# taz.de -- Schwangerschaftsabbruch nach § 218: Quer zur Wirklichkeit | |
> Seit 150 Jahren ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland strafbar. | |
> Was würde passieren, wäre der Paragraf 218 abgeschafft? | |
Bild: Internationaler Frauentag in Berlin 2018 | |
Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland nach § 218 Strafgesetzbuch | |
grundsätzlich strafbar – seit 150 Jahren ist das so. Nach der Gründung des | |
Deutschen Reichs am 15. Mai 1871 war eine Schwangere, die „ihre Frucht | |
abtreibt oder im Leib tötet“ mit Zuchthaus von bis zu fünf Jahren zu | |
belegen. Die Worte des Paragrafen sind heute andere, sie klingen | |
zeitgemäßer – allerdings nur in ihrer Form, nicht im Inhalt. Und sie stehen | |
noch immer direkt hinter Mord und Totschlag, Abtreibung ist ein „Delikt | |
gegen das Leben“. | |
Früher haben ungewollt Schwangere versucht, mit Kleiderbügeln, Stricknadeln | |
und Fahrradspeichen den Fötus aus ihrem Bauch zu kratzen. Sie haben | |
Seifenlauge, Bleichmittel, Rohrreiniger getrunken. Frauen sind verblutet, | |
erlitten Bauchfellentzündungen und Vergiftungen, sie sind gestorben, weil | |
ihnen verboten war, über ihren Körper selbst zu bestimmen. | |
In einigen Teilen der Welt passiert das noch immer. In Deutschland hat sich | |
die Lage seit der ersten Reform in Westdeutschland in den 1970ern zwar | |
verbessert – doch steht auch hier ein Gesetz im Strafgesetzbuch, das quer | |
zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vieler Frauen steht, das im Grunde | |
sagt: Wenn du schwanger bist, musst du das Kind bekommen. | |
1975 stimmte der Bundestag [1][für eine Fristenlösung], wie es sie in der | |
DDR 20 Jahre lang gab. Nach der durften Frauen in den ersten zwölf Wochen | |
der Schwangerschaft legal abtreiben. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, | |
dies sei verfassungswidrig. Das „ungeborene Leben“ habe Vorrang, auch vor | |
dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. 1976 verabschiedete der | |
Bundestag ein Indikationsmodell, ein Abbruch war demnach unter vier | |
Bedingungen legal: der kriminologischen, also nach einer Vergewaltigung, | |
der embryopathischen, wenn der Fötus eine Beeinträchtigung hat, einer | |
medizinischen, wenn die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist oder der | |
Notlagenindikation, wenn eine soziale Notlage vorlag. | |
## Die Kritik wird lauter | |
Nach der Wiedervereinigung und dem erneuten Abschmettern der | |
Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht 1993 stimmte der | |
Bundestag 1995 in nicht parteigebundener Abstimmung für die sogenannte | |
Beratungsregelung. Danach sind Schwangerschaftsabbrüche noch immer | |
rechtswidrig, sie können mit einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe von bis | |
zu drei Jahren belangt werden. Doch die Abbrüche bleiben straffrei, wenn | |
die ungewollt schwangere Person die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen | |
nach der Empfängnis von einem Arzt vornehmen, wenn sie sich beraten und | |
eine dreitägige Bedenkzeit verstreichen lässt. | |
Die kriminologische und die medizinische Indikation blieben bestehen. Die | |
Notlagenindikation fiel weg, da sie als nicht mehr nötig angesehen wurde, | |
die embryopathische Indikation wurde auf Druck von Kirchen und | |
Behindertenverbänden gestrichen. Sie argumentierten, dass eine Erlaubnis | |
zum Abbruch nur aufgrund einer Behinderung des Fötus diskriminierend sei. | |
Die aktuelle Regelung gilt als hart errungener Kompromiss, sie sei die am | |
wenigsten schlechte Lösung – und dürfe deshalb nicht wieder infrage | |
gestellt werden. So haben sogar Feministinnen lange argumentiert, doch die | |
Kritik wird immer lauter. So befand der UN-Frauenrechtsausschuss Cedaw, der | |
die Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention überwacht, zuletzt 2017, weder | |
die verpflichtende Beratung noch die dreitägige Bedenkzeit zwischen | |
Beratung und Eingriff entsprächen dem Recht auf Zugang zu sicheren und | |
diskriminierungsfreien Schwangerschaftsabbrüchen. | |
## Die negativen Folgen sind zahlreich | |
Der Staat muss eine ausreichende Versorgung an Möglichkeiten zum | |
Schwangerschaftsabbruch gewährleisten, so sieht es auch das | |
Schwangerschaftskonfliktgesetz vor. Doch die Stigmatisierung durch das | |
Strafrecht führt dazu, dass immer weniger Ärzt:innen in Deutschland | |
Abbrüche durchführen und ungewollt Schwangere in einigen Teilen | |
Deutschlands weit fahren müssen, um eine Abtreibung zu bekommen. | |
Abtreibungsgegner:innen fühlen sich indes mit ihren Anfeindungen | |
gegen Ärzt:innen und ungewollt Schwangere im Recht. | |
Abtreibungen werden weder in der medizinischen Grundausbildung noch in der | |
gynäkologischen Weiterbildung gelehrt, und Ärzt:innen wie Kristina Hänel | |
werden nach Paragraf 219 a, der „Werbung“ für Abtreibungen verbietet, mit | |
Klagen überzogen, wenn sie nur sachlich darüber informieren. | |
[2][Die negativen Folgen des Paragrafen 218] sind so zahlreich und | |
unübersehbar, dass sich 150 Jahre nach seiner Einführung die Frage | |
aufdrängt: Wenn wir den leidigen Paragrafen abschaffen, was kommt dann? Wie | |
können Schwangerschaftsabbrüche anders geregelt werden als über das | |
Strafgesetzbuch? | |
Um darauf eine Antwort zu finden, haben wir uns den Paragrafen genau | |
angeguckt und seine verschiedenen Abschnitte mit Ulrike Lembke besprochen. | |
Die 43-Jährige ist Professorin für Öffentliches Recht an der | |
Humboldt-Universität Berlin. Wir wollten von ihr wissen, welche unserer | |
Überlegungen juristisch umsetzbar wären, was ganz weg kann und was anders | |
geregelt werden müsste. Für die Rolle von Ärzt:innen haben wir die | |
Bundesärztekammer um eine Einschätzung gebeten, und wir haben mit Elke | |
Hannack vom CDU-Bundesvorstand gesprochen. Wie offen ist ihre Partei, über | |
das Thema Schwangerschaftsabbrüche erneut zu streiten? | |
## Austragungspflicht verstößt gegen die Menschenwürde | |
Nicht alles am Paragraf 218 ist schlecht und überflüssig. So droht er auch | |
jedem, der eine Schwangerschaft gegen den Willen der Schwangeren abbricht, | |
etwa durch Abtreibungspillen im Essen oder mit psychischer Gewalt, Strafe | |
an. Ulrike Lembke hält es für selbstverständlich, dass der Abbruch gegen | |
den Willen der Schwangeren, sei er absichtlich, billigend oder grob | |
fahrlässig, im Strafgesetzbuch bleibt, allerdings nicht im Abschnitt zu den | |
Tötungsdelikten. Sinnvoller sei er im Bereich der schweren Körperverletzung | |
oder der Straftaten gegen die Familie. | |
Wenn aber der ungewollte Abbruch einer Schwangerschaft eine schwere | |
Körperverletzung darstellt, dann müsste es die ungewollte Fortführung doch | |
auch sein? Das wäre allerdings eine grundlegend andere Annahme als die | |
heutige. | |
Lembke erläutert, dass das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das | |
Grundgesetz eine Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit | |
festgesetzt habe. So könne der Staat etwa Kinder zu ihrem eigenen Schutz | |
von den Eltern trennen und zum Beispiel durch Angehörige oder Pflegeeltern | |
versorgen lassen. Zum Schwangerschaftsabbruch passe das jedoch nicht, Fötus | |
und Schwangere ließen sich schließlich nicht einfach trennen. | |
Dieses Problem hat das Gericht mit der Austragungspflicht für die | |
Schwangere zu umgehen versucht, dabei jedoch einen „Denkfehler“ gemacht, | |
wie Lembke es nennt. Es habe „abstrakt das fötale Leben gegen die | |
Selbstbestimmung der Schwangeren“ gestellt. Stattdessen hätte es die | |
Verfassungsmäßigkeit der Austragungspflicht prüfen und deren absolute | |
Unverhältnismäßigkeit feststellen müssen: „Niemand hat ein Leistungsrecht | |
am Körper eines anderen Menschen, auch der Fötus nicht.“ Zum Beispiel wäre | |
selbst bei Lebensgefahr eine per Zwang durchgesetzte Blut- oder Organspende | |
für Angehörige in Deutschland undenkbar. | |
## Ein dickes Problem | |
Die Austragungspflicht verstoße schlicht gegen die Menschenwürde, führt die | |
Juristin weiter aus. Der Staat mache die Schwangere zum Objekt, um seine | |
Schutzpflicht zu erfüllen. In einer Rechtsordnung, welche die Würde, | |
Integrität und Autonomie auch von Frauen garantiert, sind die derzeit | |
geltenden Paragrafen 218 ff. nicht mit der Verfassung vereinbar. | |
Heißt also: Nur der Abbruch gegen den Willen der Schwangeren bliebe im | |
Strafgesetzbuch, der Rest vom § 218 würde gestrichen. Dann könnten doch | |
auch die sich anschließenden Paragrafen 218 a und 218 b gestrichen werden, | |
da sie die Bedingungen zur Straflosigkeit und Indikationsfeststellung | |
regeln, die es nicht mehr bräuchte – oder? | |
Im Prinzip ja. Solange man nicht glaubt, man habe damit alle Probleme | |
erledigt. Denn in der medizinischen Indikation (§ 218 a (2)) verbirgt sich | |
ein dickes Problem, über das die Pro-Choice-Bewegung nicht gern spricht und | |
das sich auch mit der Abschaffung des Paragrafen nicht von selbst erledigen | |
würde. Als die embryopathische Indikation 1995 gestrichen wurde, ging ein | |
Teil der Behindertenbewegung davon aus, dass sich so eine als | |
diskriminierend empfundene Praxis einschränken ließe, nämlich die | |
Abtreibung behinderter Föten nur aufgrund dieser Eigenschaft, eben | |
behindert zu sein. | |
Dies war jedoch nicht der Fall. Seitdem können Schwangerschaften weiterhin | |
legal abgebrochen werden, wenn angenommen wird, dass eine Behinderung des | |
Fötus die Schwangere unzumutbar belasten würde. Dann greift die | |
medizinische Indikation. Die Abschaffung der embryopathischen Indikation | |
hat das Problem also nur verschoben. Das Problem ist nämlich nicht die | |
Abtreibung, sondern die Annahme einer überdurchschnittlichen Belastung. | |
## Verinnerlichte Behindertenfeindlichkeit | |
Von dieser Annahme gehen auch Feministinnen oft aus. Auch wenn sie meist | |
auf die tatsächlich zu geringen Ressourcen und Hilfsmittel verweisen, um | |
diese Annahme zu begründen, setzt sich die Bewegung zu wenig mit den | |
eigenen Ängsten vor Schwäche und Abhängigkeit und der eigenen | |
verinnerlichten Behindertenfeindlichkeit auseinander, die das Leben mit | |
einem behinderten Kind als unzumutbar erscheinen lassen. | |
Ärzt:innen nehmen relativ schnell an, dass das Leben mit einem | |
behinderten Kind eine nicht zumutbare Belastung darstellt. Wenn die | |
Schwangere selbst psychische Probleme hat, depressiv ist oder suizidal, | |
gehen sie dagegen eher davon aus, dass sich dies auch anders als durch | |
einen Abbruch lösen lässt. Diese Ungleichbehandlung ist eine Folge des | |
Frauenbildes und der verbreiteten Vorstellungen über Behinderung. Das kann | |
nicht allein durch eine Abschaffung des Paragrafen 218 gelöst werden. | |
Zusätzlich sollte das Leben mit behinderten Kindern erleichtert und | |
behindertenfeindliche Vorurteile bekämpft werden. | |
Die Verlagerung in die medizinische Indikation hat auch dafür gesorgt, dass | |
solche Abbrüche nun bis zum Eintritt der Wehen möglich sind, da die | |
medizinische Indikation keine Frist hat. Der Zeitpunkt, zu dem ein zu früh | |
geborenes Kind außerhalb des Uterus lebensfähig ist, rückt aufgrund des | |
medizinischen Fortschritts immer weiter nach vorne, zurzeit ist dies ab der | |
22. Schwangerschaftswoche möglich. Das gilt aber auch für | |
Schwangerschaftsabbrüche, die in Deutschland ab der 16. | |
Schwangerschaftswoche als eingeleitete Geburten vorgenommen werden. „Die | |
Problematik der sogenannten Spätabbrüche ist tatsächlich die schwierigste | |
juristische und medizin-ethische Frage in diesem Komplex“, sagt Lembke. | |
Dass kein Mensch ein Leistungsrecht am Körper eines anderen hat, bedeute | |
nämlich auch, dass [3][die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs] nur | |
für den Zeitraum absolut ausgeschlossen sei, in dem der Fötus außerhalb der | |
Gebärmutter nicht lebensfähig ist. Das wirft die Frage auf, ob es nicht | |
doch eine Regelung geben sollte, die zwischen Abbrüchen im Frühstadium und | |
Spätabbrüchen unterscheidet. „Es braucht eine echte Neuregelung, die alle | |
sozialen, medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekte zusammenbringt“, | |
sagt Lembke, „dazu fehlt es aber noch an ernsthaften interdisziplinären | |
Verständigungen.“ | |
## Sinnvoller ohne den Strafparagrafen | |
Als ärztliche Tätigkeit und nicht unter Strafandrohung könnte die bisher im | |
Paragraf 218 c geregelte Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht neu | |
geordnet werden. Eine solche liegt vor, wenn ein Arzt eine schwangere | |
Person unzureichend berät, sie nicht über den Ablauf, die Folgen, die | |
Risiken des Schwangerschaftsabbruchs aufklärt. In der Musterberufsordnung | |
der Bundesärztekammer, die die für jede:n Ärzt:in geltenden Pflichten | |
gegenüber Patient:innen regelt, findet sich dazu schon einiges. | |
Wir fragen bei der Bundesärztekammer in Berlin nach. Pressesprecher Samir | |
Rabbata verweist auf die „seit Jahrzehnten“ andauernde „politische | |
Diskussion“ und die „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts“. Eine | |
solche „wesentliche Fragestellung“ könne „nicht in den Berufsordnungen d… | |
Landesärztekammer geregelt werden“. Ganz ausschließen will er eine solche | |
Regelung über die Standesgesetze statt über das Strafgesetz jedoch nicht. | |
„Wenn man das befürwortet“, schreibt er, müssten Änderungen „in den | |
Heilberufe- und Kammergesetzen der 16 Bundesländer getroffen werden.“ Diese | |
Gesetze fungieren als Grundlage für die Berufsordnungen – und sie zu | |
ändern, ist möglich. | |
Die Beratungspflicht vor einem Abbruch ist im Paragraf 219 Strafgesetzbuch | |
geregelt und im Schwangerschaftskonfliktgesetz präzisiert, deren | |
Formulierungen widersprechen sich allerdings. Während es im Strafgesetzbuch | |
heißt, die „Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens“ und solle | |
„die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen“, hält das | |
Schwangerschaftskonfliktgesetz fest, die Beratung sei „ergebnisoffen zu | |
führen“ und gehe „von der Verantwortung der Frau aus“. Da Beratung nur a… | |
freiwilliger Basis wirkt, könnte das Schwangerschaftskonfliktgesetz sogar | |
sinnvoller ohne den Strafparagrafen funktionieren. | |
## Große Hilfe für Beratungsstellen | |
Eine Streichung des Paragrafen wäre auch eine große Hilfe für | |
Beratungsstellen. Praxen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt | |
werden, und Beratungsstellen sind häufig Ziel von „Mahnwachen“ und | |
„Gehsteigberatungen“ von Abtreibungsgegner:innen. Obwohl der Staat | |
verpflichtet ist, den Zugang zu garantieren, werden solche Aktionen selten | |
verboten. Flächendeckende Schutzzonen einzurichten, hält Ulrike Lembke | |
jedoch nicht für realistisch, schließlich seien die jeweiligen örtlichen | |
Verhältnisse unterschiedlich und die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut. | |
Wenn Schwangerschaftsabbrüche als Gesundheitsleistungen anerkannt würden, | |
könnten solche Gehsteigbelästigungen als Ordnungswidrigkeit gefasst werden, | |
meint die Juristin. | |
Der Paragraf 219 a hat es 2017 mit dem Fall der Allgemeinmedizinerin | |
Kristina Hänel zu bundesweiter Bekanntheit gebracht. | |
Abtreibungsgegner:innen nutzen das „Werbeverbot“, um Ärzt:innen | |
anzuzeigen, auch wenn sie nur sachlich über Schwangerschaftsabbrüche | |
informieren. | |
Anfang 2019 einigte sich die Große Koalition auf einen Kompromiss: Demnach | |
dürfen Ärzt:innen und Einrichtungen jetzt zwar angeben, dass sie | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführen – mehr aber nicht. Genauere | |
Informationen, etwa zu den verschiedenen Methoden des Eingriffs, dürfen nur | |
die bereitstellen, die ihn nicht selbst vornehmen. Deshalb musste Hänel | |
Ende Januar die Information auf ihrer Webseite löschen, um nicht finanziell | |
ruiniert zu werden. Gleichzeitig hat sie Klage beim | |
Bundesverfassungsgericht eingereicht. | |
## Es braucht ein Gesetz mit dem Recht auf Abbruch | |
Kein anderes Land hat einen solchen Paragrafen im Strafgesetzbuch. | |
„Berufswidrige Werbung“ verbieten die Berufsordnungen der | |
Bundesärztekammern ohnehin, sie würden auch im Falle von „anstößiger“ | |
Werbung für Schwangerschaftsabbrüche greifen. Die ersatzlose Streichung | |
wäre das einzig richtige, um ungewollt Schwangere und Ärzt:innen vor | |
Diffamierungskampagnen zu schützen. | |
Fassen wir zusammen: Der Schwangerschaftsabbruch wäre als Frage | |
reproduktiver Gesundheit in den entsprechenden Gesetzen und Verordnungen zu | |
regeln. Im Sozialgesetzbuch sollte festgelegt werden, dass der Abbruch von | |
einer:m Ärzt:in durchgeführt, die Kosten übernommen und wie die Nachsorge | |
gestaltet werden solle. In den ärztlichen Berufsordnungen könnten die | |
Qualitätsstandards, die Durchführung, das Verbot der Werbung sowie der | |
Bereich der ärztlichen Ausbildung geregelt werden. | |
Darüber hinaus braucht es ein Gesetz zur Förderung der reproduktiven | |
Gesundheit. Es sollte explizit ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch | |
enthalten. Das Gesetz müsste auch ein kostenloses Beratungsangebot | |
garantieren, zu Familienplanung, Sexualität und Schwangerschaftskonflikten. | |
Die Finanzierung könnte dann anders gelöst werden. Dadurch, dass Abbrüche | |
bislang nicht legal sind, sondern nur von der Strafverfolgung ausgenommen | |
werden, werden sie nicht von den Krankenkassen übernommen. Menschen mit | |
wenig Geld können eine Kostenübernahme beantragen. Wenn | |
Schwangerschaftsabbrüche aber nicht mehr im Strafgesetzbuch stünden, könnte | |
der Abbruch zur Gesundheitsleistung werden. | |
## Politischer Wille gesucht | |
Ohne eine Neuregelung der Paragrafen 218 und 219, ohne dass der | |
Schwangerschaftsabbruch als medizinische Leistung behandelt wird, wird die | |
schon jetzt unzureichende Gesundheitsversorgung von ungewollt Schwangeren | |
immer schlechter, manche Ärzt:innen sprechen von einer Katastrophe, auf | |
die Deutschland zusteuere. | |
Für Veränderungen aber braucht es politischen Willen. Ohne Stimmen aus der | |
Union wäre eine Veränderung im Moment und wahrscheinlich auch über die | |
Bundestagswahl im September hinaus nicht möglich. Ob es SPD, Grüne, | |
Linkspartei und FDP gelingen würde, sich für eine Gesetzesänderung | |
zusammenzuschließen, ist fraglich. Bei der Debatte um den § 219a sprang die | |
SPD ab. Und es steht zu befürchten, dass auch bei jedem künftigen | |
Koalitionspartner die reproduktiven Rechte schnell zur Verhandlungsmasse in | |
Koalitionsgesprächen würden. | |
Als der Bundestag 1993 für eine Fristenlösung votierte, stimmten auch 32 | |
Unionsabgeordnete dafür. Wer würde heute dafür stimmen, über | |
Schwangerschaftsabbrüche allein die schwangere Person entscheiden zu | |
lassen? Ein paar Namen aus der Unionsfraktion fallen, als wir uns umhören, | |
häufiger, mit uns reden möchte niemand. | |
Sofort zum Gespräch bereit erklärt sich Elke Hannack, sie ist Vizechefin | |
des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Mitglied des CDU-Bundesvorstands, | |
sitzt aber nicht im Parlament. Schon in der Debatte um den Paragrafen 219 a | |
positionierte sich der DGB eindeutig für seine Abschaffung. Hannack sagt: | |
„Die Prozesse gegen Kristina Hänel und andere Ärztinnen waren das | |
Schlimmste, was ich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu diesem | |
Thema erlebt habe.“ | |
## Eine juristische Debatte findet nicht statt | |
Beim Paragraf 218 wird sie ein wenig vorsichtiger, doch ihre Stimme bleibt | |
ruhig: „Bei der Abwägung für oder gegen einen Abbruch sollte immer“, und | |
das Wort wiederholt sie, „immer das Selbstbestimmungsrecht der Frau im | |
Vordergrund stehen.“ Sie will die Zwangsberatung abschaffen und den | |
Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch nehmen. Stattdessen sollten Regelungen | |
zum Schwangerschaftsabbruch da verankert sein, „wo sie hingehören“, etwa im | |
Schwangerschaftskonfliktgesetz. Sie findet diese Alternative wichtig, auch | |
weil sie glaubt, „fordern wir eine generelle Abschaffung, dauert das noch | |
50 Jahre“. | |
Wie sieht sie die Chancen dafür in ihrer Partei? „Die Abstimmungen, die wir | |
zu dem Thema in der Partei hatten, sind immer fast 50:50 ausgegangen, mit | |
einer leichten Tendenz für den sogenannten Lebensschutz. Aber die CDU ist | |
da nicht eindeutig. Ich weiß, dass es Kolleginnen und Kollegen in der | |
Fraktion gibt, die denken wie ich.“ | |
Doch kehren wir noch einmal zum Juristischen zurück. Denn zweimal hatte der | |
Bundestag in der Vergangenheit ja für eine Fristenlösung votiert, das | |
Bundesverfassungsgericht jedoch anders entschieden. Wir fragen in Karlsruhe | |
nach. Dort scheint man zunächst unentschlossen, ob man mit uns sprechen | |
soll, dann erhalten wir eine Absage – auch wegen des anhängigen Verfahrens | |
von Kristina Hänel. | |
## Von Menschen gemacht | |
Ulrike Lembke sagt: „Wie das Bundesverfassungsgericht heute entscheiden | |
würde, weiß niemand.“ Wenig ermutigend sei die Entscheidung von 1993, mit | |
welcher der parlamentarische Kompromiss von 1992 gekippt worden sei. Vor | |
allem aber fehle es weiterhin an juristischer Literatur, welche eine andere | |
Position zur Austragungspflicht vertrete, eine echte juristische Debatte | |
finde nicht statt. | |
Im Fall Hänel wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen. „Dann | |
kann es auch allgemeine Anmerkungen zum Schwangerschaftsabbruch machen, | |
wenn es das möchte“, sagt Lembke, und so die juristische Debatte | |
weiterbringen. Diese sei lange von einer sehr konservativen | |
Professorenschaft geführt worden, die explizit gegen Abtreibungen war. Beim | |
letzten Höhepunkt der Debatte Anfang der 1990er seien zwei Prozent der | |
Juraprofessuren von Frauen besetzt gewesen, heute sind es 16 Prozent. | |
Sicher ist: Der § 218 ist nicht in Stein gemeißelt, er ist von Menschen | |
gemacht und verteidigt worden, andere Menschen können ihn ändern. Ideen | |
dazu gibt es. | |
8 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Abtreibungsgesetze-in-Deutschland/!5693086 | |
[2] /Aerztemangel-in-Bremerhaven/!5753546 | |
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## AUTOREN | |
Kirsten Achtelik | |
Hanna Voß | |
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Lesestück Recherche und Reportage | |
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