| # taz.de -- Abschaffung des Paragraf 218: Für das Recht am eigenen Körper | |
| > Schwangerschaftsabbrüche sind nicht legal, aber prinzipiell möglich – das | |
| > ist ein fauler Kompromiss. Die Zeit ist reif, sich vom Paragrafen 218 zu | |
| > verabschieden. | |
| Bild: Frauenrechte müssen immer wieder neu verteidigt werden | |
| Für das Recht auf den eigenen Körper war es eine denkwürdige Woche. | |
| Jahrzehntelang war in der Bundesrepublik klar: Schwangerschaftsabbrüche | |
| werden im Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs kurz hinter Mord und | |
| Totschlag geregelt. Nicht dass dieses Gesetz nun gekippt worden wäre – so | |
| weit sind wir noch nicht. Aber es ist Bewegung gekommen in die Gemengelage | |
| rund um den Schwangerschaftsabbruch, und das gleich dreifach. | |
| Erstens wurden die Ergebnisse der [1][Elsa-Studie] veröffentlicht. | |
| Unglaublich, aber wahr: Bis zu dieser Woche gab es kaum fundierte | |
| Informationen über die Situation ungewollt Schwangerer in Deutschland. Wie | |
| weit müssen sie fahren, um einen Abbruch zu bekommen? Können sie dabei die | |
| von ihnen gewünschte Methode in Anspruch nehmen, also etwa Tabletten | |
| nehmen, statt sich operieren zu lassen? Und: Wie ging es ihnen dabei? | |
| Das alles war schlicht nicht bekannt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass | |
| Schwangerschaftsabbrüche zu den am häufigsten vorgenommenen gynäkologischen | |
| Eingriffen gehören – und dass die Bundesländer gesetzlich verpflichtet | |
| sind, die Versorgung ungewollt Schwangerer sicherzustellen. Wie machen sie | |
| das, fragt man sich, wenn sie doch über den Stand der Versorgung kaum etwas | |
| wissen? | |
| Zum ersten Mal überhaupt hat nun ein Team um die [2][Fuldaer | |
| Wissenschaftlerin Daphne Hahn] die Versorgungslage untersucht. Befragt | |
| wurden dafür auch Ärzt*innen, und nur eine eindrückliche Zahl gleich an | |
| dieser Stelle: 24 Prozent derjenigen, die Abbrüche durchführen, wurden | |
| deshalb schon einmal bedroht. Der Bundestag debattierte außerdem am | |
| Mittwoch ein Gesetz, das ungewollt Schwangere auf dem Weg zu einer Praxis | |
| oder Beratungsstelle besser schützen soll. | |
| ## Seit 153 Jahren im Strafgesetzbuch | |
| Bei den sogenannten [3][Gehsteigbelästigungen] stehen | |
| Abtreibungsgegner*innen Spalier vor den Praxen, halten Bilder | |
| zerstückelter Föten hoch. Es ist eine Zumutung. Das dritte Ereignis der | |
| Woche in puncto Recht auf den eigenen Körper ist schließlich nicht weniger | |
| als historisch: Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission fordert | |
| die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen mindestens in den ersten | |
| drei Monaten. | |
| Der Bericht, der der taz vorliegt, ist eindeutig: Nach völker- und | |
| verfassungsrechtlicher Prüfung sei die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen „nicht haltbar“. Der Paragraf 218 müsse | |
| mindestens verändert, wenn nicht gleich abgeschafft werden. Eine | |
| Verbesserung des Status quo ist damit so greifbar wie lange nicht. Seit der | |
| Gründung des Deutschen Reichs, also seit 153 Jahren, steht der | |
| Zwangsparagraf im Strafgesetzbuch. | |
| Dass das nicht so sein muss, zeigen nicht nur international immer mehr | |
| [4][Beispiele wie kürzlich Frankreich], wo das Recht auf | |
| Schwangerschaftsabbruch gerade in der Verfassung verankert wurde. Auch das | |
| EU-Parlament forderte erst diese Woche, das Abtreibungsrecht in die Charta | |
| der Grundrechte der Europäischen Union aufzunehmen. | |
| Man muss gar nicht ins Ausland blicken: Während in der BRD Abtreibungen | |
| auch nach dem Zweiten Weltkrieg strikt verboten blieben, waren sie für | |
| Frauen in der DDR ab 1972 ihr gutes Recht. Die Wiedervereinigung brachte | |
| den westdeutschen Frauen mit der bis heute geltenden Lösung – „verboten, | |
| aber unter bestimmten Bedingungen straffrei“ – zwar leichte Verbesserungen. | |
| Für die ostdeutschen Frauen aber bedeutete das einen massiven Eingriff in | |
| ihre Freiheit und Selbstbestimmung. | |
| ## Abschaffung von § 219a war ein erster Schritt | |
| Jetzt ist die Gelegenheit da, diese Freiheit für alle Frauen hierzulande | |
| wiederherzustellen. Lange war das Recht auf körperliche Selbstbestimmung | |
| öffentlich kaum Thema. Das hat sich längst geändert, auch dank der | |
| jahrelangen Arbeit vieler Feminist*innen. Kristallisationspunkt dieser | |
| Entwicklung war [5][der Fall Kristina Hänel]: Die Ärztin war 2017 verklagt | |
| und später verurteilt worden, weil sie auf ihrer Website darüber | |
| informierte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehme. | |
| Nach dem damals geltenden Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs galt dies | |
| kurioserweise als verbotene Werbung. Die Ampel schaffte den Paragrafen zu | |
| Beginn der Legislatur ab. Doch für die, die es ernst meinen mit | |
| reproduktiven Rechten, ist klar: Diese wichtige, aber im Verhältnis winzige | |
| Verbesserung kann nur der Anfang gewesen sein. Dass es hoch hergeht, wenn | |
| es um das Recht auf den eigenen Körper geht, ist bekannt. | |
| Einen „Dammbruch für unser Werteverständnis“ sah [6][Unionsfraktionsvize | |
| Dorothee Bär] auch gleich in den aktuellen Kommissionsergebnissen und | |
| stellte die Unabhängigkeit der Kommission infrage – angesichts deren | |
| hochkarätiger und breiter Besetzung so uninformiert wie unverschämt. | |
| Fraktionsgeschäftsführer [7][Thorsten Frei schrieb auf X], vormals Twitter: | |
| „Sollte die ‚Ampel‘ Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 12 Wochen | |
| legalisieren, werden wir beim Bundesverfassungsgericht Klage einreichen.“ | |
| Auch jenseits der Union fragen jetzt manche: Was ist denn eigentlich das | |
| Problem? Abbrüche in Deutschland seien möglich, heißt es dann. Haltet euch | |
| an Pflichtberatung und Wartefrist, dann bekommt ihr, was ihr wollt. Jetzt | |
| bitte nicht den nächsten Großkonflikt in der ohnehin schon gespaltenen | |
| Gesellschaft. Das Land, so das Argument konservativer, teils auch liberaler | |
| Politiker*innen, habe sich 1995 auf einen „Kompromiss“ geeinigt. Und der | |
| funktioniere doch auch irgendwie. | |
| ## Gute Informationen oft schwer zu finden | |
| Aber der faule Kompromiss funktioniert für viele Betroffene in mancher | |
| Hinsicht gar nicht. Die Ergebnisse der erwähnten Fuldaer Studie, finanziert | |
| vom Bundesgesundheitsministerium, zeigen schwarz auf weiß: Die | |
| Versorgungslage ungewollt Schwangerer ist oft prekär. Mehr als die Hälfte | |
| der befragten Frauen fand es schwierig, ausreichende und gute Informationen | |
| zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Von denen wiederum hatte die Hälfte | |
| Angst, dass schlecht über sie gedacht wird. | |
| Fast die Hälfte wollte oder musste den Abbruch geheim halten. Mehr als jede | |
| vierte Frau musste mehr als eine Einrichtung kontaktieren, um einen Termin | |
| für einen Abbruch zu bekommen. 15 Prozent mussten für den Eingriff weiter | |
| als 50 Kilometer fahren, mitunter sogar weiter als 100 Kilometer. Was auch | |
| daran liegt, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, seit | |
| Jahren sinkt. | |
| Rund 100.000 Abbrüche gibt es jedes Jahr, aber nur rund 1.100 Stellen | |
| melden derzeit, dass sie diese durchführen – die Zahl hat sich seit 2003 | |
| fast halbiert. Zudem sind die Stellen regional sehr unterschiedlich | |
| verteilt. Eine ungewollt Schwangere in Bayern hat viel weniger | |
| Möglichkeiten als eine in Sachsen oder Berlin. Abbrüche vorzunehmen ist | |
| nicht attraktiv. Ganze 65 Prozent der befragten Ärzt*innen sagten, sie | |
| hätten Erfahrungen von Stigmatisierung gemacht. | |
| Ihre Arbeit wird nicht als wichtige medizinische Arbeit wahrgenommen, | |
| sondern als etwas Schmuddeliges. All das ist eine Folge davon, dass der | |
| Paragraf 218 im Strafgesetzbuch steht. Dieser Status quo ist unvereinbar | |
| mit dem Umstand, dass eine Frau Grundrechte hat. Sie hat reproduktive | |
| Rechte: das Recht, selbst zu entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen | |
| will. International ist das als Menschenrecht anerkannt. In Deutschland ist | |
| das noch nicht angekommen. | |
| ## Ampel sollte eigenen Auftrag erfüllen | |
| Die Ampel hat viel versprochen in diesem Bereich – auch über den | |
| Schwangerschaftsabbruch hinaus. Passiert ist wenig. Wo ist die bessere | |
| Hebammenbetreuung unter der Geburt, wo die Unterstützung bei künstlicher | |
| Befruchtung unabhängig von sexueller Orientierung oder Familienstand, wo | |
| der kostenfreie Zugang zu Verhütungsmitteln mindestens für | |
| Geringverdiener*innen? | |
| Und ja: Wo ist die Streichung des Paragrafen 218, die mit SPD und Grünen | |
| zwei von drei Koalitionspartnern in ihren Wahlprogrammen gefordert | |
| hatten? Wenn es noch eines Arguments für die Streichung bedurft hätte, | |
| jetzt ist es da: Die eigens eingesetzte Expertinnenkommission erklärt das | |
| grundsätzliche Abtreibungsverbot für überholt. | |
| Und doch reagiert die Ampel bisher mit Zurückhaltung. Der Kanzler, der sich | |
| selbst mal als „Feminist“ bezeichnet hat, warnt lediglich vor | |
| „Polarisierung“. Aber der Kulturkampf, den er fürchtet, ist längst da. | |
| Seien es Kampagnen gegen das Selbstbestimmungsgesetz, seien es Verbote, das | |
| Gendersternchen zu nutzen – der Antifeminismus, der sich dieser Tage Bahn | |
| bricht, ist Ausdruck eines nach rechts driftenden Diskurses. | |
| Progressive Kräfte haben die Wahl: schweigen aus Angst, dass gehetzt wird – | |
| oder die Debatte offen und offensiv führen? Wohin das Schweigen führt, | |
| zeigen die USA: Dort kippten rechtskonservative Richter „Roe v. Wade“, | |
| jenes Gesetz, das Frauen den Schwangerschaftsabbruch garantierte. Möglich | |
| wurde das auch, weil Demokrat*innen es zu lange nicht für nötig | |
| gehalten hatten zu thematisieren, wie grundlegend das Recht auf | |
| Schwangerschaftsabbruch ist; oder dieses Recht gar gegen solche Angriffe zu | |
| wappnen – in der Verfassung. | |
| ## Dranbleiben und für Frauenrechte kämpfen | |
| [8][Für Frauenrechte muss immer wieder neu Partei ergriffen], sie müssen | |
| immer wieder neu verteidigt werden. Jeder Versuch, sich der Debatte zu | |
| entziehen, schadet nicht nur den progressiven Bündnissen in diesem Land, | |
| sondern vor allem Betroffenen, in diesem Fall: den Frauen. Unsere Rechte | |
| preisgeben, nur weil die AfD geifert? Nein, im Gegenteil, unsere Rechte so | |
| grundlegend wie möglich absichern, solange es die Gelegenheit dazu gibt. | |
| Stets ging es in diesem Kampf vor und zurück, manchmal schon schien es, als | |
| sei der Durchbruch nah. Doch jetzt ist die Situation günstig wie nie. Die | |
| Fakten, wie es ungewollt Schwangeren und Ärzt*innen geht, hat die neue | |
| Studie geliefert. Dass der Paragraf 218 in dieser Form nicht mit der | |
| Verfassung vereinbar ist, hat die Kommission klargestellt. | |
| Die Ampel, die reproduktive Rechte als erste Regierung hierzulande im | |
| Koalitionsvertrag thematisierte, muss ihrem eigenen Auftrag nun folgen. Es | |
| geht um mehr als Parteipolitik und vorgezogenen Wahlkampf. Es geht um die | |
| Menschenrechte aller gebärfähigen Menschen in diesem Land, der Hälfte der | |
| Bevölkerung. Weg mit Paragraf 218. | |
| 13 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://elsa-studie.de/ | |
| [2] /Daphne-Hahn-zum-Stigma-der-Abtreibung/!6000665 | |
| [3] /Abtreibungsgegner_innen-vor-Kliniken/!5984592 | |
| [4] /Abtreibung-als-garantierte-Freiheit/!5995434 | |
| [5] /Aerztin-ueber-Paragraf-219a/!5862865 | |
| [6] /CSU-Politikerin-Baer-zu-Abtreibungen/!6000649 | |
| [7] https://twitter.com/thorsten_frei | |
| [8] /Aerztin-ueber-Abtreibungsparagrafen/!6000619 | |
| ## AUTOREN | |
| Patricia Hecht | |
| Dinah Riese | |
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