| # taz.de -- Späte Schwangerschaftsabbrüche: Drei Komma drei Prozent | |
| > Ralf Schild nimmt späte Schwangerschaftsbbrüche vor. Damit ist er | |
| > ziemlich allein, denn viele Mediziner:innen ducken sich weg. | |
| Bild: Weidekörbchen des Henriettenstifts in Hannover zur Aufbahrung tot gebore… | |
| Die Weidekörbchen hat Anke Scholl extra anfertigen lassen, in Bioqualität. | |
| In drei Größen liegen sie im Schrank der Geburtsstation des | |
| [1][Henriettenstift]s in Hannover, neben winzigen Schlafsäcken. Darin | |
| können tot geborene Kinder nach der Geburt aufgebahrt werden. „Hier, halten | |
| 'Se mal bitte.“ Anke Scholl, die Pastorin, drückt Ralf Schild, dem Chefarzt | |
| der Geburtshilfe, ein Körbchen in die Hand. Für die Fotografin, die gerade | |
| im lila Zimmer – gelegen in einem ruhigen Seitengang – Bilder macht. Hier | |
| gebären oft die Frauen, deren Kinder [2][nach einem | |
| Schwangerschaftsabbruch] tot zur Welt kommen. „Wir versuchen sie aus dem | |
| Getümmel des Kreißsaal-Geschehens herauszuhalten“, sagt Scholl. | |
| An diesem Nachmittag Mitte September ist es ruhig auf der Station. Nur eine | |
| Frau in den Wehen läuft auf und ab. Das kann sich jederzeit ändern: Das | |
| Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft ist mit jährlich 4.107 Geburten | |
| Deutschlands zweitgrößte Geburtsklinik. | |
| Diese Geschichte handelt davon, warum ausgerechnet in diesem | |
| konfessionellen Haus Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von Fehlbildungen | |
| stattfinden. Auch nach der 22. Woche nach Empfängnis, zu einem Zeitpunkt, | |
| an dem die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs | |
| überleben können. Deshalb werden sie vor Einleitung der Geburt mit einer | |
| Kaliumchloridspritze ins Herz getötet. Das Henriettenstift ist eine der | |
| wenigen Kliniken in Deutschland, [3][in denen diese medizinische Leistung] | |
| regelhaft angeboten wird – und die das nicht versteckt. | |
| In dieser Geschichte geht es nicht nur um den Mut eines Arztes und seines | |
| Teams. Sie handelt auch davon, wie Schwangere und ihre Partner:innen in | |
| Deutschland dem Zufall und der Entscheidungsmacht von Ärzt:innen | |
| ausgeliefert sind, wenn sie eine Schwangerschaft nach den ersten drei | |
| Monaten abbrechen wollen – eine vom Gesetzgeber willkürlich festgelegte | |
| Frist. Danach greift die Ausnahmeregelung des Strafrechtsparagrafen 218 | |
| nicht mehr, der Abtreibungen bis zur 12. Woche nach Pflichtberatung und | |
| dreitägiger Bedenkzeit erlaubt. | |
| ## 3,3 Prozent aller Abtreibungen | |
| Über die frühen Schwangerschaftsabbrüche wird wieder diskutiert. Nicht aber | |
| über die späten. Sie machten im vergangenen Jahr 3,3 Prozent aller | |
| Abtreibungen aus. Tatsache ist: Wenn die Versorgungssituation in den ersten | |
| drei Monaten in vielen Regionen schon dramatisch ist, dann ist sie das | |
| danach nahezu flächendeckend katastrophal. Und das bei stetig steigenden | |
| Zahlen: Im vergangenen Jahr hat es laut Statistischem Bundesamt 3.068 | |
| Abbrüche nach der 12. Woche gegeben, davon 728 nach der 22. Woche. Das sind | |
| im Vergleich mit dem Jahr 2010 knapp 20 Prozent mehr nach der 12. und knapp | |
| 60 Prozent mehr nach der 22. Woche. | |
| Wie viele Schwangerschaften jenseits der 28. oder gar der 34. Woche | |
| abgebrochen werden, ist unbekannt. Es gehört zu den Besonderheiten des | |
| deutschen Abtreibungsrechts, dass eine detaillierte Statistik nur bis zur | |
| 22. Woche verfügbar ist. Danach will man es nicht mehr so genau wissen. | |
| „Einen kollektiven Abwehrprozess“, nennt die Pastorin Anke Scholl den | |
| Umgang der Deutschen mit dem Thema Spätabtreibung. | |
| „Das hätte ich mir nie vorstellen können“, ist der Satz, den sie fast imm… | |
| hört, wenn sie das erste Mal mit Frauen oder Paaren über ihren Wunsch | |
| spricht, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie hatten die | |
| Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen, ohne sich überlegt zu haben, | |
| was sie machen, wenn dabei eine Fehlbildung gefunden wird. Und jetzt sind | |
| sie im Henriettenstift und sprechen nicht über die Geburt, sondern über | |
| eine Abtreibung. | |
| Anke Scholl ist die Erste, der sie hier begegnen. Sie „eröffnet einen | |
| Raum“, wie sie es nennt, versucht herauszufinden, in welcher Situation sich | |
| die Betroffenen befinden, ob eine Frau die Abtreibung will oder jemand | |
| anderes. Ob sie sich mit Alternativen zum Abbruch beschäftigt haben. Dass | |
| eine Pastorin sie empfängt, wundere die wenigsten, sagt Anke Scholl. „Ich | |
| glaube, sie sind froh, überhaupt mit jemand ausführlich und in Ruhe | |
| sprechen zu können.“ | |
| Dennoch ist ihre Rolle erklärungsbedürftig, denn offiziell gibt es sie gar | |
| nicht. [4][Das Gesetz schreibt nur den Ärzt:innen vor], Frauen vor späten | |
| Abbrüchen zu beraten. Die wiederum benötigen die Bescheinigung eines Arztes | |
| oder einer Ärztin, dass ein Fortsetzen der Schwangerschaft ihre seelische | |
| oder körperliche Gesundheit bedroht. So steht es seit 1995 im Gesetz. Zuvor | |
| galt eine Fehlbildung des Fötus als Indikation für eine Abtreibung. | |
| De facto gilt das weiter. Denn fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach den | |
| ersten zwölf Wochen geschehen [5][aufgrund einer pränatal diagnostizierten | |
| Behinderung]. Das zeigen die Daten der einzigen beiden Kliniken, die ihre | |
| Zahlen öffentlich gemacht haben, der Universitätskliniken Gießen und | |
| Leipzig. Und obwohl es um den Zustand der Frau gehen soll, stellen in der | |
| Regel nicht Psychiater:innen oder Psycholog:innen die Bescheinigung | |
| aus, sondern Gynäkolog:innen. Zu ihrer Qualifikation schweigt sich das | |
| Gesetz aus. Es müssen nur andere Ärzt:innen sein als die, die den Abbruch | |
| durchführen. | |
| ## Die Probleme beginnen mit der Beratung | |
| Wer ein voraussichtlich behindertes Kind erwartet, hat keine Probleme, die | |
| Bescheinigung zu bekommen. Zum einen sei dies die einzige Antwort, die | |
| Ärzt:innen verzweifelten Eltern geben können, wenn diese nach einem | |
| niederschmetternden Befund fragen: „Was können wir machen?“ Das sagt die | |
| Gynäkologin und Psychotherapeutin Juliane Marschke. Sie hat anderthalb | |
| Jahre in der Geburtshilfe der Berliner Charité gearbeitet und Frauen dort | |
| psychosomatisch betreut, unter anderem während eines | |
| Schwangerschaftsabbruchs. „Wir Ärzt:innen wollen immer etwas tun, dabei | |
| geht das in diesen Fällen kaum.“ Das Wichtigste sei, den Druck | |
| rauszunehmen, [6][damit die Frau eine Entscheidung treffen kann], hinter | |
| der sie steht. | |
| Zum anderen schützen sich Ärzt:innen mit den Indikationen vor | |
| Schadensersatzansprüchen, wenn sie eine Fehlbildung übersehen und den | |
| Eltern damit die Möglichkeit eines Abbruchs genommen haben. So irre es | |
| klingen mag: Ärzt:innen riskieren in Deutschland eine zivilrechtliche | |
| Klage, wenn sie eine Straftat nicht ermöglicht haben. Nach Paragraf 218 | |
| sind Schwangerschaftsabbrüche Tötungsdelikte. | |
| Doch wer die Indikation hat, muss eine zweite Hürde überwinden, die nicht | |
| im Gesetz steht. Denn die Kliniken nehmen nicht jede Patientin. Sie | |
| beurteilen ein zweites Mal, ob aus ihrer Sicht ein Austragen der | |
| Schwangerschaft zumutbar ist. Das hat damit zu tun, dass niemand gerne | |
| diese späten Abbrüche macht. Aber auch damit, dass die Indikation so | |
| schnell gestellt wird. | |
| Die Hürde besteht im guten Fall aus Menschen wie Anke Scholl und dem | |
| Chefarzt Ralf Schild, die sich die Zeit nehmen, eine Frau oder ein Paar | |
| kennen zu lernen, um ihren Wunsch nach einem Abbruch zu verstehen. | |
| Objektive Kriterien, von denen sie sich leiten lassen können, gibt es | |
| nicht: Auch hierzu sagt das Gesetz nichts – weil sich eine Straftat nicht | |
| regulieren lässt. | |
| „Es ist immer eine Gewissensentscheidung, kein Schwarz-Weiß-Business“, sagt | |
| Ralf Schild, jeder Fall sei anders. Mal ist die Behinderung sehr | |
| schwerwiegend, aber eine Frau oder ein Paar kommt im Gespräch mit ihm, der | |
| Pastorin und der Kinderärztin zu der Entscheidung, die Schwangerschaft | |
| auszutragen. Oder die Prognose ist recht gut, aber die Elternbeziehung | |
| wirkt labil, vielleicht gibt es noch zwei kleine Kinder. Von vornherein | |
| Nein sagt Schild nur bei leicht operierbaren Behinderungen wie einer | |
| Gaumenspalte oder fehlenden Fingern. Auch Fetozide zwecks | |
| „Mehrlingsreduktion“ mache er nicht. Und: „Je weiter die Schwangerschaft | |
| fortgeschritten, desto höher die Messlatte.“ | |
| Auch wenn Anke Scholl bei den Gesprächen dabei ist und ihre Einschätzung | |
| gibt: Die Entscheidung trifft Schild am Ende selbst. „Ich traue mir das zu, | |
| sonst würde ich es nicht machen“, sagt er. Wie groß die Verantwortung ist, | |
| die der Gesetzgeber Mediziner:innen wie ihm auferlegt hat, zeigt ein | |
| Satz, den der 60-Jährige etwas später äußert: „Die Sorge ist, dass | |
| Enttäuschte Suizid begehen.“ | |
| An vielen Kliniken gibt es Ethikkomitees, die über Spätabtreibungen | |
| entscheiden. Sie treten in der Regel ad hoc zusammen, ohne Geschäftsordnung | |
| oder gewählte Mitglieder. Je nach Haltung der Teilnehmer:innen erleben | |
| die Frauen das als Gespräch oder als Verhör. Im Henriettenstift sind sie | |
| meistens zu dritt, anderswo sitzen bis zu 15 Leute beisammen. Ralf Schild | |
| hat das an anderen Häusern erlebt. „Wie ein Tribunal“ sei ihm das | |
| vorgekommen. | |
| ## Sinn und Unsinn von Ethikkomitees | |
| Der Leiter der Geburtshilfe am Leipziger Uniklinikum, Holger Stepan, lehnt | |
| Ethikkomitees ab. „Die helfen nicht den Betroffenen, sondern den Ärzten, | |
| die sich hinter der Entscheidung der Gruppe verstecken können“, sagt er am | |
| Telefon. Er habe Paare erlebt, die das traumatisiert habe. „Die gehen durch | |
| die Hölle, kämpfen mit einer schweren Entscheidung und müssen sich dann vor | |
| Personen rechtfertigen, die weder die konkrete noch die künftige | |
| Lebenssituation einschätzen können.“ | |
| Allerdings müssen sich diejenigen glücklich schätzen, die vor einem solchen | |
| Tribunal überhaupt vorsprechen dürfen. Denn nur wenige Kliniken machen | |
| Abbrüche nach der 12. Woche, noch weniger nach der 22. Wie viele es sind, | |
| weiß niemand. | |
| Die wenigen Kliniken, die es regelhaft und nicht nur im absoluten | |
| Ausnahmefall tun, schreiben es nicht auf ihre Internetseiten – obwohl sie | |
| es nach [7][Abschaffung des „Werbeverbotsparagrafen“ 219a] dürften. Auch | |
| Beratungsstellen können selten weiterhelfen, heißt es in einer [8][Studie | |
| der Hochschule Merseburg im Auftrag von Pro Familia]. Von 46 Kliniken, die | |
| im vergangenen Jahr an deren Befragung zu Spätabbrüchen teilgenommen | |
| hatten, waren nur zehn einverstanden, wenn ihre Kontaktdaten an Betroffene | |
| weitergegeben werden. | |
| ## „Alles unklar bis zum Abwinken“ | |
| Eine Klinik für einen späten Abbruch zu finden, war noch nie leicht, sagt | |
| Renate Rosenberg, eine Gynäkologin, die seit 1996 eine Praxis für | |
| Pränataldiagnostik in Münster hat. Spezialisierte Ärzt:innen wie sie sind | |
| häufig diejenigen, die für ihre Patient:innen eine Klinik suchen, wenn | |
| sie per Ultraschall eine Fehlbildung entdeckt haben. „Es ist alles unklar | |
| bis zum Abwinken“, sagt sie am Telefon, „es hat etwas mit persönlichen | |
| Kontakten und Gefälligkeiten zu tun, und das in Situationen, in denen | |
| Menschen schwer in Not sind.“ | |
| Renate Rosenberg ist Vizechefin ihres Fachverbands in der Deutschen | |
| Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin. Vor einem Jahr hat sie die | |
| Mitglieder darum gebeten, ihre Erfahrungen mit Spätabtreibungen zu | |
| schildern. „Es war entsetzlich, was die Kolleg:innen berichteten“, sagt | |
| sie. In vielen Regionen werde es immer schwerer, Kliniken zu finden, in | |
| Süddeutschland ganz besonders. | |
| Rosenberg erfuhr von ihren Kolleg:innen, dass sie immer häufiger in ihren | |
| Praxen den Fetozid, die Tötung des Fötus, vornehmen, weil die Kliniken das | |
| verweigern. Manche nehmen die Patientinnen dann zur Geburt an. Ein Beispiel | |
| ist die Uniklinik Essen, die bestätigt, es gebe ein entsprechendes | |
| Arrangement mit einer Praxis. Zur Begründung sagt ein Sprecher der Klinik: | |
| „Man muss nicht alles machen, was man machen kann.“ | |
| Besonders erschüttert haben Rosenberg Berichte aus Süddeutschland, wo | |
| Frauen mit totem Kind im Bauch von mehreren Kliniken abgewiesen wurden. Das | |
| ist nicht nur psychisch eine extreme Belastung, sondern auch potenziell | |
| lebensgefährlich. Wenn Lebensgefahr besteht, dürfen Ärzt:innen ihre | |
| Teilnahme am Schwangerschaftsabbruch nicht verweigern, [9][so steht es im | |
| Gesetz.] | |
| ## Das große Schweigen um die Zahlen | |
| Um herauszubekommen, auf welche Kliniken sich das Gros der Spätabtreibungen | |
| verteilt, habe ich alle 33 Unikliniken mit eigener geburtshilflicher | |
| Abteilung angeschrieben. Sie sind als Häuser der Maximalversorgung so | |
| ausgestattet, dass sie Schwangerschaften bis kurz vor der Geburt abbrechen | |
| können. Geantwortet haben 30, davon macht eine Klinik gar keine Abbrüche, | |
| eine sagt, nur bis zur 12., zwei weitere bis zur 22. Woche. Viele sagen, es | |
| handle sich um seltene Einzelfälle, bei anderen lässt sich dies aus den | |
| jährlichen Qualitätsberichten ablesen. | |
| Beantworten kann ich meine Ausgangsfrage nicht, da 13 Kliniken keine Zahlen | |
| herausgeben – darunter die, von denen bekannt ist, dass dort | |
| überdurchschnittlich viele Spätabbrüche stattfinden. Wenn sie es begründen, | |
| dann mit der Angst vor Angriffen durch Fundamentalist:innen sowie der | |
| Sorge vor „Abtreibungstourismus“. Einige Antwort-Mails beginnen mit dem | |
| Hinweis, es handle sich um ein „sensibles Thema“, zu dem man „zum Schutz | |
| der Patientinnen“ nichts sagen wolle. Diejenigen, die Zahlen nennen, | |
| befürchten, die Einzigen zu sein, die im Artikel vorkommen. Ein Chefarzt | |
| bittet darum, darüber nicht zu schreiben, um keine Diskussion anzufachen, | |
| die eine Verschlechterung der Situation bewirkt. | |
| In diesem Gemenge von Intransparenz und Geheimniskrämerei sitzen die | |
| Pastorin Anke Scholl und der Pränataldiagnostiker Ralf Schild in dessen | |
| geräumigen Chefarztzimmer im Erdgeschoss des Henriettenstifts in Hannover. | |
| Sie erklären das Verfahren, wenn sie eine Anfrage auf einen späten | |
| Schwangerschaftsabbruch bekommen. Vom ersten Anruf bis zur Entlassung aus | |
| der Klinik – sollte es zum Abbruch kommen. | |
| Dass es ein solches Verfahren gibt, mit klaren Handlungsschritten sowie | |
| eine Mitarbeiterin wie Anke Scholl, die eine Frau oder ein Paar von Anfang | |
| bis Ende begleitet, ist keine Selbstverständlichkeit. In anderen Kliniken | |
| müssten die Mitarbeiter:innen oft erst einmal die Zuständigkeiten | |
| klären, sagt Ulf Gronau, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in | |
| Hannover. Er und seine Kolleg:innen helfen in Einzelfällen Schwangeren, | |
| die nach den ersten drei Monaten eine Abtreibung benötigen. Auch das | |
| Henriettenstift entscheide nicht immer so, wie die Frauen es sich wünschen, | |
| sagt Ulf Gronau. „Aber die Tür ist erst einmal offen.“ | |
| Auch mir als taz-Redakteurin wurde ein Gespräch angeboten, bevor ich danach | |
| gefragt hatte. Nur die Zahlen, die wollte auch der Pressesprecher des | |
| Klinikträgers Diakovere zunächst nicht verraten. Schwangerschaftsabbrüche | |
| sind die einzige medizinische Leistung, mit der man sich angreifbar macht. | |
| Auch im eigenen Haus, erst recht in einem evangelischen. Als mit Ralf | |
| Schilds Einstellung in Hannover vor 14 Jahren die Abtreibungszahlen | |
| stiegen, beschwerten sich Mitarbeiter:innen bei Lokalzeitungen. | |
| Diskutiert würde immer noch gelegentlich, aber die frühere theologische | |
| Geschäftsführung habe die Einstellung vertreten, dass christliche | |
| Nächstenliebe bedeutet, allen Menschen in Not zumindest ein | |
| Gesprächsangebot zu machen, sagt Ralf Schild. | |
| Am Ende des dreistündigen Besuchs schreibt er die Zahlen auf einen kleinen | |
| Zettel und schiebt ihn über den Konferenztisch. 29 Abbrüche, davon 10 | |
| Fetozide, gab es danach im ersten Halbjahr dieses Jahres. Zum Vergleich: An | |
| der medizinischen Hochschule Hannover – einer Uniklinik – waren es gerade | |
| einmal sieben. Und in ganz Niedersachsen gab es in diesem Zeitraum 67 | |
| Abbrüche nach der 12. Woche, davon 9 nach der 22. Woche, die in der Regel | |
| mit Fetozid einhergehen. Das Henriettenstift trägt damit die Hauptlast in | |
| dem Bundesland. | |
| ## Problematische Verteilung | |
| Dabei selektiert die Klinik relativ stark und nimmt keine Patientinnen aus | |
| anderen Bundesländern. Andere Krankenhäuser machen zwei bis drei Mal so | |
| viele Abbrüche und sagen das auch öffentlich. Bei denen, die ihre Zahlen | |
| geheim halten, sind es teils noch mehr. Mit allen Belastungen auch für die | |
| Mitarbeiter:innen. „Es bringt alle Beteiligten in Grenzsituationen“, | |
| sagt Anke Scholl. | |
| Die Last könnte anders verteilt werden: Es gibt in Deutschland 211 | |
| Geburtskliniken, die als Perinatalzentren der Level I und II klassifiziert | |
| sind, in denen Kinderärzt:innen und OP-Teams bereitstehen. Dazu gehören | |
| die Unikliniken. Wenn sie alle späte Schwangerschaftsabbrüche durchführen | |
| würden, wären es pro Haus gerade einmal 14 im vergangenen Jahr gewesen. | |
| Fetozide gäbe es nur drei bis vier im Jahr. Statt 60 wie etwa am | |
| Universitätsklinikum Leipzig. | |
| Dessen Leiter der Geburtsmedizin, Holger Stepan, ist der Arzt in | |
| Deutschland, der am offensivsten mit dem Thema umgeht. Er hat vor einem | |
| Jahr eine wissenschaftliche Publikation zu Fetoziden in seiner Klinik | |
| veröffentlicht. Es geht ihm nicht nur um Transparenz, sondern auch um | |
| professionelles medizinisches Handeln. Das Thema ist kein Gegenstand von | |
| Fachtagungen, und [10][die medizinische Leitlinie], die die Deutsche | |
| Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gerade entwickelt, behandelt | |
| nur den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche. | |
| Seine Klinik versorge weitgehend die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt | |
| und Thüringen, erzählt er am Telefon, „das schaffen wir gut, aber mehr geht | |
| nicht, wir wollen keine Abtreibungsklinik sein“. Jede Woche habe er | |
| Anfragen aus anderen Bundesländern, vor allem aus Bayern und | |
| Baden-Württemberg, sagt Stepan. „Die Kollegen ducken sich weg.“ | |
| Dass nicht jedes Kreiskrankenhaus das mache, sei richtig, weil es auch | |
| Expertise brauche, aber Häuser der Maximalversorgung wie die Unikliniken | |
| müssten sich auch der „dark side of the moon“ in der Pränatalmedizin | |
| stellen, wie er es nennt. Es ärgert ihn, wenn die großen Kliniken | |
| Pränataldiagnostik auf höchstem Niveau anbieten, aber keine oder kaum | |
| Abbrüche machen. „Das geht nicht.“ | |
| Dasselbe sagt Ralf Schild in Hannover. Er macht Pränataldiagnostik auf | |
| diesem Niveau, Degum Stufe III heißt das. Wer so klassifiziert ist, soll | |
| Fehlbildungen am Ultraschall am besten einschätzen können. Die Diagnostik | |
| kann in manchen Fällen Leben retten oder zumindest Leiden lindern, wenn | |
| noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt das Neugeborene | |
| so operiert werden kann, dass seine Überlebenschancen steigen, die | |
| Lebensqualität verbessert wird. Doch allzu oft gibt es nach pathologischen | |
| Befunden keine Heilungsmöglichkeit, nur das Aushalten dessen, was ist. | |
| Aber was macht er, wenn eine Frau oder ein Paar sagt, „das schaffen wir | |
| nicht“? Schild ist zu dem Schluss gekommen, dass er Verantwortung | |
| übernehmen muss. „Man darf nicht dort aufhören, wo es wehtut“, sagt er. | |
| Menschen in solchen Notsituationen sollten nicht herumfahren müssen, | |
| sondern bräuchten eine gute heimatnahe Versorgung für die Zeit des Abbruchs | |
| und danach. Denn: „Sie verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“ | |
| 24 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.diakovere.de/unternehmen-und-mehr/krankenhaeuser/henriettenstif… | |
| [2] /Frauenrechte-in-Deutschland/!5866465 | |
| [3] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5881694 | |
| [4] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218c.html | |
| [5] /Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768 | |
| [6] /Britische-Aerztin-ueber-Abtreibungen/!5760130 | |
| [7] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863226 | |
| [8] https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/Schwang… | |
| [9] https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html | |
| [10] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/015-094.html | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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