# taz.de -- Unter dem Deckmantel Soziale Arbeit: Ideologie macht Schule | |
> Soziale Arbeit? Gruppen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ verbreiten | |
> antifeministische und christlich-fundamentalistische Inhalte unter | |
> Teenagern. | |
Bild: Gehen gegen die rechtliche Selbstbestimmung von Schwangeren auf die Stra�… | |
LEIPZIG taz | Alexandra Linder zeigt ein Bild eines Zellhaufens in die | |
Kamera. Acht Kreise, aneinandergeklebt in einer kleinen, mit Flüssigkeit | |
gefüllten Kugel. [1][Mediziner*innen sagen dazu Blastozyste], | |
Alexandra Linder sagt: „Das hier ist ein vollständiger Mensch.“ Linder ist | |
ehemalige Bundesvorsitzende des Vereins Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) | |
und [2][eine bekannte Pro-Life-Aktivistin in Deutschland.] An diesem Tag | |
hält sie für den Jugendverband Jugend für das Leben (JfdL) einen | |
Onlinevortrag. | |
Ihre Botschaft an die 14 vor allem jungen Zuhörenden: Abtreibung, das sei | |
eine „vorgeburtliche Kindstötung“. Linder spricht von Entmenschlichung, von | |
Gewalt, von Brutalität. Wo die Medizin sagt, dass der Fötus bis zur [3][19. | |
Schwangerschaftswoche noch keine Schmerzen empfinden kann], formuliert | |
Linder: „Das Kind wird entmenschlicht und zerquetscht.“ | |
## Die Inhalte sind wissenschaftlich falsch | |
Hinter Linder und ALfA steckt ein bundesweites | |
christlich-fundamentalistisches Netzwerk. Das Ziel ist es, Jugendliche für | |
ihre Ideologie zu gewinnen. Mit Infoveranstaltungen wie dieser, dem | |
Verteilen von Goodie-Bags, „Pro-Life“-Touren durch Deutschland, | |
Argumentationsworkshops oder Mitmachaktionen sprechen sie vor allem | |
Jugendliche an, die Orientierung suchen. | |
Die Inhalte, die die [4][selbst ernannten Lebensschützer:innen] | |
verbreiten, sind zwar oft wissenschaftlich falsch, werden von der Gruppe | |
jedoch als neutrale Informationen verkauft. So beruft sich Linder in ihrem | |
Vortrag an keiner Stelle auf Gott oder die Schöpfung. Für junge Menschen, | |
die die ideologischen Hintergründe nicht kennen, ist der | |
fundamentalistische Grundtenor ihres Vortrags schwer zu erkennen. | |
„Diese Aktionen sind bewusst erlebnisorientiert“, sagt Len Schmid. Schmid | |
ist Sozialarbeiter*in und Sexualwissenschaftler*in und | |
beschäftigt sich als Projektreferent*in der Fachstelle „mobirex – | |
Monitoring, Bildung, Information“ in Baden-Württemberg schwerpunktmäßig mit | |
organisiertem Antifeminismus und [5][den Schnittstellen zur (extremen) | |
Rechten.] | |
Soziale Arbeit bei Jugendlichen durch antifeministische Akteure ist eines | |
der Kernthemen Schmids. Der Fokus liege hier auf der Anti-Choice-Arbeit und | |
der Informationsverbreitung gegen reproduktive und sexuelle | |
Selbstbestimmung. Bei der christlich-fundamentalistischen Sozialarbeit | |
identifiziert Schmid drei Säulen: Beratungsstellen, Jugendarbeit und | |
Sexualerziehung. | |
## Mitmachaktionen und fundamentalistische Literatur | |
Die Beratungsstellen konzentrieren sich vor allem auf das Thema | |
Schwangerschaftskonfliktberatung. Dabei geht es aber nicht etwa um eine | |
psychologische Beratung, wie [6][sie Pro Familia] beispielsweise leistet, | |
sondern vielmehr darum, den Aufsuchenden zu vermitteln, dass | |
Schwangerschaftsabbruch nicht nur ethisch falsch, sondern auch | |
traumatisierend für alle Beteiligten sei. Das vermeintliche | |
Post-Abortion-Syndrom, wie es die Abtreibungsgegner*innen nennen, ist | |
jedoch medizinisch nicht nachweisbar. | |
Bei der zweiten Säule, der Jugendarbeit, gibt es vor allem Mitmachaktionen | |
wie die Pro-Life-Tour. Die dritte Säule, die Sexualerziehung, geht mit den | |
anderen beiden Hand in Hand. Anti-Choice-Aktivist*innen sprechen auch | |
gezielt Schulen an, um dort Workshops zu geben. Mithilfe | |
christlich-fundamentalistischer Literatur, wozu auch das Buch „Schwanger | |
mit 16“ gehört, das die ALfA-Bundesvorsitzende Cornelia Kaminski | |
geschrieben hat, werden Moralvorstellungen wider die sexuelle | |
Selbstbestimmung vermittelt. | |
In dem Buch können Schüler*innen üben „pro choice-Argumente“ zu | |
entkräftigen. | |
„Es geht sehr stark darum, eine christliche Sexualmoral zu verbreiten“, | |
sagt Len Schmid. So werden antifeministische Thesen durch vermeintliche | |
Aufklärung unter Jugendliche gebracht, die ihren Zugang zur Sexualität | |
gerade erst ausbilden. | |
Ein prominenter Redner, der von ALfA an Schulen vermittelt wird, [7][ist | |
der Arzt Paul Cullen], der auch im Bundesverband Lebensrecht tätig ist. | |
Cullen äußert sich nicht nur immer wieder antifeministisch, sondern hat im | |
Kontext der Pandemie auch Verschwörungserzählungen verbreitet und 2016 | |
[8][an einem antisemitischen Manifest] mitgewirkt. | |
## In krisenhaften Zeiten bieten die Gruppen Halt | |
Immer wieder gibt es auch Verbindungen der Pro-Life-Bewegungen zu rechten | |
bis rechtsextremen Akteuren, die sich antifeministisch und queerfeindlich, | |
aber auch rassistisch äußern und entsprechend agieren. So ist es keine | |
Seltenheit, dass AfD-Mitglieder wie Beatrix von Storch an „Märschen für das | |
Leben“ teilnehmen. Auch wird positiv Bezug auf Staaten wie Ungarn oder | |
Polen genommen, in denen immer mehr antidemokratische und antifeministische | |
Gesetze verabschiedet werden. | |
Geht die Strategie der Vereinnahmung von sozialer Arbeit auf? „Für | |
Jugendliche sind das attraktive Angebote“, sagt Expert*in Schmid. „In | |
krisenhaften Zeiten bieten diese Gruppen etwas, woran sie sich festhalten | |
können.“ Vor allem die niedrigschwellige Ansprache und der | |
erlebnisorientierte Charakter der Veranstaltungen fördern das. Digitale | |
Angebote wie die Veranstaltung der JfdL vereinfachen den Zugang noch. | |
Allerdings gibt es keine Zahlen, die belegen können, wie erfolgreich die | |
Rekrutierung Jugendlicher durch christlich-fundamentalistische Gruppen | |
tatsächlich ist. | |
Um die Lücke zu schließen, die die Fundamentalist*innen bedienen, | |
brauche es eine Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit, die einem | |
emanzipatorischen Ansatz folgt und zur Demokratieförderung beiträgt, sagt | |
Len Schmid. Und: Aufklärungsarbeit, um die Ideologie hinter den Angeboten | |
sichtbar zu machen. Bei Lehrkräften und Pädagog*innen ebenso wie bei | |
Jugendlichen. | |
Bislang funktioniert solche Aufklärung nur wenig. So ist auf der vom | |
baden-württembergischen Kultusministerium geförderten Bildungsmesse didacta | |
in diesem Jahr auch ALfA mit einem Infostand vertreten. Antifeministische, | |
fundamentalistische Inhalte stehen auf diese Weise neben Biologiebüchern | |
und Englischheften – als wären sie wissenschaftlicher Standard. | |
Anm. d. R.: In einer früheren Version wurde in diesem Artikel ein Buchzitat | |
falsch zugeordnet. Außerdem hieß es zuvor fälschlicherweise, dass Linder | |
noch Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. sei. Wir haben | |
die entsprechende Stelle geändert. | |
8 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kuenstliche-Befruchtung-im-Ausland/!5656189 | |
[2] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5535227 | |
[3] https://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/abtreibungsgegner-vier-au… | |
[4] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5632756 | |
[5] /Kuratorin-ueber-rechte-Allianzen/!5797586 | |
[6] /Anleitung-zum-Schwangerschaftsabbruch/!5908090 | |
[7] /Lebensschuetzerin-trifft-Minister/!5660560 | |
[8] https://www.asta.ms/aktuelles-layout?id=125 | |
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