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# taz.de -- Abtreibungsgesetze in Deutschland: § 218 schützt kein Leben
> Der Kompromiss zum deutschen Abtreibungsrecht wird 25 Jahre alt. Er hält
> keines seiner Versprechen, sondern spielt Fundamentalist*innen in
> die Hände.
Bild: Von der Wiedervereinigung bis zum Kompromiss 1995: Demo gegen § 218 in B…
Vor 25 Jahren wurde der Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs in seiner
heutigen Form beschlossen. Höchste Zeit, ihn abzuschaffen und
Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren. Doch nicht einmal die Linke, die
das in jedem Wahlprogramm fordert, hat bisher Gesetzesinitiativen
gestartet. Auch die Grünen haben sie nur angekündigt, vor einem Jahr [1][in
einem taz-Interview] der Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt.
Entscheidend sind nicht die Erfolgsaussichten solcher Initiativen. Es muss
eine ehrliche Debatte beginnen, ob der Kompromiss von 1995 so gut ist, wie
seine Befürworter*innen behaupten. Dazu gehört, unangenehmen Fakten
ins Auge zu blicken.
Paragraf 218 soll das [2][„ungeborene Leben“] schützen. Doch noch hat
niemand nachgewiesen, dass Strafandrohung, Zwangsberatung und Bedenkfrist
Frauen davon abhalten, Schwangerschaften abzubrechen. Dabei hatte [3][das
Bundesverfassungsgericht das 1993 gefordert]: „Der Gesetzgeber muss sich
etwa durch periodisch zu erstattende Berichte der Regierung vergewissern,
ob das Gesetz die erwarteten Schutzwirkungen entfaltet“, heißt es im
Urteil, das die Fristenlösung für verfassungswidrig erklärte. Diese
Berichte gibt es nicht. Nur Zahlen des Statistischen Bundesamts, die
darüber keine Aussage treffen. Auch deshalb nicht, weil die Systematik zur
Erfassung von Schwangerschaftsabbrüchen mit der Gesetzesänderung umgestellt
wurde. Danach brechen seit 1996 etwa 0,7 Prozent aller Frauen zwischen 15
und 45 Jahren eine Schwangerschaft ab.
## Heikle Themen werden ausgespart
Die dürftige Studienlage zu dem Thema ist Symptom des kollektiven
Verdrängungswillens in allen Lagern. Bis 2017, [4][als sich die Ärztin
Kristina Hänel gegen das Informationsverbot] zu Abtreibungen wehrte, waren
auch diejenigen stumm, die ein liberaleres Gesetz wollen. Nach dem Motto:
Nur keine schlafenden Hunde wecken! Vielleicht bringt in vier Jahren
[5][die Studie von Minister Jens Spahn] zur „psychosozialen Situation und
Unterstützungsbedarf von Frauen mit ungewollter Schwangerschaft“ Licht ins
Dunkel. Das wäre eine Pointe, denn seine Partei, die CDU, ist die einzige,
die den Paragrafen 218 so richtig gern hat.
Wenn nun erforscht würde, wie sich der Zwangscharakter der Beratung auf die
Entscheidung auswirkt, käme dabei womöglich heraus: dass es keinen Raum für
Zweifel gibt, ob eine Frau das Kind vielleicht doch bekommen möchte. Diesen
Verdacht hatten in einer [6][Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung] aus dem Jahr 2016 Berater*innen geäußert. Die
Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther, selbst
Psychotherapeutin, [7][hatte es 2017 in einem taz-Interview so formuliert]:
„Wer mit einer Haltung in die Beratung geht, ich muss alles tun, damit ich
den Schein bekomme, hat es schwer, sich widersprüchlichen Gefühlen zu
stellen.“
Das Gesetz soll auch verhindern, dass Föten aufgrund einer ungünstigen
Pränataldiagnose abgetrieben werden. Deshalb wurde 1995 die embryopathische
Indikation abgeschafft. Es könne „nur auf die Frau ankommen: auf ihre
Belastbarkeit, ihre Lebensperspektive“, [8][sagte damals in der
Bundestagsdebatte die SPD-Abgeordnete Inge Wettig-Danielmeier]. So steht es
auch im Gesetz. Doch ob das eingehalten wird? Auch dazu gibt es keine
systematische Untersuchung. Die BZgA-Studie, die einzige ihrer Art, spart
das heikle Thema aus.
Aufschlussreich ist eine [9][Studie der Universität Gießen] aus dem Jahr
2017. Diese hatte 160 Abbrüche nach der 14. Schwangerschaftswoche
untersucht. Alle Föten hatten Fehlbildungen. Und eine taz-Recherche in
diesem Jahr zeigte, dass Frauen, die ein gesundes Kind erwarten, nur in
Ausnahmefällen die ärztliche Erlaubnis für eine Abtreibung bekommen, die
sie nach dem ersten Trimester brauchen. Der „seelische Gesundheitszustand“
der Frau, wie er in Paragraf 218a formuliert ist, spielt keine Rolle.
Wer sich für den Erhalt des Gesetzes einsetzt, setzt sogar die Gesundheit
von Frauen aufs Spiel. Mittlerweile berichtet nicht mehr nur die taz
darüber, [10][dass Frauen in mehreren Regionen bis zu 150 Kilometer] weit
fahren müssen für eine Abtreibung und [11][Ärzt*innen keine
Nachfolger*innen finden], wenn sie in Rente gehen. Wer beteiligt sich
schon gern an einer Straftat? Daher laufen auch die Vorhaben der
Bundesregierung ins Leere, Ärzt*innen für diese Tätigkeit über mehr
Weiterbildungsangebote zu gewinnen.
## Risiko für Komplikationen
Weniger Ärzt*innen, längere Anreisen bedeuten: Abbrüche werden sich in
spätere Schwangerschaftswochen verschieben. Dabei nimmt das Risiko für
Komplikationen mit fortschreitender Schwangerschaft zu. Ob das bereits in
den betroffenen Regionen der Fall ist? Unbekannt. Die Statistik, die zwar
die Dauer der Schwangerschaft angibt, ist nur auf Länderebene verfügbar.
Daher ist auch der zweite Teil der [12][Studie des Gesundheitsministers
eine Mogelpackung]. Die soll „deutschlandweit, vollständig“ die
Versorgungssituation erheben. Doch um diese Daten generieren zu dürfen,
müsste das Statistik-Gesetz geändert werden.
Das ist alles kein Geheimwissen. Dennoch traut sich niemand an das Thema
heran. Auch Göring-Eckardt begründet das Nichthandeln ihrer Fraktion mit
der Sorge vor einem Pakt reaktionärer Kräfte. Doch glaubt sie wirklich,
dass das Bundesverfassungsgericht eine Verschärfung von Paragraf 218 dulden
würde? Zudem erfüllt dieser nur einen Zweck: diejenigen ruhigzustellen, die
Abtreibungen am liebsten ganz verbieten möchten. Wie erfolgreich das war,
lässt sich immer häufiger vor Beratungsstellen und Arztpraxen beobachten,
vor denen [13][selbsternannte „Lebensschützer*innen“ Mahnwachen halten].
Die Gesetze sind ihnen zwar zu lasch, geben ihnen aber recht im Glauben,
dass Abtreibungen falsch sind. Eine Gesellschaft, die das
Selbstbestimmungsrecht von Frauen ernst nimmt, muss klar sagen: Es ist ihr
gutes Recht, Schwangerschaften abzubrechen. Und ihnen alle Hilfen anbieten,
die sie brauchen. Ob sie das Kind bekommen oder nicht.
29 Jun 2020
## LINKS
[1] /Interview-mit-Katrin-Goering-Eckardt/!5610757
[2] /Debatte-Sprache-und-Paragraph-219a/!5568971
[3] https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html
[4] /Werbung-fuer-Abtreibungen/!5444891
[5] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/B…
[6] https://www.bzga.de/infomaterialien/fachpublikationen/fachpublikationen/ban…
[7] /Gruene-ueber-Abtreibungsdebatte/!5429703
[8] http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13047.pdf
[9] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5406231/
[10] /Abtreibung-in-Deutschland/!5386152
[11] /Diskussion-um-Paragraf-218/!5565165
[12] /Studie-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!5644885
[13] /Mahnwachen-von-LebensschuetzerInnen/!5534842
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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