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# taz.de -- Schwangerschaftsabbruch nach § 218: Quer zur Wirklichkeit
> Seit 150 Jahren ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland strafbar.
> Was würde passieren, wäre der Paragraf 218 abgeschafft?
Bild: Internationaler Frauentag in Berlin 2018
Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland nach § 218 Strafgesetzbuch
grundsätzlich strafbar – seit 150 Jahren ist das so. Nach der Gründung des
Deutschen Reichs am 15. Mai 1871 war eine Schwangere, die „ihre Frucht
abtreibt oder im Leib tötet“ mit Zuchthaus von bis zu fünf Jahren zu
belegen. Die Worte des Paragrafen sind heute andere, sie klingen
zeitgemäßer – allerdings nur in ihrer Form, nicht im Inhalt. Und sie stehen
noch immer direkt hinter Mord und Totschlag, Abtreibung ist ein „Delikt
gegen das Leben“.
Früher haben ungewollt Schwangere versucht, mit Kleiderbügeln, Stricknadeln
und Fahrradspeichen den Fötus aus ihrem Bauch zu kratzen. Sie haben
Seifenlauge, Bleichmittel, Rohrreiniger getrunken. Frauen sind verblutet,
erlitten Bauchfellentzündungen und Vergiftungen, sie sind gestorben, weil
ihnen verboten war, über ihren Körper selbst zu bestimmen.
In einigen Teilen der Welt passiert das noch immer. In Deutschland hat sich
die Lage seit der ersten Reform in Westdeutschland in den 1970ern zwar
verbessert – doch steht auch hier ein Gesetz im Strafgesetzbuch, das quer
zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vieler Frauen steht, das im Grunde
sagt: Wenn du schwanger bist, musst du das Kind bekommen.
1975 stimmte der Bundestag [1][für eine Fristenlösung], wie es sie in der
DDR 20 Jahre lang gab. Nach der durften Frauen in den ersten zwölf Wochen
der Schwangerschaft legal abtreiben. Das Bundesverfassungsgericht urteilte,
dies sei verfassungswidrig. Das „ungeborene Leben“ habe Vorrang, auch vor
dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. 1976 verabschiedete der
Bundestag ein Indikationsmodell, ein Abbruch war demnach unter vier
Bedingungen legal: der kriminologischen, also nach einer Vergewaltigung,
der embryopathischen, wenn der Fötus eine Beeinträchtigung hat, einer
medizinischen, wenn die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist oder der
Notlagenindikation, wenn eine soziale Notlage vorlag.
## Die Kritik wird lauter
Nach der Wiedervereinigung und dem erneuten Abschmettern der
Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht 1993 stimmte der
Bundestag 1995 in nicht parteigebundener Abstimmung für die sogenannte
Beratungsregelung. Danach sind Schwangerschaftsabbrüche noch immer
rechtswidrig, sie können mit einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe von bis
zu drei Jahren belangt werden. Doch die Abbrüche bleiben straffrei, wenn
die ungewollt schwangere Person die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen
nach der Empfängnis von einem Arzt vornehmen, wenn sie sich beraten und
eine dreitägige Bedenkzeit verstreichen lässt.
Die kriminologische und die medizinische Indikation blieben bestehen. Die
Notlagenindikation fiel weg, da sie als nicht mehr nötig angesehen wurde,
die embryopathische Indikation wurde auf Druck von Kirchen und
Behindertenverbänden gestrichen. Sie argumentierten, dass eine Erlaubnis
zum Abbruch nur aufgrund einer Behinderung des Fötus diskriminierend sei.
Die aktuelle Regelung gilt als hart errungener Kompromiss, sie sei die am
wenigsten schlechte Lösung – und dürfe deshalb nicht wieder infrage
gestellt werden. So haben sogar Feministinnen lange argumentiert, doch die
Kritik wird immer lauter. So befand der UN-Frauenrechtsausschuss Cedaw, der
die Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention überwacht, zuletzt 2017, weder
die verpflichtende Beratung noch die dreitägige Bedenkzeit zwischen
Beratung und Eingriff entsprächen dem Recht auf Zugang zu sicheren und
diskriminierungsfreien Schwangerschaftsabbrüchen.
## Die negativen Folgen sind zahlreich
Der Staat muss eine ausreichende Versorgung an Möglichkeiten zum
Schwangerschaftsabbruch gewährleisten, so sieht es auch das
Schwangerschaftskonfliktgesetz vor. Doch die Stigmatisierung durch das
Strafrecht führt dazu, dass immer weniger Ärzt:innen in Deutschland
Abbrüche durchführen und ungewollt Schwangere in einigen Teilen
Deutschlands weit fahren müssen, um eine Abtreibung zu bekommen.
Abtreibungsgegner:innen fühlen sich indes mit ihren Anfeindungen
gegen Ärzt:innen und ungewollt Schwangere im Recht.
Abtreibungen werden weder in der medizinischen Grundausbildung noch in der
gynäkologischen Weiterbildung gelehrt, und Ärzt:innen wie Kristina Hänel
werden nach Paragraf 219 a, der „Werbung“ für Abtreibungen verbietet, mit
Klagen überzogen, wenn sie nur sachlich darüber informieren.
[2][Die negativen Folgen des Paragrafen 218] sind so zahlreich und
unübersehbar, dass sich 150 Jahre nach seiner Einführung die Frage
aufdrängt: Wenn wir den leidigen Paragrafen abschaffen, was kommt dann? Wie
können Schwangerschaftsabbrüche anders geregelt werden als über das
Strafgesetzbuch?
Um darauf eine Antwort zu finden, haben wir uns den Paragrafen genau
angeguckt und seine verschiedenen Abschnitte mit Ulrike Lembke besprochen.
Die 43-Jährige ist Professorin für Öffentliches Recht an der
Humboldt-Universität Berlin. Wir wollten von ihr wissen, welche unserer
Überlegungen juristisch umsetzbar wären, was ganz weg kann und was anders
geregelt werden müsste. Für die Rolle von Ärzt:innen haben wir die
Bundesärztekammer um eine Einschätzung gebeten, und wir haben mit Elke
Hannack vom CDU-Bundesvorstand gesprochen. Wie offen ist ihre Partei, über
das Thema Schwangerschaftsabbrüche erneut zu streiten?
## Austragungspflicht verstößt gegen die Menschenwürde
Nicht alles am Paragraf 218 ist schlecht und überflüssig. So droht er auch
jedem, der eine Schwangerschaft gegen den Willen der Schwangeren abbricht,
etwa durch Abtreibungspillen im Essen oder mit psychischer Gewalt, Strafe
an. Ulrike Lembke hält es für selbstverständlich, dass der Abbruch gegen
den Willen der Schwangeren, sei er absichtlich, billigend oder grob
fahrlässig, im Strafgesetzbuch bleibt, allerdings nicht im Abschnitt zu den
Tötungsdelikten. Sinnvoller sei er im Bereich der schweren Körperverletzung
oder der Straftaten gegen die Familie.
Wenn aber der ungewollte Abbruch einer Schwangerschaft eine schwere
Körperverletzung darstellt, dann müsste es die ungewollte Fortführung doch
auch sein? Das wäre allerdings eine grundlegend andere Annahme als die
heutige.
Lembke erläutert, dass das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das
Grundgesetz eine Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit
festgesetzt habe. So könne der Staat etwa Kinder zu ihrem eigenen Schutz
von den Eltern trennen und zum Beispiel durch Angehörige oder Pflegeeltern
versorgen lassen. Zum Schwangerschaftsabbruch passe das jedoch nicht, Fötus
und Schwangere ließen sich schließlich nicht einfach trennen.
Dieses Problem hat das Gericht mit der Austragungspflicht für die
Schwangere zu umgehen versucht, dabei jedoch einen „Denkfehler“ gemacht,
wie Lembke es nennt. Es habe „abstrakt das fötale Leben gegen die
Selbstbestimmung der Schwangeren“ gestellt. Stattdessen hätte es die
Verfassungsmäßigkeit der Austragungspflicht prüfen und deren absolute
Unverhältnismäßigkeit feststellen müssen: „Niemand hat ein Leistungsrecht
am Körper eines anderen Menschen, auch der Fötus nicht.“ Zum Beispiel wäre
selbst bei Lebensgefahr eine per Zwang durchgesetzte Blut- oder Organspende
für Angehörige in Deutschland undenkbar.
## Ein dickes Problem
Die Austragungspflicht verstoße schlicht gegen die Menschenwürde, führt die
Juristin weiter aus. Der Staat mache die Schwangere zum Objekt, um seine
Schutzpflicht zu erfüllen. In einer Rechtsordnung, welche die Würde,
Integrität und Autonomie auch von Frauen garantiert, sind die derzeit
geltenden Paragrafen 218 ff. nicht mit der Verfassung vereinbar.
Heißt also: Nur der Abbruch gegen den Willen der Schwangeren bliebe im
Strafgesetzbuch, der Rest vom § 218 würde gestrichen. Dann könnten doch
auch die sich anschließenden Paragrafen 218 a und 218 b gestrichen werden,
da sie die Bedingungen zur Straflosigkeit und Indikationsfeststellung
regeln, die es nicht mehr bräuchte – oder?
Im Prinzip ja. Solange man nicht glaubt, man habe damit alle Probleme
erledigt. Denn in der medizinischen Indikation (§ 218 a (2)) verbirgt sich
ein dickes Problem, über das die Pro-Choice-Bewegung nicht gern spricht und
das sich auch mit der Abschaffung des Paragrafen nicht von selbst erledigen
würde. Als die embryopathische Indikation 1995 gestrichen wurde, ging ein
Teil der Behindertenbewegung davon aus, dass sich so eine als
diskriminierend empfundene Praxis einschränken ließe, nämlich die
Abtreibung behinderter Föten nur aufgrund dieser Eigenschaft, eben
behindert zu sein.
Dies war jedoch nicht der Fall. Seitdem können Schwangerschaften weiterhin
legal abgebrochen werden, wenn angenommen wird, dass eine Behinderung des
Fötus die Schwangere unzumutbar belasten würde. Dann greift die
medizinische Indikation. Die Abschaffung der embryopathischen Indikation
hat das Problem also nur verschoben. Das Problem ist nämlich nicht die
Abtreibung, sondern die Annahme einer überdurchschnittlichen Belastung.
## Verinnerlichte Behindertenfeindlichkeit
Von dieser Annahme gehen auch Feministinnen oft aus. Auch wenn sie meist
auf die tatsächlich zu geringen Ressourcen und Hilfsmittel verweisen, um
diese Annahme zu begründen, setzt sich die Bewegung zu wenig mit den
eigenen Ängsten vor Schwäche und Abhängigkeit und der eigenen
verinnerlichten Behindertenfeindlichkeit auseinander, die das Leben mit
einem behinderten Kind als unzumutbar erscheinen lassen.
Ärzt:innen nehmen relativ schnell an, dass das Leben mit einem
behinderten Kind eine nicht zumutbare Belastung darstellt. Wenn die
Schwangere selbst psychische Probleme hat, depressiv ist oder suizidal,
gehen sie dagegen eher davon aus, dass sich dies auch anders als durch
einen Abbruch lösen lässt. Diese Ungleichbehandlung ist eine Folge des
Frauenbildes und der verbreiteten Vorstellungen über Behinderung. Das kann
nicht allein durch eine Abschaffung des Paragrafen 218 gelöst werden.
Zusätzlich sollte das Leben mit behinderten Kindern erleichtert und
behindertenfeindliche Vorurteile bekämpft werden.
Die Verlagerung in die medizinische Indikation hat auch dafür gesorgt, dass
solche Abbrüche nun bis zum Eintritt der Wehen möglich sind, da die
medizinische Indikation keine Frist hat. Der Zeitpunkt, zu dem ein zu früh
geborenes Kind außerhalb des Uterus lebensfähig ist, rückt aufgrund des
medizinischen Fortschritts immer weiter nach vorne, zurzeit ist dies ab der
22. Schwangerschaftswoche möglich. Das gilt aber auch für
Schwangerschaftsabbrüche, die in Deutschland ab der 16.
Schwangerschaftswoche als eingeleitete Geburten vorgenommen werden. „Die
Problematik der sogenannten Spätabbrüche ist tatsächlich die schwierigste
juristische und medizin-ethische Frage in diesem Komplex“, sagt Lembke.
Dass kein Mensch ein Leistungsrecht am Körper eines anderen hat, bedeute
nämlich auch, dass [3][die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs] nur
für den Zeitraum absolut ausgeschlossen sei, in dem der Fötus außerhalb der
Gebärmutter nicht lebensfähig ist. Das wirft die Frage auf, ob es nicht
doch eine Regelung geben sollte, die zwischen Abbrüchen im Frühstadium und
Spätabbrüchen unterscheidet. „Es braucht eine echte Neuregelung, die alle
sozialen, medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekte zusammenbringt“,
sagt Lembke, „dazu fehlt es aber noch an ernsthaften interdisziplinären
Verständigungen.“
## Sinnvoller ohne den Strafparagrafen
Als ärztliche Tätigkeit und nicht unter Strafandrohung könnte die bisher im
Paragraf 218 c geregelte Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht neu
geordnet werden. Eine solche liegt vor, wenn ein Arzt eine schwangere
Person unzureichend berät, sie nicht über den Ablauf, die Folgen, die
Risiken des Schwangerschaftsabbruchs aufklärt. In der Musterberufsordnung
der Bundesärztekammer, die die für jede:n Ärzt:in geltenden Pflichten
gegenüber Patient:innen regelt, findet sich dazu schon einiges.
Wir fragen bei der Bundesärztekammer in Berlin nach. Pressesprecher Samir
Rabbata verweist auf die „seit Jahrzehnten“ andauernde „politische
Diskussion“ und die „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts“. Eine
solche „wesentliche Fragestellung“ könne „nicht in den Berufsordnungen d…
Landesärztekammer geregelt werden“. Ganz ausschließen will er eine solche
Regelung über die Standesgesetze statt über das Strafgesetz jedoch nicht.
„Wenn man das befürwortet“, schreibt er, müssten Änderungen „in den
Heilberufe- und Kammergesetzen der 16 Bundesländer getroffen werden.“ Diese
Gesetze fungieren als Grundlage für die Berufsordnungen – und sie zu
ändern, ist möglich.
Die Beratungspflicht vor einem Abbruch ist im Paragraf 219 Strafgesetzbuch
geregelt und im Schwangerschaftskonfliktgesetz präzisiert, deren
Formulierungen widersprechen sich allerdings. Während es im Strafgesetzbuch
heißt, die „Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens“ und solle
„die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen“, hält das
Schwangerschaftskonfliktgesetz fest, die Beratung sei „ergebnisoffen zu
führen“ und gehe „von der Verantwortung der Frau aus“. Da Beratung nur a…
freiwilliger Basis wirkt, könnte das Schwangerschaftskonfliktgesetz sogar
sinnvoller ohne den Strafparagrafen funktionieren.
## Große Hilfe für Beratungsstellen
Eine Streichung des Paragrafen wäre auch eine große Hilfe für
Beratungsstellen. Praxen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt
werden, und Beratungsstellen sind häufig Ziel von „Mahnwachen“ und
„Gehsteigberatungen“ von Abtreibungsgegner:innen. Obwohl der Staat
verpflichtet ist, den Zugang zu garantieren, werden solche Aktionen selten
verboten. Flächendeckende Schutzzonen einzurichten, hält Ulrike Lembke
jedoch nicht für realistisch, schließlich seien die jeweiligen örtlichen
Verhältnisse unterschiedlich und die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut.
Wenn Schwangerschaftsabbrüche als Gesundheitsleistungen anerkannt würden,
könnten solche Gehsteigbelästigungen als Ordnungswidrigkeit gefasst werden,
meint die Juristin.
Der Paragraf 219 a hat es 2017 mit dem Fall der Allgemeinmedizinerin
Kristina Hänel zu bundesweiter Bekanntheit gebracht.
Abtreibungsgegner:innen nutzen das „Werbeverbot“, um Ärzt:innen
anzuzeigen, auch wenn sie nur sachlich über Schwangerschaftsabbrüche
informieren.
Anfang 2019 einigte sich die Große Koalition auf einen Kompromiss: Demnach
dürfen Ärzt:innen und Einrichtungen jetzt zwar angeben, dass sie
Schwangerschaftsabbrüche durchführen – mehr aber nicht. Genauere
Informationen, etwa zu den verschiedenen Methoden des Eingriffs, dürfen nur
die bereitstellen, die ihn nicht selbst vornehmen. Deshalb musste Hänel
Ende Januar die Information auf ihrer Webseite löschen, um nicht finanziell
ruiniert zu werden. Gleichzeitig hat sie Klage beim
Bundesverfassungsgericht eingereicht.
## Es braucht ein Gesetz mit dem Recht auf Abbruch
Kein anderes Land hat einen solchen Paragrafen im Strafgesetzbuch.
„Berufswidrige Werbung“ verbieten die Berufsordnungen der
Bundesärztekammern ohnehin, sie würden auch im Falle von „anstößiger“
Werbung für Schwangerschaftsabbrüche greifen. Die ersatzlose Streichung
wäre das einzig richtige, um ungewollt Schwangere und Ärzt:innen vor
Diffamierungskampagnen zu schützen.
Fassen wir zusammen: Der Schwangerschaftsabbruch wäre als Frage
reproduktiver Gesundheit in den entsprechenden Gesetzen und Verordnungen zu
regeln. Im Sozialgesetzbuch sollte festgelegt werden, dass der Abbruch von
einer:m Ärzt:in durchgeführt, die Kosten übernommen und wie die Nachsorge
gestaltet werden solle. In den ärztlichen Berufsordnungen könnten die
Qualitätsstandards, die Durchführung, das Verbot der Werbung sowie der
Bereich der ärztlichen Ausbildung geregelt werden.
Darüber hinaus braucht es ein Gesetz zur Förderung der reproduktiven
Gesundheit. Es sollte explizit ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch
enthalten. Das Gesetz müsste auch ein kostenloses Beratungsangebot
garantieren, zu Familienplanung, Sexualität und Schwangerschaftskonflikten.
Die Finanzierung könnte dann anders gelöst werden. Dadurch, dass Abbrüche
bislang nicht legal sind, sondern nur von der Strafverfolgung ausgenommen
werden, werden sie nicht von den Krankenkassen übernommen. Menschen mit
wenig Geld können eine Kostenübernahme beantragen. Wenn
Schwangerschaftsabbrüche aber nicht mehr im Strafgesetzbuch stünden, könnte
der Abbruch zur Gesundheitsleistung werden.
## Politischer Wille gesucht
Ohne eine Neuregelung der Paragrafen 218 und 219, ohne dass der
Schwangerschaftsabbruch als medizinische Leistung behandelt wird, wird die
schon jetzt unzureichende Gesundheitsversorgung von ungewollt Schwangeren
immer schlechter, manche Ärzt:innen sprechen von einer Katastrophe, auf
die Deutschland zusteuere.
Für Veränderungen aber braucht es politischen Willen. Ohne Stimmen aus der
Union wäre eine Veränderung im Moment und wahrscheinlich auch über die
Bundestagswahl im September hinaus nicht möglich. Ob es SPD, Grüne,
Linkspartei und FDP gelingen würde, sich für eine Gesetzesänderung
zusammenzuschließen, ist fraglich. Bei der Debatte um den § 219a sprang die
SPD ab. Und es steht zu befürchten, dass auch bei jedem künftigen
Koalitionspartner die reproduktiven Rechte schnell zur Verhandlungsmasse in
Koalitionsgesprächen würden.
Als der Bundestag 1993 für eine Fristenlösung votierte, stimmten auch 32
Unionsabgeordnete dafür. Wer würde heute dafür stimmen, über
Schwangerschaftsabbrüche allein die schwangere Person entscheiden zu
lassen? Ein paar Namen aus der Unionsfraktion fallen, als wir uns umhören,
häufiger, mit uns reden möchte niemand.
Sofort zum Gespräch bereit erklärt sich Elke Hannack, sie ist Vizechefin
des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Mitglied des CDU-Bundesvorstands,
sitzt aber nicht im Parlament. Schon in der Debatte um den Paragrafen 219 a
positionierte sich der DGB eindeutig für seine Abschaffung. Hannack sagt:
„Die Prozesse gegen Kristina Hänel und andere Ärztinnen waren das
Schlimmste, was ich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu diesem
Thema erlebt habe.“
## Eine juristische Debatte findet nicht statt
Beim Paragraf 218 wird sie ein wenig vorsichtiger, doch ihre Stimme bleibt
ruhig: „Bei der Abwägung für oder gegen einen Abbruch sollte immer“, und
das Wort wiederholt sie, „immer das Selbstbestimmungsrecht der Frau im
Vordergrund stehen.“ Sie will die Zwangsberatung abschaffen und den
Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch nehmen. Stattdessen sollten Regelungen
zum Schwangerschaftsabbruch da verankert sein, „wo sie hingehören“, etwa im
Schwangerschaftskonfliktgesetz. Sie findet diese Alternative wichtig, auch
weil sie glaubt, „fordern wir eine generelle Abschaffung, dauert das noch
50 Jahre“.
Wie sieht sie die Chancen dafür in ihrer Partei? „Die Abstimmungen, die wir
zu dem Thema in der Partei hatten, sind immer fast 50:50 ausgegangen, mit
einer leichten Tendenz für den sogenannten Lebensschutz. Aber die CDU ist
da nicht eindeutig. Ich weiß, dass es Kolleginnen und Kollegen in der
Fraktion gibt, die denken wie ich.“
Doch kehren wir noch einmal zum Juristischen zurück. Denn zweimal hatte der
Bundestag in der Vergangenheit ja für eine Fristenlösung votiert, das
Bundesverfassungsgericht jedoch anders entschieden. Wir fragen in Karlsruhe
nach. Dort scheint man zunächst unentschlossen, ob man mit uns sprechen
soll, dann erhalten wir eine Absage – auch wegen des anhängigen Verfahrens
von Kristina Hänel.
## Von Menschen gemacht
Ulrike Lembke sagt: „Wie das Bundesverfassungsgericht heute entscheiden
würde, weiß niemand.“ Wenig ermutigend sei die Entscheidung von 1993, mit
welcher der parlamentarische Kompromiss von 1992 gekippt worden sei. Vor
allem aber fehle es weiterhin an juristischer Literatur, welche eine andere
Position zur Austragungspflicht vertrete, eine echte juristische Debatte
finde nicht statt.
Im Fall Hänel wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen. „Dann
kann es auch allgemeine Anmerkungen zum Schwangerschaftsabbruch machen,
wenn es das möchte“, sagt Lembke, und so die juristische Debatte
weiterbringen. Diese sei lange von einer sehr konservativen
Professorenschaft geführt worden, die explizit gegen Abtreibungen war. Beim
letzten Höhepunkt der Debatte Anfang der 1990er seien zwei Prozent der
Juraprofessuren von Frauen besetzt gewesen, heute sind es 16 Prozent.
Sicher ist: Der § 218 ist nicht in Stein gemeißelt, er ist von Menschen
gemacht und verteidigt worden, andere Menschen können ihn ändern. Ideen
dazu gibt es.
8 Mar 2021
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## AUTOREN
Kirsten Achtelik
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