# taz.de -- Abtreibungen in Deutschland: Verheerende Versorgungslücken | |
> In NRW hat eine holländische Ärztin eine Praxis für | |
> Schwangerschaftsabbruch eröffnet. Das führte zu Demonstrationen. Dabei | |
> ist das Abtreibungsrecht rigide. | |
Bild: Im Namen Gottes gegen „teuflisches Grauen“: Abtreibungsgegner:innen v… | |
Ein grauhaariger Mann im Talar schwenkt ein Kruzifix, etwa einen halben | |
Meter hoch. Immer wieder zeigt er es den rund 100 | |
[1][Abtreibungsgegner:innen], die sich mit ihm am letzten Samstag im | |
November gegenüber eines Einkaufszentrums im Dortmunder Arbeiterstadtteil | |
Körne versammelt haben. Mantraartig beten sie das Vaterunser, das Ave | |
Maria. | |
Der Auflauf richtet sich gegen eine auf [2][Schwangerschaftsabbrüche | |
spezialisierte Praxis], die von der niederländischen Ärztin Gabie Raven am | |
2. November in dem Einkaufszentrum am Körner Hellweg eröffnet wurde. Die | |
61-Jährige betreibt bereits in den Niederlanden zwei solcher Praxen. | |
In den Niederlanden werden fast alle Schwangerschaften in | |
Abtreibungskliniken abgebrochen, 18 gibt es von ihnen. Auch deutsche Frauen | |
reisen zum Abbruch nach Holland, [3][1.125 waren es im Jahr 2020]. Die | |
meisten von ihnen befinden sich [4][nach taz-Recherchen] zwischen der 14. | |
und 24. Schwangerschaftswoche – damit wird jede dritte bis vierte | |
Schwangerschaft in diesem Zeitraum in den Niederlanden abgebrochen. | |
Das liegt daran, dass Abtreibungen in Holland bis zur 24. | |
Schwangerschaftswoche legal sind – in Deutschland muss nach der 12. Woche | |
nach Empfängnis ein Arzt oder eine Ärztin bescheinigen, dass ein Austragen | |
der Schwangerschaft die physische oder psychische Gesundheit der Frau | |
gefährdet. | |
Diese Bescheinigung bekommen fast nur Schwangere, [5][bei denen eine | |
Behinderung des Fötus diagnostiziert wurde]. Alle anderen müssen das Kind | |
bekommen – oder, wenn sie es sich leisten können, in die Niederlande | |
fahren. | |
## Frauen in ihrem eigenen Land helfen | |
Raven hat ihre Dortmunder Praxis eröffnet, weil immer häufiger Frauen zu | |
ihr nach Roermond nahe der deutsch-niederländischen Grenze gekommen seien, | |
die in Deutschland vor Ablauf der 12-Wochen-Frist niemand gefunden haben, | |
der ihnen hilft, sagt sie. Bis dahin sind Schwangerschaftsabbrüche | |
ebenfalls verboten, bleiben aber straffrei, wenn sich die Frau beraten | |
lassen und eine dreitägige Bedenkfrist eingehalten hat. | |
„Ich will, dass den Frauen im eigenen Land geholfen wird“, sagt Raven als | |
Antwort darauf, warum sie sich den Attacken der christlichen | |
Fundamentalist:innen aussetzt, die auch in den Niederlanden vor ihren | |
Praxen protestieren. „Die Frauen sollen sich nicht wie Kriminelle fühlen, | |
wenn sie die Landesgrenze überschreiten.“ | |
Die Ärztin füllt eine Lücke, die sich die [6][Deutschen mit ihrem rigiden | |
Abtreibungsrecht] selbst geschaffen haben. Seit Jahren warnen | |
Organisationen wie Pro Familia, die AWO und das Diakonische Werk, die | |
Frauen vor einem Abbruch beraten, davor, dass die Zahl der Ärzt:innen | |
zurückgeht, die Schwangerschaftsabbrüche in Kliniken oder Praxen anbieten. | |
Die Folge sind lange Wartezeiten, manchmal werden Termine abgesagt oder | |
verschoben – und die 12-Wochen-Frist verstreicht. | |
Genaue Zahlen über das Ausmaß der Versorgungslücken gibt es nicht, nur | |
Anhaltspunkte. Seit 2003 hat sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts | |
die Zahl der sogenannten Meldestellen, die angeben, Abtreibungen | |
durchgeführt zu haben, auf etwa 1.100 halbiert. | |
Verfügbar sind diese Daten nur auf Landes-, nicht auf Kreisebene. Daher ist | |
unklar, wie viele Praxen und Kliniken vor Ort tatsächlich Abbrüche | |
anbieten. Für Nordrhein-Westfalen erklärt das zuständige, von der Grünen | |
Josefine Paul geführte Familienministerium, im größten Bundesland mit | |
seinen 18 Millionen Einwohner:innen sei „grundsätzlich für Frauen die | |
Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, | |
sichergestellt“. | |
## Nicht genügend Praxen | |
Allerdings: Es gibt keinerlei Kriterien zur Überprüfung dieser Behauptung. | |
Die Bundesländer, heißt es im Schwangerschaftskonfliktgesetz, müssen für | |
ein „ausreichendes“ Angebot sorgen – ohne dass definiert ist, was | |
„ausreichend“ bedeutet. Herangezogen wird stets ein Satz aus einem Urteil | |
des Bundesverfassungsgerichts von 1993. | |
Danach soll eine Frau An- und Abreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln | |
innerhalb eines Tages bewältigen können. Außer Acht bleibt dabei, dass | |
sowohl beim medikamentösen als auch beim chirurgischen Abbruch meistens | |
zwei Termine in der Praxis anstehen. | |
Doch selbst im dicht besiedelten NRW dürften viele Frauen die Versorgung | |
kaum als „ausreichend“ empfinden. Eine Karte der Beratungsorganisation Pro | |
Familia zeigt im ländlichen Raum Regionen, in denen überhaupt keine | |
Möglichkeit besteht, eine Schwangerschaft abbrechen zu lassen – das gesamte | |
Sauerland, das Siegerland, die Eifel und der Niederrhein erscheinen als | |
weiße Flecken. | |
Größtenteils war das dort schon immer so. Doch weil immer mehr | |
Gynäkolog:innen in Rente gehen, für die Abbrüche zu ihrem Beruf | |
selbstverständlich dazugehören, wird es jetzt auch in den Ballungsgebieten | |
eng. | |
Auch in Großstädten wie Bochum, Gelsenkirchen oder Oberhausen mit mehr als | |
hunderttausend Einwohner:innen gibt es jeweils nur ein einziges | |
Angebot. In der rund 580.000 Menschen zählenden Stadt Essen melden | |
lediglich zwei Stellen die Möglichkeit eines Abbruchs. | |
Massiv verschlechtert hat sich die Versorgung auch in Dortmund. Gab es 2012 | |
noch neun Ärzt:innen, waren es bis zur Eröffnung der Praxis von Gabie Raven | |
nur noch drei, rechnet Dortmunds Gleichstellungsbeauftragte Maresa Feldmann | |
vor. Dass dieses zusammengeschrumpfte Angebot nun endlich wieder erweitert | |
werde, unterstütze sie sehr, sagt die Sozialwissenschaftlerin. | |
Deshalb stellt sie sich auch hinter Raven und ist Teil eines Bündnisses in | |
Dortmund, das gegen die Abtreibungsgegner:innen mobilisiert. Die | |
hetzen bereits seit Monaten gegen Gabie Raven, namentlich die bekannten | |
Fundamentalisten Klaus Günter Annen und Karl Noswitz. Eine „Massenmörderin�… | |
sei die Ärztin, heißt es in einem Flyer, mit dem ihr Vermieter, eine große | |
deutsche Versicherung, unter Druck gesetzt werden sollte. Und: An den | |
Produkten der Versicherung klebe „das Blut unschuldiger Kinder“. | |
Auf ihren Internetseiten gehen die beiden noch weiter. Ein „Ort teuflischen | |
Grauens“ sei die Praxis, schreibt Annen. Und Noswitz droht Ravens | |
Mitarbeiter:innen: „Sie werden in Zukunft ständig belästigt, beschimpft und | |
bedroht. Nicht nur während der Arbeit, auch abends auf dem Heimweg oder zu | |
Hause in Ihrer Wohnung. Wenn Ihnen nichts Schlimmeres passiert“, heißt es | |
auf der von ihm verantworteten Seite „Kindermord.de“. Wegen der Drohungen | |
ermittle der Staatsschutz, erklärt ein Polizeisprecher. | |
## Problematisches Schwangerschaftskonfliktgesetz | |
Vor einer Woche waren die Fundamentalist:innen noch einmal in Form | |
dreier Evangelikaler aus den Niederlanden angerückt. An dem Auto der drei | |
Männer, einem ausrangierten Krankenwagen, prangte ein Plakat mit der | |
Aufschrift „Abtreibung ist Babycaust“ – bis die Polizei eingriff. | |
Ihnen hatten sich mehr als 60 Menschen entgegengestellt, darunter | |
Ärzt:innen, Mitarbeiter:innen von Schwangerschaftsberatungsstellen, | |
Politiker:innen der SPD – aber auch der einstigen Satiretruppe Die | |
Partei. Organisiert hatte die Gegenwehr die Arbeitsgemeinschaft Dortmunder | |
Frauenverbände. Auf Nachfrage der taz verurteilte auch die grüne | |
Familienministerin Josefine Paul die Hetze gegen die Ärztin. „Absolut nicht | |
hinnehmbar“ sei der Versuch, Frauen „das Recht auf sexuelle | |
Selbstbestimmung und eine informierte Entscheidung über einen | |
Schwangerschaftsabbruch zu nehmen“. | |
Allerdings gibt die deutsche Gesetzgebung den Abtreibungsgegner:innen | |
recht. Danach sind nach dem Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs | |
Schwangerschaftsabbrüche Tötungsdelikte, das Schwangerschaftskonfliktgesetz | |
bemüht dasselbe Konstrukt des „ungeborenen Lebens“ wie christliche | |
Fundamentalist:innen. Und: CDU und FDP unterscheiden sich nur im Ton | |
von den Hetzer:innen, inhaltlich teilen sie die Position, dass Frauen | |
nicht alleine über ihren Körper entscheiden dürfen. | |
Beide Parteien halten an Paragraf 218 fest. Der sei „ein Relikt | |
patriarchaler Kultur“, hatte Dortmunds Gleichstellungsbeauftragte Feldmann | |
am Mittwoch auf der Gegendemonstration unter viel Applaus gesagt und seine | |
Abschaffung gefordert. Er kriminalisiere „seit 150 Jahren Schwangere und | |
Ärzt:innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen“. | |
Immerhin gegen die sogenannte „Gehsteigbelästigung vor Abtreibungspraxen | |
und Schwangerschaftsberatungsstellen“ will die Regierung jetzt vorgehen. | |
Noch dieses Jahr sollen solche Demonstrationen wie jetzt in Dortmund, bei | |
denen laut Augenzeug:innen Frauen auch immer wieder angesprochen oder | |
angefasst werden, als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. | |
Das hatte die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus im September | |
angekündigt. Gabie Raven wird weitermachen, sagt sie. „Auf keinen Fall“ | |
werde sie vor den militanten Abtreibungsgegner:innen zurückweichen. | |
7 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5881694 | |
[2] /Frauenrechte-in-Deutschland/!5899857 | |
[3] https://open.overheid.nl/repository/ronl-d18f3b07-782e-4b08-99c6-675b0d60ca… | |
[4] /Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768 | |
[5] /Spaete-Schwangerschaftsabbrueche/!5886892 | |
[6] /Gesetze-zum-Schwangerschaftsabbruch/!5889148 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
Eiken Bruhn | |
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