# taz.de -- Diskussion um Paragraf 218: Nachfolge ungeklärt | |
> Frauen, die ungewollt schwanger sind, finden in Deutschland immer | |
> seltener Mediziner, die Abtreibungen durchführen. Eine Ärztin will das | |
> ändern. | |
Bild: Abtreibungsgegner beim „Marsch für das Leben“ in Berlin | |
MÜNSTER/BREMEN taz | Noch zwei Monate wird er es machen. Dann hört er auf, | |
nach mehr als 30 Jahren. Als einziger Arzt der Stadt, der abtreibt. Bis | |
jetzt hat Wolfgang Burkart, 68, niemanden in Münster gefunden, der ihm | |
nachfolgt. An einem Sonntag im April lässt er sich in seinem Büro | |
schnaufend in den Schreibtischstuhl fallen. „Tja“, sagt Burkart und schiebt | |
seinen Körper an den Schreibtisch heran, „will sich eben niemand die Finger | |
schmutzig machen.“ | |
Auch er selbst lange nicht. „Bin da reingeschlittert, nech.“ Burkart | |
schiebt dieses Füllwort, wie so oft, nach. Eine seiner früheren Hebammen | |
war schwanger geworden, ungewollt. Burkart gab ihr eine Adresse, wollte sie | |
zu dem Arzt in Dortmund schicken, zu dem er Patientinnen immer schickte. | |
„Da hat sie sich an die Stirn getippt, gesagt, Burkart, du spinnst wohl, du | |
bist mein Arzt, du operierst, und ich weiß, dass du das kannst.“ Burkarts | |
Augen suchen etwas, an dem sie sich festhalten können, bis sie eine Packung | |
Taschentücher finden. „Und da hatte sie natürlich komplett recht.“ 1981 s… | |
er noch eine Frau sterben, die sich Seifenlauge in die Gebärmutter | |
gespritzt hatte. „Ist von innen verblutet“, knurrt er. Und dann: „Es war | |
für mich ein Prozess, zu begreifen, Schwangerschaftsabbrüche wird es immer | |
geben.“ | |
[1][Doch immer weniger Ärztinnen und Ärzte in Deutschland führen sie | |
durch.] Wie das Statistische Bundesamt auf taz-Anfrage mitteilt, ist die | |
Zahl in den vergangenen 15 Jahren um mehr als 40 Prozent gesunken. 2003 | |
waren es noch 2.050 Einrichtungen, die dem Statistischen Bundesamt Abbrüche | |
gemeldet haben, im dritten Quartal 2018 nur noch 1.173. | |
## Bis zu 150 Kilometer Anfahrt | |
In Trier müssen ungewollt Schwangere mehr als 100 Kilometer bis ins | |
Saarland fahren, um eine Abtreibung zu bekommen. Im hessischen Fulda führt | |
seit Jahren niemand Schwangerschaftsabbrüche durch, auch hier fahren die | |
Frauen 80 bis 100 Kilometer weit. In Niedersachsen sind es je nach Region | |
bis zu 150 Kilometer. In ländlichen und katholischen Gegenden, in | |
Niederbayern etwa, ist die Lage noch dramatischer. | |
Seit Jahren weisen die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen ihre | |
Landesregierungen und Gesundheitsministerien auf diesen Mangel hin. Die | |
jedoch reagieren meist nicht einmal. Dabei müssen die Länder nach dem | |
Schwangerschaftskonfliktgesetz ein ausreichendes Angebot an Praxen und | |
Kliniken für Schwangerschaftsabbrüche sicherstellen. | |
Einige Ärzt*innen übernehmen Abtreibungen nur für ihre eigenen | |
Patientinnen. Andere machen ausschließlich medikamentöse Abbrüche, die nur | |
bis zur 9. Woche nach dem Beginn der letzten Regel möglich sind. Wieder | |
andere weigern sich, operative Abtreibungen bis zur 12. Woche vorzunehmen. | |
Dadurch sinkt die Zahl der infrage kommenden Ärzt*innen weiter, und die | |
Frauen erhalten ihren Termin, wenn überhaupt, immer später. | |
## 140 Abtreibungen im Quartal | |
Warum ist das so, was sind die Geschichten hinter den Zahlen? | |
„Es will sich niemand die Finger schmutzig machen, nech?“, hatte Burkart | |
gesagt. Man müsse damit in Berührung kommen, sonst fange man nicht an. So | |
wie er selbst wegen seiner Hebamme. Danach hat er auch Abtreibungen für | |
seine eigenen Patientinnen gemacht. Und schließlich hätten Kollegen ihre | |
betroffenen Frauen zu ihm, zum Burkart, geschickt. „Plötzlich hatte ich | |
nicht mehr drei und sieben Abbrüche im Quartal, sondern 140.“ | |
Früher gab es mehrere wie ihn: Ärzte, die „reingeschlittert“ sind, die es | |
einfach gemacht haben. Aus Pragmatismus, ohne sich politisch zu | |
positionieren. Und es gab die anderen, die Idealisten, die es machen | |
wollten. | |
Wie die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel, [2][die berühmt | |
wurde, weil sie auf ihrer Website darüber informiert, dass sie | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführt], und deshalb zu einer Geldstrafe von | |
6.000 Euro verurteilt wurde. Verurteilt nach Paragraf 219a, der Werbung für | |
einen Schwangerschaftsabbruch verbietet, aber auch dann greift, wenn | |
Ärzt*innen nur sachlich über ihr Angebot informieren. | |
## Immer noch illegal | |
Auch der Schwangerschaftsabbruch an sich ist nach Paragraf 218 des | |
Strafgesetzbuchs noch immer illegal und kann mit einer Freiheitsstrafe von | |
bis zu drei Jahren geahndet werden. Er bleibt jedoch straffrei, wenn | |
ungewollt Schwangere sich haben beraten und drei Tage Bedenkzeit haben | |
verstreichen lassen und wenn der Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach | |
der Empfängnis von einem Arzt vorgenommen wird. | |
„Man spürt regelrecht, wie die Politik sich gewunden hat. Wie sie nicht | |
zugeben konnte, dass es den Schwangerschaftsabbruch braucht. Das Verbot | |
sollte unbedingt im Gesetz stehen.“ Was aus Burkarts Mund in den weißen | |
Schnauzbart hineinplätschert, ist nicht immer einfach zu verstehen. | |
„Es wäre viel klüger gewesen, zu sagen, der gewollte und von einem Doktor | |
vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist bis zur 14. Woche erlaubt, und | |
alle anderen Fälle sind verboten. Er wäre legalisiert, eine Frau bräuchte | |
sich nicht zu schämen, und ein Doktor müsste keine Angst vorm Gefängnis | |
haben.“ | |
Zwar steigt die absolute Zahl von Ärzt*innen in Deutschland immerfort, | |
gleichzeitig nimmt in einer Gesellschaft des langen Lebens aber auch der | |
Behandlungsbedarf zu. Insgesamt gibt es zu wenige Mediziner*innen. Wenn die | |
Ärzt*innen aus der Babyboomergeneration nach und nach in Rente gehen, | |
verschärft sich dieser Mangel noch. | |
Nach Ansicht des Marburger Bunds, dem Verband der angestellten Ärzte, setzt | |
sich ein weiterer Trend fort: Ärzt*innen lassen sich immer seltener nieder, | |
sondern arbeiten als Angestellte in Kliniken, großen Praxen und | |
medizinischen Versorgungszentren. Dort entscheidet dann der Chefarzt, ob | |
abgetrieben wird oder nicht. | |
## „Moralischer Zeigefinger“ | |
Früher lohnte sich der Schwangerschaftsabbruch zumindest finanziell noch | |
einigermaßen. Als Burkart anfing, bekam er für einen Abbruch 360 D-Mark, | |
heute sind es noch 112 Euro. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an das | |
ambulante Operieren und die Kosten enorm. Abgesehen davon aber hat sich | |
noch etwas verändert, sagt Burkart. | |
Er spricht vom „moralischen Zeigefinger der Gesellschaft“, und die | |
Schnauzbarthaare flattern in der Atemluft, die er dabei ausstößt, wie eine | |
Girlande im Wind. „100 Prozent der Frauen, die zu mir kommen, haben | |
Vorurteile und Schuldgefühle. Sie glauben, danach nicht mehr schwanger | |
werden zu können, sie schämen sich, dass ihnen ‚so etwas‘ passiert ist.“ | |
Burkart schüttelt den Kopf. „Ich habe alle Frauen dabei, von 12 bis 54, von | |
religiös bis atheistisch, von unverheiratet bis 5-fach-Mutter, und sie | |
kommen alle mit den gleichen Vorbehalten.“ Im Juni wird Burkart aufhören. | |
Und weiß nicht, wie es für ungewollt Schwangere in Münster weitergeht. | |
An einem heißen Tag Ende August zieht Svenja Addicks ihre Knie zu sich | |
heran, stellt die nackten Füße auf den Sessel, sagt: „Morgen lerne ich | |
Wolfgang Burkart kennen.“ Sie sitzt in dem Zimmer einer Mitbewohnerin, das | |
gerade frei ist, so etwas passiert in einer 9er-WG. Svenja Addicks ist | |
nicht der wirkliche Name der jungen Frau in dieser Geschichte. | |
Addicks hat lange mit sich gerungen, dann aber entschieden, dass ihr | |
richtiger Name nicht erwähnt werden soll, der taz ist er aber bekannt. Sie | |
rechnet mit Anfeindungen, mit Hass, der ihre sonstige politische Arbeit | |
beeinträchtigen würde. Denn Svenja Addicks, 29, ist Ärztin – und will | |
Abtreibungen machen. Die Not ist groß, nicht nur in Münster, sondern auch | |
in Bremen, wo sie wohnt. Dort betreibt Pro Familia eines von vier | |
medizinischen Zentren in Deutschland. 80 Prozent aller Abtreibungen in | |
Bremen werden dort durchgeführt. | |
## Als die Holländer wegblieben | |
Jahrzehntelang arbeitete das Zentrum mit Ärzten aus den Niederlanden | |
zusammen. Doch auch die bleiben mittlerweile lieber dort, weil das | |
gesellschaftliche Klima besser ist und die Bezahlung auch. [3][Als sie | |
niemanden für das Bremer Zentrum fanden], schrieb die Geschäftsführerin von | |
Pro Familia mehr als 700 Ärzt*innen an, keiner von ihnen antwortete darauf. | |
Sie schrieb auch an den Verteiler der „Kritischen Mediziner*innen“. Und | |
diese Mail las Svenja Addicks. | |
Wenige Wochen zuvor hatte Addicks eine Veranstaltung der Gruppe in | |
Frankfurt besucht und dort Kristina Hänel reden gehört. „Sie hat von der | |
Unterversorgung in Deutschland gesprochen, auf uns eingewirkt, es zu | |
lernen, Tutor*innen zu suchen, die es uns beibringen“, erzählt Addicks. Als | |
die Mail von Pro Familia bei ihr einging, schrieb sie zurück. | |
„Und jetzt gibt es einen Plan“, sagt sie. Zwei Ärzte bilden Addicks aus. | |
Sie überbrücken so den schlimmsten Versorgungsengpass in Bremen und bringen | |
gleichzeitig einer jungen Ärztin bei, wie es geht. Einer der Ärzte ist | |
Wolfgang Burkart aus Münster. Er ist mittlerweile Rentner, zweimal in der | |
Woche fährt er die 170 Kilometer bis nach Bremen, um dort Nachwuchsarbeit | |
zu machen. | |
Bei ihm in Münster hat sich noch niemand gefunden, der Abtreibungen | |
durchführt. Der andere Arzt, der Addicks ausbildet, ist Dirk Boumann, ein | |
Holländer, der jahrzehntelang im Bremer Zentrum gearbeitet hat und auch aus | |
der Rente zurückkehrte. Ohne die beiden hätte der Betrieb dort eingestellt | |
werden müssen. | |
Addicks will den Abortion Doctor machen; hat sich die Ausbildung, die es in | |
dieser Form nur in den Niederlanden gibt, selbst organisiert. Ein | |
standardisierter OP-Katalog sieht vor, wie viele Eingriffe ein | |
Abtreibungsarzt in welchen Schwangerschaftswochen durchgeführt haben muss, | |
bevor er schließlich eine Prüfung ablegt. Zwei Tage die Woche ist Addicks | |
nun im Bremer Zentrum tätig, macht bis zu 15 Abtreibungen am Tag. | |
## Im Studium wurde Abtreibung nicht gelehrt | |
Ab 2009 studierte Addicks in Lübeck Medizin. „Da war der | |
Schwangerschaftsabbruch praktisch kein Thema.“ Mal eine Folie zur | |
rechtlichen Situation, mehr nicht. „Das ist doch verrückt, ich studiere | |
Medizin und nicht Jura.“ Will sie sich über die medizinischen Methoden | |
informieren, geht das nicht auf Deutsch: „Es existieren überhaupt keine | |
medizinischen Leitlinien zum Schwangerschaftsabbruch. Normalerweise gibt es | |
Vorgaben für jeden Eingriff, nur dafür nicht.“ | |
Bereits 2014 hatte Pro Familia das in einem Rundbrief kritisiert. Addicks | |
ist überzeugt: „Das hängt damit zusammen, dass der Schwangerschaftsabbruch | |
illegal ist. Das schränkt die Forschung ein, die Ausbildung, die | |
Weiterbildung.“ | |
Deutsche Mediziner*innen müssen auf englischsprachige Leitlinien | |
gynäkologischer Fachgesellschaften und der WHO zurückgreifen, die aber | |
nicht alle vollständig übertragbar sind. Sogar in der gynäkologischen | |
Weiterbildung hat der Schwangerschaftsabbruch nur wenig Platz. Der | |
medikamentöse Schwangerschaftsabbruch etwa wird in allen 17 | |
Weiterbildungsinhalten der Landesärztekammern nicht erwähnt. Wie die | |
Vakuumaspiration, die Absaugmethode. | |
„Die holländischen Ärzte bekommen deshalb regelmäßig die Krise“, sagt | |
Svenja Addicks. Seit den 1980er Jahren geht aus englischsprachiger | |
Literatur hervor, dass die Absaugmethode die für die Gebärmutter wesentlich | |
schonendere Variante ist. „In Deutschland ist sie immer noch nicht der | |
offizielle Standard.“ Stattdessen wird bei knapp 15 Prozent der Abbrüche | |
noch immer ausgeschabt. | |
Als die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer im vergangenen | |
November novelliert und vom Deutschen Ärztetag beschlossen wurde, änderte | |
man an den Passagen zum Schwangerschaftsabbruch – nichts. Auf Nachfrage der | |
taz erklärt ein Sprecher der Bundesärztekammer, alle Möglichkeiten des | |
Schwangerschaftsabbruchs seien in den Weiterbildungsinhalt „Beratung bei | |
Schwangerschaftskonflikten“ einzugliedern. Es sei aber geplant, die | |
Weiterbildungsinhalte in einem „fachlich empfohlenen Weiterbildungsplan“ zu | |
spezifizieren. | |
## Chefärzte entscheiden | |
In Deutschland ist es jedem Arzt und jeder Ärztin freigestellt, ob sie | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht, auch jedem Gynäkologen. | |
„Zu einer illegalen Leistung kann niemand gezwungen werden“, sagt Addicks. | |
„Das gibt es nur beim Schwangerschaftsabbruch.“ Kann ein Arzt | |
Blinddarmentfernungen rundheraus ablehnen? Natürlich nicht. „Das muss man | |
sich mal vorstellen“, sagt Addicks und setzt ihre Füße auf den Boden | |
zurück, „Chefärzte von Unikliniken können entscheiden, prinzipiell keine | |
Abbrüche zu machen.“ | |
Ein Piepsen von der Tür. „Kassette zu Ende“, lispelt Addicks’ dreijähri… | |
Tochter. Addicks geht hinaus, um auf die andere Seite von „Oh, wie schön | |
ist Panama“ zu wechseln. Als sie wieder sitzt, sagt sie: „Seit ich eine | |
Tochter habe, weiß ich noch viel besser, was für eine lebensverändernde | |
Entscheidung das ist. Wenn eine Frau die nicht selbstbestimmt treffen kann, | |
gibt es niemals Gleichberechtigung.“ | |
Doch empfinden das die meisten Menschen so wie Addicks? In einer Umfrage | |
des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften sprachen sich 2012 gerade | |
mal 41 Prozent der Befragten dafür aus, dass ein Schwangerschaftsabbruch | |
auf Wunsch der Frau gesetzlich möglich sein sollte, unabhängig von | |
sonstigen Gründen. 59 Prozent waren dagegen. | |
Das Marktforschungsunternehmen Ipsos führte im Jahr 2016 eine europaweite | |
Onlinestudie zu Abtreibungen durch, 50 Prozent in Deutschland stimmten für | |
die Entscheidungsfreiheit der Frau. In Spanien waren es 59, in Frankreich | |
69, in Schweden 84 Prozent. Nur in Polen war der Anteil mit 33 Prozent noch | |
geringer als in Deutschland. | |
Für angehende Ärzt*innen kommt also reichlich viel zusammen: Sie wurden | |
nicht vernünftig darin ausgebildet, Abtreibungen zu machen. Absolvieren sie | |
ihre Weiterbildung in einer Klinik mit kirchlichem Träger, kommen sie | |
womöglich nie mit Schwangerschaftsabbrüchen in Berührung. Finanziell lohnt | |
es sich längst nicht mehr. Karriere machen Abtreibungsärzte nicht, der | |
Makel bleibt haften, auch innerhalb der Ärzteschaft. | |
## Abtreibungsgegner machen mobil | |
Und auch die Gesellschaft honoriert es nicht. Der von links angestoßene | |
Wertewandel seit Ende der 1960er Jahre drückte sich lange in feministischen | |
Initiativen aus, das Recht auf Abtreibung gehörte immer dazu. Doch seit | |
diesen sechziger Jahren ist der Stimmenanteil rechtspopulistischer Parteien | |
in Europa von unter 5 auf durchschnittlich 14 Prozent gestiegen. Als | |
Abwehrreaktion, als „kultureller Backlash“ gegen von links forcierte Werte | |
– auch gegen freie Abtreibungen. Abtreibungsgegner sind weltweit vernetzt, | |
von den USA über Russland bis nach Europa. | |
In Deutschland stopfen sie Plastikföten in Briefkästen von Praxen. | |
Systematisch überziehen sie Ärzt*innen mit Anzeigen nach Paragraf 219a und | |
führen eigene Listen von „Tötungsspezialisten“. Sie spazieren mit weißen | |
Kreuzen durch Städte, halten Plakate mit zerstückelten Föten in die Höhe, | |
vergleichen Abtreibungen mit dem Holocaust. | |
Einmal im Monat standen sie auch vor der Praxis von Wolfgang Burkart in | |
Münster, anfangs direkt vor seiner Tür. Bedrängten alle, die ein und aus | |
gingen. Sprachen sie an, machten ihnen Vorwürfe. Burkart rief die Polizei, | |
die verbannte die Gruppe auf die gegenüber liegende Promenade. Dort standen | |
sie dann und machten weiter. | |
Im Dezember lernt Svenja Addicks in Bremen die 28-jährige Medizinstudentin | |
Valerie Graf kennen; auch deren Name ist eigentlich ein anderer. Die beiden | |
Frauen kommen ins Gespräch. Valerie erzählt Svenja, sie könne sich | |
vorstellen, später in der Gynäkologie zu arbeiten. Schwangerschaften | |
abzubrechen, nein, das nicht. Svenja ist entsetzt. Und Valerie findet es | |
krass, dass Svenja seit nunmehr vier Monaten nichts anderes macht. | |
„Ich habe nicht Medizin studiert“, sagt Valerie Graf einige Wochen später | |
am Telefon, „um nur mit dem Töten zu tun haben.“ Vor ihrem Medizinstudium | |
an der Uni Witten/Herdecke im Ruhrgebiet hat Graf eine Ausbildung zur | |
Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert, währenddessen auch | |
Abtreibungen erlebt. Privat begleitet es sie länger. „Mehrere Freundinnen | |
von mir hatten Abbrüche. Eine hat lange gebraucht, um damit | |
fertigzuwerden.“ | |
## „Ich möchte nicht die Henkerin sein“ | |
Vor jedem Satz, den sie sagt, überlegt Graf. Sie wählt ihre Worte mit | |
Bedacht und scheint sie, wenn sie spricht, erneut zu hinterfragen. Nur | |
selten findet sie drastische Worte, einmal sagt sie: „Ich möchte nicht die | |
Henkerin sein.“ Graf, das ist bald zu merken, unterscheidet zwischen ihrer | |
Rolle als Frau und der als Ärztin. „Es gibt Situationen, in denen eine Frau | |
keinesfalls ein Kind möchte. Das kann ich absolut verstehen. Ich hätte | |
während des Abiturs auch keines gewollt, habe aber eben auch doppelt und | |
dreifach aufgepasst.“ | |
Sie sagt, es gebe so viele Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu | |
verhindern. Sie sagt auch, dass jeder Mensch das Recht haben muss, über | |
seinen Körper frei zu entscheiden – und relativiert den Satz gleich wieder: | |
„Selbstbestimmung ist nicht alles. Im Leben geht es um mehr, um | |
Verantwortung, Respekt vor dem Leben. Ist zum Beispiel die Karriere | |
wirklich ein Argument gegenüber einem Menschenleben?“, fragt sie und betont | |
bei dem letzten Wort jede Silbe. Sie sagt, seit dem Gespräch mit Svenja | |
habe sie viel nachgedacht. | |
Es müsse Schwangerschaftsabbrüche geben, das unterstreicht sie dann noch | |
einmal. Aber sie als Ärztin würde sie nicht machen wollen, vielleicht in | |
Ausnahmefällen. „Vielleicht, wenn ich es wirklich nachvollziehen kann bei | |
einer Patientin, die ich lange begleitet habe. Aber ich möchte nicht, dass | |
eine Frau dafür zu mir kommt, ich will nicht diejenige sein, die Leben | |
beendet. Denn das ist es, was ich tue: Ich töte.“ | |
Als Frau will sie frei über etwas entscheiden können, wofür sie als Ärztin | |
nicht die Verantwortung tragen möchte. Aber wenn letztlich niemand mehr | |
damit leben kann und jeder Arzt sein eigenes Seelenheil über das einer | |
medizinischen Notwendigkeit stellt? „Das kann ich mir eigentlich nicht | |
vorstellen.“ Wenn nun aber sie selbst keine Ausnahme ist, sondern auch | |
andere so denken? „Das wäre schlecht“, sagt Graf und schweigt eine Weile. | |
Das wäre für sie ein Argument, es vielleicht doch zu tun. | |
Ob sie mit ihrem richtigen Namen in der Geschichte auftauchen wolle? „Nein, | |
lieber nicht“, sagt sie und ruft dann plötzlich aus: „Da sieht man es: Ich | |
will das vermutlich aus dem gleichen Grund nicht, aus dem auch immer | |
weniger Ärzte Abbrüche machen wollen – dieses furchtbare gesellschaftliche | |
Tabu.“ Ob ihre Freundin nicht vielleicht auch deshalb so lange unter der | |
Abtreibung gelitten hat? Studien belegen schließlich, dass es nicht der | |
Eingriff an sich ist, der schmerzt, sondern die gesellschaftliche und | |
gesetzliche Gängelung danach. „Es ist wohl beides“, sagt Graf. | |
Es ist kurz vor Weihnachten, einige Wochen nach dem Zusammentreffen von | |
Svenja Addicks und Valerie Graf. Addicks sitzt in einem warmen | |
Besprechungsraum des medizinischen Zentrums in Bremen, das sich im | |
Untergeschoss eines stuckverzierten Altbaus befindet. | |
## 1:1-Betreuung für den Abortion Doctor | |
Sie hat die Beine unter einem offenen türkisfarbenen Kittel | |
übereinandergeschlagen, ihre Haare zu einem Dutt zurückgesteckt. Seit vier | |
Monaten lernt Addicks nun, wie man abtreibt. Schon kurz nach den ersten | |
Eingriffen, bei denen sie nur zuguckte, führte sie selbst Abbrüche durch, | |
immer unter Anleitung von Wolfgang Burkart und Dirk Boumann. „So eine | |
1:1-Betreuung gibt es sonst nirgendwo“, sagt Addicks. „Ich bin begeistert | |
von der Arbeit, dem Team, den Gesprächen mit den Frauen.“ Sie hat | |
Weiterbildungen zu Verhütungsberatung besucht, lernt weit mehr als nur den | |
Schwangerschaftsabbruch an sich. | |
Eine Mitarbeiterin kommt herein, steuert auf Addicks zu. „Eine Frau ist | |
jetzt da“, sagt sie. Addicks erhebt sich schwungvoll und geht hinaus. | |
Dirk Boumann, der zweite Ausbilder, der ihr bis eben gegenübersaß, blickt | |
ihr nach, wohlwollend, sagt dann: „Svenja ist vorsichtig und gleichzeitig | |
mutig, es macht Spaß mit ihr.“ Boumann hat den Abortion Doctor als | |
Curriculum in den Niederlanden einst mitinitiiert. Als | |
Schwangerschaftsabbrüche noch illegal waren, gründete er mit anderen | |
Ärzt*innen, die abtrieben, eine Genossenschaft. | |
Sie organisierten sich, lieferten wissenschaftliche Belege für ihre Arbeit, | |
reichten sie an die Politik weiter. Heute kann sich jeder Arzt in Holland | |
zum Abortion Doctor weiterbilden lassen. „Das ist einmalig“, sagt er. | |
„Zwischen 30 und 40 Leute sitzen beisammen, lernen gemeinsam, wie man | |
abtreibt.“ Das verhindert Versorgungsengpässe wie in Deutschland. | |
Einst arbeitete Boumann in einer in den Niederlanden gängigen Abortion | |
Clinic in Groningen, bevor er ins Medizinische Zentrum von Pro Familia nach | |
Rüsselsheim wechselte. Svenja Addicks ist nicht die Erste, die er | |
ausbildet. Seine prominenteste Schülerin von damals: Kristina Hänel. Sie | |
sind so wenige, dass sie sich alle untereinander kennen. „Dabei wäre es so | |
wichtig, dass jeder Mediziner in seiner Ausbildung sich mal anguckt, was | |
wir machen. Man kann nicht nur Kinder auf die Welt holen“, sagt Boumann. | |
Der Druck der gut organisierten Abtreibungsgegner nehme sogar im liberalen | |
Holland zu, berichtet der 70-Jährige. „Niemand weiß, was von denen noch zu | |
erwarten ist.“ Mit seinem weißen Lockenschopf, dem breiten Kiefer und einer | |
hochstehenden Nase sieht Boumann aus wie ein ältlicher Rockstar. Einer, dem | |
sie nichts anhaben können, diese Leute. Aber Dirk Boumann sagt: „Ein Kampf | |
wie dieser ist nie zu Ende gekämpft. Er bleibt immer in Bewegung.“ | |
An Boumanns rechter Seite sitzt Sabine Ruppert, Krankenschwester im | |
Medizinischen Zentrum, „Abbruchschwester“, wie sie selbst, mit den Fingern | |
Anführungszeichen setzend, sagt. „Svenja ist die Zukunft unseres Zentrums. | |
Eine junge Ärztin, die sich so positioniert und engagiert, ist gerade im | |
Moment selten.“ Auch weil sich am Paragrafen 219a wohl nichts ändern wird. | |
Nachdem SPD und CDU ein Dreivierteljahr darüber diskutiert hatten, stellten | |
sie im Dezember ein Eckpunktepapier vor, das den 219a, so wie er ist, | |
erhalten will. | |
## Nur die Städtischen Kliniken in Bremen | |
Gleichzeitig soll es offizielle Listen geben, auf denen die Länder die | |
Einrichtungen aufführen, die Abbrüche durchführen. Noch im Januar soll ein | |
Gesetzentwurf folgen. In Bremen wollten sich von 130 angefragten Praxen und | |
Kliniken nur die Städtischen Kliniken auf die Liste setzen lassen. „Ergo: | |
Bringt überhaupt nichts“, sagt Ruppert. „Die Ärzte haben dieselbe Angst v… | |
Anzeigen wie vorher.“ | |
Svenja Addicks kehrt zurück. „Und?“, fragt Boumann, Svenja lächelt. „Ei… | |
fertig und eine für dich.“ Sie reicht ihm Unterlagen, und Boumann geht | |
hinaus. | |
Hat die Arbeit sie verändert? „Ich bin emotionaler geworden“, räumt sie | |
ein, „früher habe ich Abtreibungsgegner als Irre abgetan. Heute machen sie | |
mich wütend. Es heißt immer: Kannst du dir vorstellen, ungeborenes Leben zu | |
töten? Niemand fragt: Möchtest du das Selbstbestimmungsrecht der Frau | |
stärken?“ | |
Boumann, Burkart und auch Kristina Hänel dagegen kommen aus einer | |
Generation, in der das Recht auf Abtreibung als ein Frauenrecht überhaupt | |
erst erkämpft wurde. „Heute halten es viele jüngere Ärzte für eine | |
Selbstverständlichkeit, dass es das gibt, und bieten es deshalb selbst | |
nicht an“, sagt Ruppert. Andere hätten in der Gynäkologie so viel mit | |
Kinderwunschbehandlungen, Fehlgeburten und langen Leidensgeschichten zu | |
tun, dass sie wohl deshalb weniger Verständnis für Abtreibungen hätten. | |
„Dabei hat das alles nichts miteinander zu tun“, sagt Addicks. „Viele Är… | |
möchten eine schöne Arbeit machen, nicht unbedingt eine politische.“ | |
Ruppert sagt: „Sie wollen Karriere machen, eine Möglichkeit, die es für | |
einen Abbrucharzt nicht gibt.“ Addicks: „Gerade in Gesundheitsfragen | |
bekommt heute jeder eingetrichtert, für sich selbst verantwortlich zu sein, | |
sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben. Und dazu gehört auch: gefälligst | |
vernünftig zu verhüten.“ Ruppert nickt: „Dann heißt es, wer das heute ni… | |
schafft, sei selbst schuld. Dafür wollen viele Ärzte nicht mehr ihren Ruf | |
riskieren.“ „Die haben dann das Teenagermädel im Kopf, das nicht aufgepasst | |
hat“, sagt Addicks, „dabei ist das der seltenste Fall. Aber wenn eine Frau | |
ihr drittes Kind noch stillt, verstehe ich, wenn sie kein viertes will.“ | |
## Schwangerschaftsabbruch in den Lehrplan | |
Als im Frühjahr Wolfgang Burkarts Berufsende absehbar war, setzte Pro | |
Familia Münster mehrere Hilferufe ab. Organisierte Veranstaltungen, auf | |
denen auch Burkart sprach. Ein 82-Jähriger reiste an, um den ungewollt | |
Schwangeren zu helfen. Dann erklärten sich zwei Ärztinnen bereit, | |
Abtreibungen in ihren Praxen zu machen. | |
Junge Mediziner*innen melden sich bei Kristina Hänel, fragen, ob sie es | |
ihnen beibringen könne. Studierendengruppen und kritische | |
Mediziner*innen vernetzen sich. An der Berliner Charité haben die | |
Medical Students For Choice erreicht, dass der Schwangerschaftsabbruch | |
verstärkt in ihren Lehrplan aufgenommen wird. Und Svenja Addicks, mit 29 | |
Jahren noch ganz am Anfang ihres Berufslebens, riskiert ihren Ruf. Sie | |
macht Abtreibungen. | |
1 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] /!5487589/ | |
[2] /!5556334/ | |
[3] https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/abtreibung-aerzte-bre… | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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