eigener Kinder während ihrer Abwesenheit zu regeln; der Arbeit | |
braucht sie nur für eine relativ kurze Zeit fernzubleiben.“ | |
Nun sind es zwar meistens mindestens zwei Arztbesuche, die anstehen, einer | |
für die Aufklärung, einer für den Eingriff. Und Betreuung für jüngere | |
Kleinkinder zu finden ist nie leicht, erst recht wenn niemand von der Reise | |
wissen darf. Aber vielleicht muss man diese Sätze vor dem Hintergrund | |
lesen, dass zum Zeitpunkt des Urteils viele Frauen nach Holland fuhren – da | |
war die Organisation noch umständlicher als heute. | |
18 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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