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# taz.de -- Späte Schwangerschaftsabbrüche: Drei Komma drei Prozent
> Ralf Schild nimmt späte Schwangerschaftsbbrüche vor. Damit ist er
> ziemlich allein, denn viele Mediziner:innen ducken sich weg.
Bild: Weidekörbchen des Henriettenstifts in Hannover zur Aufbahrung tot gebore…
Die Weidekörbchen hat Anke Scholl extra anfertigen lassen, in Bioqualität.
In drei Größen liegen sie im Schrank der Geburtsstation des
[1][Henriettenstift]s in Hannover, neben winzigen Schlafsäcken. Darin
können tot geborene Kinder nach der Geburt aufgebahrt werden. „Hier, halten
'Se mal bitte.“ Anke Scholl, die Pastorin, drückt Ralf Schild, dem Chefarzt
der Geburtshilfe, ein Körbchen in die Hand. Für die Fotografin, die gerade
im lila Zimmer – gelegen in einem ruhigen Seitengang – Bilder macht. Hier
gebären oft die Frauen, deren Kinder [2][nach einem
Schwangerschaftsabbruch] tot zur Welt kommen. „Wir versuchen sie aus dem
Getümmel des Kreißsaal-Geschehens herauszuhalten“, sagt Scholl.
An diesem Nachmittag Mitte September ist es ruhig auf der Station. Nur eine
Frau in den Wehen läuft auf und ab. Das kann sich jederzeit ändern: Das
Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft ist mit jährlich 4.107 Geburten
Deutschlands zweitgrößte Geburtsklinik.
Diese Geschichte handelt davon, warum ausgerechnet in diesem
konfessionellen Haus Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von Fehlbildungen
stattfinden. Auch nach der 22. Woche nach Empfängnis, zu einem Zeitpunkt,
an dem die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs
überleben können. Deshalb werden sie vor Einleitung der Geburt mit einer
Kaliumchloridspritze ins Herz getötet. Das Henriettenstift ist eine der
wenigen Kliniken in Deutschland, [3][in denen diese medizinische Leistung]
regelhaft angeboten wird – und die das nicht versteckt.
In dieser Geschichte geht es nicht nur um den Mut eines Arztes und seines
Teams. Sie handelt auch davon, wie Schwangere und ihre Partner:innen in
Deutschland dem Zufall und der Entscheidungsmacht von Ärzt:innen
ausgeliefert sind, wenn sie eine Schwangerschaft nach den ersten drei
Monaten abbrechen wollen – eine vom Gesetzgeber willkürlich festgelegte
Frist. Danach greift die Ausnahmeregelung des Strafrechtsparagrafen 218
nicht mehr, der Abtreibungen bis zur 12. Woche nach Pflichtberatung und
dreitägiger Bedenkzeit erlaubt.
## 3,3 Prozent aller Abtreibungen
Über die frühen Schwangerschaftsabbrüche wird wieder diskutiert. Nicht aber
über die späten. Sie machten im vergangenen Jahr 3,3 Prozent aller
Abtreibungen aus. Tatsache ist: Wenn die Versorgungssituation in den ersten
drei Monaten in vielen Regionen schon dramatisch ist, dann ist sie das
danach nahezu flächendeckend katastrophal. Und das bei stetig steigenden
Zahlen: Im vergangenen Jahr hat es laut Statistischem Bundesamt 3.068
Abbrüche nach der 12. Woche gegeben, davon 728 nach der 22. Woche. Das sind
im Vergleich mit dem Jahr 2010 knapp 20 Prozent mehr nach der 12. und knapp
60 Prozent mehr nach der 22. Woche.
Wie viele Schwangerschaften jenseits der 28. oder gar der 34. Woche
abgebrochen werden, ist unbekannt. Es gehört zu den Besonderheiten des
deutschen Abtreibungsrechts, dass eine detaillierte Statistik nur bis zur
22. Woche verfügbar ist. Danach will man es nicht mehr so genau wissen.
„Einen kollektiven Abwehrprozess“, nennt die Pastorin Anke Scholl den
Umgang der Deutschen mit dem Thema Spätabtreibung.
„Das hätte ich mir nie vorstellen können“, ist der Satz, den sie fast imm…
hört, wenn sie das erste Mal mit Frauen oder Paaren über ihren Wunsch
spricht, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie hatten die
Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen, ohne sich überlegt zu haben,
was sie machen, wenn dabei eine Fehlbildung gefunden wird. Und jetzt sind
sie im Henriettenstift und sprechen nicht über die Geburt, sondern über
eine Abtreibung.
Anke Scholl ist die Erste, der sie hier begegnen. Sie „eröffnet einen
Raum“, wie sie es nennt, versucht herauszufinden, in welcher Situation sich
die Betroffenen befinden, ob eine Frau die Abtreibung will oder jemand
anderes. Ob sie sich mit Alternativen zum Abbruch beschäftigt haben. Dass
eine Pastorin sie empfängt, wundere die wenigsten, sagt Anke Scholl. „Ich
glaube, sie sind froh, überhaupt mit jemand ausführlich und in Ruhe
sprechen zu können.“
Dennoch ist ihre Rolle erklärungsbedürftig, denn offiziell gibt es sie gar
nicht. [4][Das Gesetz schreibt nur den Ärzt:innen vor], Frauen vor späten
Abbrüchen zu beraten. Die wiederum benötigen die Bescheinigung eines Arztes
oder einer Ärztin, dass ein Fortsetzen der Schwangerschaft ihre seelische
oder körperliche Gesundheit bedroht. So steht es seit 1995 im Gesetz. Zuvor
galt eine Fehlbildung des Fötus als Indikation für eine Abtreibung.
De facto gilt das weiter. Denn fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach den
ersten zwölf Wochen geschehen [5][aufgrund einer pränatal diagnostizierten
Behinderung]. Das zeigen die Daten der einzigen beiden Kliniken, die ihre
Zahlen öffentlich gemacht haben, der Universitätskliniken Gießen und
Leipzig. Und obwohl es um den Zustand der Frau gehen soll, stellen in der
Regel nicht Psychiater:innen oder Psycholog:innen die Bescheinigung
aus, sondern Gynäkolog:innen. Zu ihrer Qualifikation schweigt sich das
Gesetz aus. Es müssen nur andere Ärzt:innen sein als die, die den Abbruch
durchführen.
## Die Probleme beginnen mit der Beratung
Wer ein voraussichtlich behindertes Kind erwartet, hat keine Probleme, die
Bescheinigung zu bekommen. Zum einen sei dies die einzige Antwort, die
Ärzt:innen verzweifelten Eltern geben können, wenn diese nach einem
niederschmetternden Befund fragen: „Was können wir machen?“ Das sagt die
Gynäkologin und Psychotherapeutin Juliane Marschke. Sie hat anderthalb
Jahre in der Geburtshilfe der Berliner Charité gearbeitet und Frauen dort
psychosomatisch betreut, unter anderem während eines
Schwangerschaftsabbruchs. „Wir Ärzt:innen wollen immer etwas tun, dabei
geht das in diesen Fällen kaum.“ Das Wichtigste sei, den Druck
rauszunehmen, [6][damit die Frau eine Entscheidung treffen kann], hinter
der sie steht.
Zum anderen schützen sich Ärzt:innen mit den Indikationen vor
Schadensersatzansprüchen, wenn sie eine Fehlbildung übersehen und den
Eltern damit die Möglichkeit eines Abbruchs genommen haben. So irre es
klingen mag: Ärzt:innen riskieren in Deutschland eine zivilrechtliche
Klage, wenn sie eine Straftat nicht ermöglicht haben. Nach Paragraf 218
sind Schwangerschaftsabbrüche Tötungsdelikte.
Doch wer die Indikation hat, muss eine zweite Hürde überwinden, die nicht
im Gesetz steht. Denn die Kliniken nehmen nicht jede Patientin. Sie
beurteilen ein zweites Mal, ob aus ihrer Sicht ein Austragen der
Schwangerschaft zumutbar ist. Das hat damit zu tun, dass niemand gerne
diese späten Abbrüche macht. Aber auch damit, dass die Indikation so
schnell gestellt wird.
Die Hürde besteht im guten Fall aus Menschen wie Anke Scholl und dem
Chefarzt Ralf Schild, die sich die Zeit nehmen, eine Frau oder ein Paar
kennen zu lernen, um ihren Wunsch nach einem Abbruch zu verstehen.
Objektive Kriterien, von denen sie sich leiten lassen können, gibt es
nicht: Auch hierzu sagt das Gesetz nichts – weil sich eine Straftat nicht
regulieren lässt.
„Es ist immer eine Gewissensentscheidung, kein Schwarz-Weiß-Business“, sagt
Ralf Schild, jeder Fall sei anders. Mal ist die Behinderung sehr
schwerwiegend, aber eine Frau oder ein Paar kommt im Gespräch mit ihm, der
Pastorin und der Kinderärztin zu der Entscheidung, die Schwangerschaft
auszutragen. Oder die Prognose ist recht gut, aber die Elternbeziehung
wirkt labil, vielleicht gibt es noch zwei kleine Kinder. Von vornherein
Nein sagt Schild nur bei leicht operierbaren Behinderungen wie einer
Gaumenspalte oder fehlenden Fingern. Auch Fetozide zwecks
„Mehrlingsreduktion“ mache er nicht. Und: „Je weiter die Schwangerschaft
fortgeschritten, desto höher die Messlatte.“
Auch wenn Anke Scholl bei den Gesprächen dabei ist und ihre Einschätzung
gibt: Die Entscheidung trifft Schild am Ende selbst. „Ich traue mir das zu,
sonst würde ich es nicht machen“, sagt er. Wie groß die Verantwortung ist,
die der Gesetzgeber Mediziner:innen wie ihm auferlegt hat, zeigt ein
Satz, den der 60-Jährige etwas später äußert: „Die Sorge ist, dass
Enttäuschte Suizid begehen.“
An vielen Kliniken gibt es Ethikkomitees, die über Spätabtreibungen
entscheiden. Sie treten in der Regel ad hoc zusammen, ohne Geschäftsordnung
oder gewählte Mitglieder. Je nach Haltung der Teilnehmer:innen erleben
die Frauen das als Gespräch oder als Verhör. Im Henriettenstift sind sie
meistens zu dritt, anderswo sitzen bis zu 15 Leute beisammen. Ralf Schild
hat das an anderen Häusern erlebt. „Wie ein Tribunal“ sei ihm das
vorgekommen.
## Sinn und Unsinn von Ethikkomitees
Der Leiter der Geburtshilfe am Leipziger Uniklinikum, Holger Stepan, lehnt
Ethikkomitees ab. „Die helfen nicht den Betroffenen, sondern den Ärzten,
die sich hinter der Entscheidung der Gruppe verstecken können“, sagt er am
Telefon. Er habe Paare erlebt, die das traumatisiert habe. „Die gehen durch
die Hölle, kämpfen mit einer schweren Entscheidung und müssen sich dann vor
Personen rechtfertigen, die weder die konkrete noch die künftige
Lebenssituation einschätzen können.“
Allerdings müssen sich diejenigen glücklich schätzen, die vor einem solchen
Tribunal überhaupt vorsprechen dürfen. Denn nur wenige Kliniken machen
Abbrüche nach der 12. Woche, noch weniger nach der 22. Wie viele es sind,
weiß niemand.
Die wenigen Kliniken, die es regelhaft und nicht nur im absoluten
Ausnahmefall tun, schreiben es nicht auf ihre Internetseiten – obwohl sie
es nach [7][Abschaffung des „Werbeverbotsparagrafen“ 219a] dürften. Auch
Beratungsstellen können selten weiterhelfen, heißt es in einer [8][Studie
der Hochschule Merseburg im Auftrag von Pro Familia]. Von 46 Kliniken, die
im vergangenen Jahr an deren Befragung zu Spätabbrüchen teilgenommen
hatten, waren nur zehn einverstanden, wenn ihre Kontaktdaten an Betroffene
weitergegeben werden.
## „Alles unklar bis zum Abwinken“
Eine Klinik für einen späten Abbruch zu finden, war noch nie leicht, sagt
Renate Rosenberg, eine Gynäkologin, die seit 1996 eine Praxis für
Pränataldiagnostik in Münster hat. Spezialisierte Ärzt:innen wie sie sind
häufig diejenigen, die für ihre Patient:innen eine Klinik suchen, wenn
sie per Ultraschall eine Fehlbildung entdeckt haben. „Es ist alles unklar
bis zum Abwinken“, sagt sie am Telefon, „es hat etwas mit persönlichen
Kontakten und Gefälligkeiten zu tun, und das in Situationen, in denen
Menschen schwer in Not sind.“
Renate Rosenberg ist Vizechefin ihres Fachverbands in der Deutschen
Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin. Vor einem Jahr hat sie die
Mitglieder darum gebeten, ihre Erfahrungen mit Spätabtreibungen zu
schildern. „Es war entsetzlich, was die Kolleg:innen berichteten“, sagt
sie. In vielen Regionen werde es immer schwerer, Kliniken zu finden, in
Süddeutschland ganz besonders.
Rosenberg erfuhr von ihren Kolleg:innen, dass sie immer häufiger in ihren
Praxen den Fetozid, die Tötung des Fötus, vornehmen, weil die Kliniken das
verweigern. Manche nehmen die Patientinnen dann zur Geburt an. Ein Beispiel
ist die Uniklinik Essen, die bestätigt, es gebe ein entsprechendes
Arrangement mit einer Praxis. Zur Begründung sagt ein Sprecher der Klinik:
„Man muss nicht alles machen, was man machen kann.“
Besonders erschüttert haben Rosenberg Berichte aus Süddeutschland, wo
Frauen mit totem Kind im Bauch von mehreren Kliniken abgewiesen wurden. Das
ist nicht nur psychisch eine extreme Belastung, sondern auch potenziell
lebensgefährlich. Wenn Lebensgefahr besteht, dürfen Ärzt:innen ihre
Teilnahme am Schwangerschaftsabbruch nicht verweigern, [9][so steht es im
Gesetz.]
## Das große Schweigen um die Zahlen
Um herauszubekommen, auf welche Kliniken sich das Gros der Spätabtreibungen
verteilt, habe ich alle 33 Unikliniken mit eigener geburtshilflicher
Abteilung angeschrieben. Sie sind als Häuser der Maximalversorgung so
ausgestattet, dass sie Schwangerschaften bis kurz vor der Geburt abbrechen
können. Geantwortet haben 30, davon macht eine Klinik gar keine Abbrüche,
eine sagt, nur bis zur 12., zwei weitere bis zur 22. Woche. Viele sagen, es
handle sich um seltene Einzelfälle, bei anderen lässt sich dies aus den
jährlichen Qualitätsberichten ablesen.
Beantworten kann ich meine Ausgangsfrage nicht, da 13 Kliniken keine Zahlen
herausgeben – darunter die, von denen bekannt ist, dass dort
überdurchschnittlich viele Spätabbrüche stattfinden. Wenn sie es begründen,
dann mit der Angst vor Angriffen durch Fundamentalist:innen sowie der
Sorge vor „Abtreibungstourismus“. Einige Antwort-Mails beginnen mit dem
Hinweis, es handle sich um ein „sensibles Thema“, zu dem man „zum Schutz
der Patientinnen“ nichts sagen wolle. Diejenigen, die Zahlen nennen,
befürchten, die Einzigen zu sein, die im Artikel vorkommen. Ein Chefarzt
bittet darum, darüber nicht zu schreiben, um keine Diskussion anzufachen,
die eine Verschlechterung der Situation bewirkt.
In diesem Gemenge von Intransparenz und Geheimniskrämerei sitzen die
Pastorin Anke Scholl und der Pränataldiagnostiker Ralf Schild in dessen
geräumigen Chefarztzimmer im Erdgeschoss des Henriettenstifts in Hannover.
Sie erklären das Verfahren, wenn sie eine Anfrage auf einen späten
Schwangerschaftsabbruch bekommen. Vom ersten Anruf bis zur Entlassung aus
der Klinik – sollte es zum Abbruch kommen.
Dass es ein solches Verfahren gibt, mit klaren Handlungsschritten sowie
eine Mitarbeiterin wie Anke Scholl, die eine Frau oder ein Paar von Anfang
bis Ende begleitet, ist keine Selbstverständlichkeit. In anderen Kliniken
müssten die Mitarbeiter:innen oft erst einmal die Zuständigkeiten
klären, sagt Ulf Gronau, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in
Hannover. Er und seine Kolleg:innen helfen in Einzelfällen Schwangeren,
die nach den ersten drei Monaten eine Abtreibung benötigen. Auch das
Henriettenstift entscheide nicht immer so, wie die Frauen es sich wünschen,
sagt Ulf Gronau. „Aber die Tür ist erst einmal offen.“
Auch mir als taz-Redakteurin wurde ein Gespräch angeboten, bevor ich danach
gefragt hatte. Nur die Zahlen, die wollte auch der Pressesprecher des
Klinikträgers Diakovere zunächst nicht verraten. Schwangerschaftsabbrüche
sind die einzige medizinische Leistung, mit der man sich angreifbar macht.
Auch im eigenen Haus, erst recht in einem evangelischen. Als mit Ralf
Schilds Einstellung in Hannover vor 14 Jahren die Abtreibungszahlen
stiegen, beschwerten sich Mitarbeiter:innen bei Lokalzeitungen.
Diskutiert würde immer noch gelegentlich, aber die frühere theologische
Geschäftsführung habe die Einstellung vertreten, dass christliche
Nächstenliebe bedeutet, allen Menschen in Not zumindest ein
Gesprächsangebot zu machen, sagt Ralf Schild.
Am Ende des dreistündigen Besuchs schreibt er die Zahlen auf einen kleinen
Zettel und schiebt ihn über den Konferenztisch. 29 Abbrüche, davon 10
Fetozide, gab es danach im ersten Halbjahr dieses Jahres. Zum Vergleich: An
der medizinischen Hochschule Hannover – einer Uniklinik – waren es gerade
einmal sieben. Und in ganz Niedersachsen gab es in diesem Zeitraum 67
Abbrüche nach der 12. Woche, davon 9 nach der 22. Woche, die in der Regel
mit Fetozid einhergehen. Das Henriettenstift trägt damit die Hauptlast in
dem Bundesland.
## Problematische Verteilung
Dabei selektiert die Klinik relativ stark und nimmt keine Patientinnen aus
anderen Bundesländern. Andere Krankenhäuser machen zwei bis drei Mal so
viele Abbrüche und sagen das auch öffentlich. Bei denen, die ihre Zahlen
geheim halten, sind es teils noch mehr. Mit allen Belastungen auch für die
Mitarbeiter:innen. „Es bringt alle Beteiligten in Grenzsituationen“,
sagt Anke Scholl.
Die Last könnte anders verteilt werden: Es gibt in Deutschland 211
Geburtskliniken, die als Perinatalzentren der Level I und II klassifiziert
sind, in denen Kinderärzt:innen und OP-Teams bereitstehen. Dazu gehören
die Unikliniken. Wenn sie alle späte Schwangerschaftsabbrüche durchführen
würden, wären es pro Haus gerade einmal 14 im vergangenen Jahr gewesen.
Fetozide gäbe es nur drei bis vier im Jahr. Statt 60 wie etwa am
Universitätsklinikum Leipzig.
Dessen Leiter der Geburtsmedizin, Holger Stepan, ist der Arzt in
Deutschland, der am offensivsten mit dem Thema umgeht. Er hat vor einem
Jahr eine wissenschaftliche Publikation zu Fetoziden in seiner Klinik
veröffentlicht. Es geht ihm nicht nur um Transparenz, sondern auch um
professionelles medizinisches Handeln. Das Thema ist kein Gegenstand von
Fachtagungen, und [10][die medizinische Leitlinie], die die Deutsche
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gerade entwickelt, behandelt
nur den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche.
Seine Klinik versorge weitgehend die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen, erzählt er am Telefon, „das schaffen wir gut, aber mehr geht
nicht, wir wollen keine Abtreibungsklinik sein“. Jede Woche habe er
Anfragen aus anderen Bundesländern, vor allem aus Bayern und
Baden-Württemberg, sagt Stepan. „Die Kollegen ducken sich weg.“
Dass nicht jedes Kreiskrankenhaus das mache, sei richtig, weil es auch
Expertise brauche, aber Häuser der Maximalversorgung wie die Unikliniken
müssten sich auch der „dark side of the moon“ in der Pränatalmedizin
stellen, wie er es nennt. Es ärgert ihn, wenn die großen Kliniken
Pränataldiagnostik auf höchstem Niveau anbieten, aber keine oder kaum
Abbrüche machen. „Das geht nicht.“
Dasselbe sagt Ralf Schild in Hannover. Er macht Pränataldiagnostik auf
diesem Niveau, Degum Stufe III heißt das. Wer so klassifiziert ist, soll
Fehlbildungen am Ultraschall am besten einschätzen können. Die Diagnostik
kann in manchen Fällen Leben retten oder zumindest Leiden lindern, wenn
noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt das Neugeborene
so operiert werden kann, dass seine Überlebenschancen steigen, die
Lebensqualität verbessert wird. Doch allzu oft gibt es nach pathologischen
Befunden keine Heilungsmöglichkeit, nur das Aushalten dessen, was ist.
Aber was macht er, wenn eine Frau oder ein Paar sagt, „das schaffen wir
nicht“? Schild ist zu dem Schluss gekommen, dass er Verantwortung
übernehmen muss. „Man darf nicht dort aufhören, wo es wehtut“, sagt er.
Menschen in solchen Notsituationen sollten nicht herumfahren müssen,
sondern bräuchten eine gute heimatnahe Versorgung für die Zeit des Abbruchs
und danach. Denn: „Sie verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“
24 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.diakovere.de/unternehmen-und-mehr/krankenhaeuser/henriettenstif…
[2] /Frauenrechte-in-Deutschland/!5866465
[3] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5881694
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218c.html
[5] /Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768
[6] /Britische-Aerztin-ueber-Abtreibungen/!5760130
[7] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863226
[8] https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/Schwang…
[9] https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html
[10] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/015-094.html
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Abtreibung
Medizin
GNS
Familie
Schwerpunkt Feministischer Kampftag
Ableismus
Paragraf 218
Schwerpunkt Paragraf 219a
Paragraf 218
Schwerpunkt Abtreibung
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