# taz.de -- Späte Schwangerschaftsabbrüche: Drei Komma drei Prozent | |
> Ralf Schild nimmt späte Schwangerschaftsbbrüche vor. Damit ist er | |
> ziemlich allein, denn viele Mediziner:innen ducken sich weg. | |
Bild: Weidekörbchen des Henriettenstifts in Hannover zur Aufbahrung tot gebore… | |
Die Weidekörbchen hat Anke Scholl extra anfertigen lassen, in Bioqualität. | |
In drei Größen liegen sie im Schrank der Geburtsstation des | |
[1][Henriettenstift]s in Hannover, neben winzigen Schlafsäcken. Darin | |
können tot geborene Kinder nach der Geburt aufgebahrt werden. „Hier, halten | |
'Se mal bitte.“ Anke Scholl, die Pastorin, drückt Ralf Schild, dem Chefarzt | |
der Geburtshilfe, ein Körbchen in die Hand. Für die Fotografin, die gerade | |
im lila Zimmer – gelegen in einem ruhigen Seitengang – Bilder macht. Hier | |
gebären oft die Frauen, deren Kinder [2][nach einem | |
Schwangerschaftsabbruch] tot zur Welt kommen. „Wir versuchen sie aus dem | |
Getümmel des Kreißsaal-Geschehens herauszuhalten“, sagt Scholl. | |
An diesem Nachmittag Mitte September ist es ruhig auf der Station. Nur eine | |
Frau in den Wehen läuft auf und ab. Das kann sich jederzeit ändern: Das | |
Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft ist mit jährlich 4.107 Geburten | |
Deutschlands zweitgrößte Geburtsklinik. | |
Diese Geschichte handelt davon, warum ausgerechnet in diesem | |
konfessionellen Haus Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von Fehlbildungen | |
stattfinden. Auch nach der 22. Woche nach Empfängnis, zu einem Zeitpunkt, | |
an dem die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs | |
überleben können. Deshalb werden sie vor Einleitung der Geburt mit einer | |
Kaliumchloridspritze ins Herz getötet. Das Henriettenstift ist eine der | |
wenigen Kliniken in Deutschland, [3][in denen diese medizinische Leistung] | |
regelhaft angeboten wird – und die das nicht versteckt. | |
In dieser Geschichte geht es nicht nur um den Mut eines Arztes und seines | |
Teams. Sie handelt auch davon, wie Schwangere und ihre Partner:innen in | |
Deutschland dem Zufall und der Entscheidungsmacht von Ärzt:innen | |
ausgeliefert sind, wenn sie eine Schwangerschaft nach den ersten drei | |
Monaten abbrechen wollen – eine vom Gesetzgeber willkürlich festgelegte | |
Frist. Danach greift die Ausnahmeregelung des Strafrechtsparagrafen 218 | |
nicht mehr, der Abtreibungen bis zur 12. Woche nach Pflichtberatung und | |
dreitägiger Bedenkzeit erlaubt. | |
## 3,3 Prozent aller Abtreibungen | |
Über die frühen Schwangerschaftsabbrüche wird wieder diskutiert. Nicht aber | |
über die späten. Sie machten im vergangenen Jahr 3,3 Prozent aller | |
Abtreibungen aus. Tatsache ist: Wenn die Versorgungssituation in den ersten | |
drei Monaten in vielen Regionen schon dramatisch ist, dann ist sie das | |
danach nahezu flächendeckend katastrophal. Und das bei stetig steigenden | |
Zahlen: Im vergangenen Jahr hat es laut Statistischem Bundesamt 3.068 | |
Abbrüche nach der 12. Woche gegeben, davon 728 nach der 22. Woche. Das sind | |
im Vergleich mit dem Jahr 2010 knapp 20 Prozent mehr nach der 12. und knapp | |
60 Prozent mehr nach der 22. Woche. | |
Wie viele Schwangerschaften jenseits der 28. oder gar der 34. Woche | |
abgebrochen werden, ist unbekannt. Es gehört zu den Besonderheiten des | |
deutschen Abtreibungsrechts, dass eine detaillierte Statistik nur bis zur | |
22. Woche verfügbar ist. Danach will man es nicht mehr so genau wissen. | |
„Einen kollektiven Abwehrprozess“, nennt die Pastorin Anke Scholl den | |
Umgang der Deutschen mit dem Thema Spätabtreibung. | |
„Das hätte ich mir nie vorstellen können“, ist der Satz, den sie fast imm… | |
hört, wenn sie das erste Mal mit Frauen oder Paaren über ihren Wunsch | |
spricht, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie hatten die | |
Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen, ohne sich überlegt zu haben, | |
was sie machen, wenn dabei eine Fehlbildung gefunden wird. Und jetzt sind | |
sie im Henriettenstift und sprechen nicht über die Geburt, sondern über | |
eine Abtreibung. | |
Anke Scholl ist die Erste, der sie hier begegnen. Sie „eröffnet einen | |
Raum“, wie sie es nennt, versucht herauszufinden, in welcher Situation sich | |
die Betroffenen befinden, ob eine Frau die Abtreibung will oder jemand | |
anderes. Ob sie sich mit Alternativen zum Abbruch beschäftigt haben. Dass | |
eine Pastorin sie empfängt, wundere die wenigsten, sagt Anke Scholl. „Ich | |
glaube, sie sind froh, überhaupt mit jemand ausführlich und in Ruhe | |
sprechen zu können.“ | |
Dennoch ist ihre Rolle erklärungsbedürftig, denn offiziell gibt es sie gar | |
nicht. [4][Das Gesetz schreibt nur den Ärzt:innen vor], Frauen vor späten | |
Abbrüchen zu beraten. Die wiederum benötigen die Bescheinigung eines Arztes | |
oder einer Ärztin, dass ein Fortsetzen der Schwangerschaft ihre seelische | |
oder körperliche Gesundheit bedroht. So steht es seit 1995 im Gesetz. Zuvor | |
galt eine Fehlbildung des Fötus als Indikation für eine Abtreibung. | |
De facto gilt das weiter. Denn fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach den | |
ersten zwölf Wochen geschehen [5][aufgrund einer pränatal diagnostizierten | |
Behinderung]. Das zeigen die Daten der einzigen beiden Kliniken, die ihre | |
Zahlen öffentlich gemacht haben, der Universitätskliniken Gießen und | |
Leipzig. Und obwohl es um den Zustand der Frau gehen soll, stellen in der | |
Regel nicht Psychiater:innen oder Psycholog:innen die Bescheinigung | |
aus, sondern Gynäkolog:innen. Zu ihrer Qualifikation schweigt sich das | |
Gesetz aus. Es müssen nur andere Ärzt:innen sein als die, die den Abbruch | |
durchführen. | |
## Die Probleme beginnen mit der Beratung | |
Wer ein voraussichtlich behindertes Kind erwartet, hat keine Probleme, die | |
Bescheinigung zu bekommen. Zum einen sei dies die einzige Antwort, die | |
Ärzt:innen verzweifelten Eltern geben können, wenn diese nach einem | |
niederschmetternden Befund fragen: „Was können wir machen?“ Das sagt die | |
Gynäkologin und Psychotherapeutin Juliane Marschke. Sie hat anderthalb | |
Jahre in der Geburtshilfe der Berliner Charité gearbeitet und Frauen dort | |
psychosomatisch betreut, unter anderem während eines | |
Schwangerschaftsabbruchs. „Wir Ärzt:innen wollen immer etwas tun, dabei | |
geht das in diesen Fällen kaum.“ Das Wichtigste sei, den Druck | |
rauszunehmen, [6][damit die Frau eine Entscheidung treffen kann], hinter | |
der sie steht. | |
Zum anderen schützen sich Ärzt:innen mit den Indikationen vor | |
Schadensersatzansprüchen, wenn sie eine Fehlbildung übersehen und den | |
Eltern damit die Möglichkeit eines Abbruchs genommen haben. So irre es | |
klingen mag: Ärzt:innen riskieren in Deutschland eine zivilrechtliche | |
Klage, wenn sie eine Straftat nicht ermöglicht haben. Nach Paragraf 218 | |
sind Schwangerschaftsabbrüche Tötungsdelikte. | |
Doch wer die Indikation hat, muss eine zweite Hürde überwinden, die nicht | |
im Gesetz steht. Denn die Kliniken nehmen nicht jede Patientin. Sie | |
beurteilen ein zweites Mal, ob aus ihrer Sicht ein Austragen der | |
Schwangerschaft zumutbar ist. Das hat damit zu tun, dass niemand gerne | |
diese späten Abbrüche macht. Aber auch damit, dass die Indikation so | |
schnell gestellt wird. | |
Die Hürde besteht im guten Fall aus Menschen wie Anke Scholl und dem | |
Chefarzt Ralf Schild, die sich die Zeit nehmen, eine Frau oder ein Paar | |
kennen zu lernen, um ihren Wunsch nach einem Abbruch zu verstehen. | |
Objektive Kriterien, von denen sie sich leiten lassen können, gibt es | |
nicht: Auch hierzu sagt das Gesetz nichts – weil sich eine Straftat nicht | |
regulieren lässt. | |
„Es ist immer eine Gewissensentscheidung, kein Schwarz-Weiß-Business“, sagt | |
Ralf Schild, jeder Fall sei anders. Mal ist die Behinderung sehr | |
schwerwiegend, aber eine Frau oder ein Paar kommt im Gespräch mit ihm, der | |
Pastorin und der Kinderärztin zu der Entscheidung, die Schwangerschaft | |
auszutragen. Oder die Prognose ist recht gut, aber die Elternbeziehung | |
wirkt labil, vielleicht gibt es noch zwei kleine Kinder. Von vornherein | |
Nein sagt Schild nur bei leicht operierbaren Behinderungen wie einer | |
Gaumenspalte oder fehlenden Fingern. Auch Fetozide zwecks | |
„Mehrlingsreduktion“ mache er nicht. Und: „Je weiter die Schwangerschaft | |
fortgeschritten, desto höher die Messlatte.“ | |
Auch wenn Anke Scholl bei den Gesprächen dabei ist und ihre Einschätzung | |
gibt: Die Entscheidung trifft Schild am Ende selbst. „Ich traue mir das zu, | |
sonst würde ich es nicht machen“, sagt er. Wie groß die Verantwortung ist, | |
die der Gesetzgeber Mediziner:innen wie ihm auferlegt hat, zeigt ein | |
Satz, den der 60-Jährige etwas später äußert: „Die Sorge ist, dass | |
Enttäuschte Suizid begehen.“ | |
An vielen Kliniken gibt es Ethikkomitees, die über Spätabtreibungen | |
entscheiden. Sie treten in der Regel ad hoc zusammen, ohne Geschäftsordnung | |
oder gewählte Mitglieder. Je nach Haltung der Teilnehmer:innen erleben | |
die Frauen das als Gespräch oder als Verhör. Im Henriettenstift sind sie | |
meistens zu dritt, anderswo sitzen bis zu 15 Leute beisammen. Ralf Schild | |
hat das an anderen Häusern erlebt. „Wie ein Tribunal“ sei ihm das | |
vorgekommen. | |
## Sinn und Unsinn von Ethikkomitees | |
Der Leiter der Geburtshilfe am Leipziger Uniklinikum, Holger Stepan, lehnt | |
Ethikkomitees ab. „Die helfen nicht den Betroffenen, sondern den Ärzten, | |
die sich hinter der Entscheidung der Gruppe verstecken können“, sagt er am | |
Telefon. Er habe Paare erlebt, die das traumatisiert habe. „Die gehen durch | |
die Hölle, kämpfen mit einer schweren Entscheidung und müssen sich dann vor | |
Personen rechtfertigen, die weder die konkrete noch die künftige | |
Lebenssituation einschätzen können.“ | |
Allerdings müssen sich diejenigen glücklich schätzen, die vor einem solchen | |
Tribunal überhaupt vorsprechen dürfen. Denn nur wenige Kliniken machen | |
Abbrüche nach der 12. Woche, noch weniger nach der 22. Wie viele es sind, | |
weiß niemand. | |
Die wenigen Kliniken, die es regelhaft und nicht nur im absoluten | |
Ausnahmefall tun, schreiben es nicht auf ihre Internetseiten – obwohl sie | |
es nach [7][Abschaffung des „Werbeverbotsparagrafen“ 219a] dürften. Auch | |
Beratungsstellen können selten weiterhelfen, heißt es in einer [8][Studie | |
der Hochschule Merseburg im Auftrag von Pro Familia]. Von 46 Kliniken, die | |
im vergangenen Jahr an deren Befragung zu Spätabbrüchen teilgenommen | |
hatten, waren nur zehn einverstanden, wenn ihre Kontaktdaten an Betroffene | |
weitergegeben werden. | |
## „Alles unklar bis zum Abwinken“ | |
Eine Klinik für einen späten Abbruch zu finden, war noch nie leicht, sagt | |
Renate Rosenberg, eine Gynäkologin, die seit 1996 eine Praxis für | |
Pränataldiagnostik in Münster hat. Spezialisierte Ärzt:innen wie sie sind | |
häufig diejenigen, die für ihre Patient:innen eine Klinik suchen, wenn | |
sie per Ultraschall eine Fehlbildung entdeckt haben. „Es ist alles unklar | |
bis zum Abwinken“, sagt sie am Telefon, „es hat etwas mit persönlichen | |
Kontakten und Gefälligkeiten zu tun, und das in Situationen, in denen | |
Menschen schwer in Not sind.“ | |
Renate Rosenberg ist Vizechefin ihres Fachverbands in der Deutschen | |
Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin. Vor einem Jahr hat sie die | |
Mitglieder darum gebeten, ihre Erfahrungen mit Spätabtreibungen zu | |
schildern. „Es war entsetzlich, was die Kolleg:innen berichteten“, sagt | |
sie. In vielen Regionen werde es immer schwerer, Kliniken zu finden, in | |
Süddeutschland ganz besonders. | |
Rosenberg erfuhr von ihren Kolleg:innen, dass sie immer häufiger in ihren | |
Praxen den Fetozid, die Tötung des Fötus, vornehmen, weil die Kliniken das | |
verweigern. Manche nehmen die Patientinnen dann zur Geburt an. Ein Beispiel | |
ist die Uniklinik Essen, die bestätigt, es gebe ein entsprechendes | |
Arrangement mit einer Praxis. Zur Begründung sagt ein Sprecher der Klinik: | |
„Man muss nicht alles machen, was man machen kann.“ | |
Besonders erschüttert haben Rosenberg Berichte aus Süddeutschland, wo | |
Frauen mit totem Kind im Bauch von mehreren Kliniken abgewiesen wurden. Das | |
ist nicht nur psychisch eine extreme Belastung, sondern auch potenziell | |
lebensgefährlich. Wenn Lebensgefahr besteht, dürfen Ärzt:innen ihre | |
Teilnahme am Schwangerschaftsabbruch nicht verweigern, [9][so steht es im | |
Gesetz.] | |
## Das große Schweigen um die Zahlen | |
Um herauszubekommen, auf welche Kliniken sich das Gros der Spätabtreibungen | |
verteilt, habe ich alle 33 Unikliniken mit eigener geburtshilflicher | |
Abteilung angeschrieben. Sie sind als Häuser der Maximalversorgung so | |
ausgestattet, dass sie Schwangerschaften bis kurz vor der Geburt abbrechen | |
können. Geantwortet haben 30, davon macht eine Klinik gar keine Abbrüche, | |
eine sagt, nur bis zur 12., zwei weitere bis zur 22. Woche. Viele sagen, es | |
handle sich um seltene Einzelfälle, bei anderen lässt sich dies aus den | |
jährlichen Qualitätsberichten ablesen. | |
Beantworten kann ich meine Ausgangsfrage nicht, da 13 Kliniken keine Zahlen | |
herausgeben – darunter die, von denen bekannt ist, dass dort | |
überdurchschnittlich viele Spätabbrüche stattfinden. Wenn sie es begründen, | |
dann mit der Angst vor Angriffen durch Fundamentalist:innen sowie der | |
Sorge vor „Abtreibungstourismus“. Einige Antwort-Mails beginnen mit dem | |
Hinweis, es handle sich um ein „sensibles Thema“, zu dem man „zum Schutz | |
der Patientinnen“ nichts sagen wolle. Diejenigen, die Zahlen nennen, | |
befürchten, die Einzigen zu sein, die im Artikel vorkommen. Ein Chefarzt | |
bittet darum, darüber nicht zu schreiben, um keine Diskussion anzufachen, | |
die eine Verschlechterung der Situation bewirkt. | |
In diesem Gemenge von Intransparenz und Geheimniskrämerei sitzen die | |
Pastorin Anke Scholl und der Pränataldiagnostiker Ralf Schild in dessen | |
geräumigen Chefarztzimmer im Erdgeschoss des Henriettenstifts in Hannover. | |
Sie erklären das Verfahren, wenn sie eine Anfrage auf einen späten | |
Schwangerschaftsabbruch bekommen. Vom ersten Anruf bis zur Entlassung aus | |
der Klinik – sollte es zum Abbruch kommen. | |
Dass es ein solches Verfahren gibt, mit klaren Handlungsschritten sowie | |
eine Mitarbeiterin wie Anke Scholl, die eine Frau oder ein Paar von Anfang | |
bis Ende begleitet, ist keine Selbstverständlichkeit. In anderen Kliniken | |
müssten die Mitarbeiter:innen oft erst einmal die Zuständigkeiten | |
klären, sagt Ulf Gronau, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in | |
Hannover. Er und seine Kolleg:innen helfen in Einzelfällen Schwangeren, | |
die nach den ersten drei Monaten eine Abtreibung benötigen. Auch das | |
Henriettenstift entscheide nicht immer so, wie die Frauen es sich wünschen, | |
sagt Ulf Gronau. „Aber die Tür ist erst einmal offen.“ | |
Auch mir als taz-Redakteurin wurde ein Gespräch angeboten, bevor ich danach | |
gefragt hatte. Nur die Zahlen, die wollte auch der Pressesprecher des | |
Klinikträgers Diakovere zunächst nicht verraten. Schwangerschaftsabbrüche | |
sind die einzige medizinische Leistung, mit der man sich angreifbar macht. | |
Auch im eigenen Haus, erst recht in einem evangelischen. Als mit Ralf | |
Schilds Einstellung in Hannover vor 14 Jahren die Abtreibungszahlen | |
stiegen, beschwerten sich Mitarbeiter:innen bei Lokalzeitungen. | |
Diskutiert würde immer noch gelegentlich, aber die frühere theologische | |
Geschäftsführung habe die Einstellung vertreten, dass christliche | |
Nächstenliebe bedeutet, allen Menschen in Not zumindest ein | |
Gesprächsangebot zu machen, sagt Ralf Schild. | |
Am Ende des dreistündigen Besuchs schreibt er die Zahlen auf einen kleinen | |
Zettel und schiebt ihn über den Konferenztisch. 29 Abbrüche, davon 10 | |
Fetozide, gab es danach im ersten Halbjahr dieses Jahres. Zum Vergleich: An | |
der medizinischen Hochschule Hannover – einer Uniklinik – waren es gerade | |
einmal sieben. Und in ganz Niedersachsen gab es in diesem Zeitraum 67 | |
Abbrüche nach der 12. Woche, davon 9 nach der 22. Woche, die in der Regel | |
mit Fetozid einhergehen. Das Henriettenstift trägt damit die Hauptlast in | |
dem Bundesland. | |
## Problematische Verteilung | |
Dabei selektiert die Klinik relativ stark und nimmt keine Patientinnen aus | |
anderen Bundesländern. Andere Krankenhäuser machen zwei bis drei Mal so | |
viele Abbrüche und sagen das auch öffentlich. Bei denen, die ihre Zahlen | |
geheim halten, sind es teils noch mehr. Mit allen Belastungen auch für die | |
Mitarbeiter:innen. „Es bringt alle Beteiligten in Grenzsituationen“, | |
sagt Anke Scholl. | |
Die Last könnte anders verteilt werden: Es gibt in Deutschland 211 | |
Geburtskliniken, die als Perinatalzentren der Level I und II klassifiziert | |
sind, in denen Kinderärzt:innen und OP-Teams bereitstehen. Dazu gehören | |
die Unikliniken. Wenn sie alle späte Schwangerschaftsabbrüche durchführen | |
würden, wären es pro Haus gerade einmal 14 im vergangenen Jahr gewesen. | |
Fetozide gäbe es nur drei bis vier im Jahr. Statt 60 wie etwa am | |
Universitätsklinikum Leipzig. | |
Dessen Leiter der Geburtsmedizin, Holger Stepan, ist der Arzt in | |
Deutschland, der am offensivsten mit dem Thema umgeht. Er hat vor einem | |
Jahr eine wissenschaftliche Publikation zu Fetoziden in seiner Klinik | |
veröffentlicht. Es geht ihm nicht nur um Transparenz, sondern auch um | |
professionelles medizinisches Handeln. Das Thema ist kein Gegenstand von | |
Fachtagungen, und [10][die medizinische Leitlinie], die die Deutsche | |
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gerade entwickelt, behandelt | |
nur den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche. | |
Seine Klinik versorge weitgehend die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt | |
und Thüringen, erzählt er am Telefon, „das schaffen wir gut, aber mehr geht | |
nicht, wir wollen keine Abtreibungsklinik sein“. Jede Woche habe er | |
Anfragen aus anderen Bundesländern, vor allem aus Bayern und | |
Baden-Württemberg, sagt Stepan. „Die Kollegen ducken sich weg.“ | |
Dass nicht jedes Kreiskrankenhaus das mache, sei richtig, weil es auch | |
Expertise brauche, aber Häuser der Maximalversorgung wie die Unikliniken | |
müssten sich auch der „dark side of the moon“ in der Pränatalmedizin | |
stellen, wie er es nennt. Es ärgert ihn, wenn die großen Kliniken | |
Pränataldiagnostik auf höchstem Niveau anbieten, aber keine oder kaum | |
Abbrüche machen. „Das geht nicht.“ | |
Dasselbe sagt Ralf Schild in Hannover. Er macht Pränataldiagnostik auf | |
diesem Niveau, Degum Stufe III heißt das. Wer so klassifiziert ist, soll | |
Fehlbildungen am Ultraschall am besten einschätzen können. Die Diagnostik | |
kann in manchen Fällen Leben retten oder zumindest Leiden lindern, wenn | |
noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt das Neugeborene | |
so operiert werden kann, dass seine Überlebenschancen steigen, die | |
Lebensqualität verbessert wird. Doch allzu oft gibt es nach pathologischen | |
Befunden keine Heilungsmöglichkeit, nur das Aushalten dessen, was ist. | |
Aber was macht er, wenn eine Frau oder ein Paar sagt, „das schaffen wir | |
nicht“? Schild ist zu dem Schluss gekommen, dass er Verantwortung | |
übernehmen muss. „Man darf nicht dort aufhören, wo es wehtut“, sagt er. | |
Menschen in solchen Notsituationen sollten nicht herumfahren müssen, | |
sondern bräuchten eine gute heimatnahe Versorgung für die Zeit des Abbruchs | |
und danach. Denn: „Sie verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“ | |
24 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.diakovere.de/unternehmen-und-mehr/krankenhaeuser/henriettenstif… | |
[2] /Frauenrechte-in-Deutschland/!5866465 | |
[3] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5881694 | |
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218c.html | |
[5] /Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768 | |
[6] /Britische-Aerztin-ueber-Abtreibungen/!5760130 | |
[7] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863226 | |
[8] https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/Schwang… | |
[9] https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html | |
[10] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/015-094.html | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
Medizin | |
GNS | |
Familie | |
Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
Ableismus | |
Paragraf 218 | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Paragraf 218 | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
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