# taz.de -- Juristinnen über Abtreibungs-Regelung: „Freiheit über die Repro… | |
> Der Deutsche Juristinnenbund fordert, Schwangerschaftsabbrüche außerhalb | |
> des Strafgesetzbuches zu regeln. Was würde sich ändern? | |
Bild: Protest gegen christliche Abtreibungsgegner:innen in Berlin 2020 | |
taz: Frau Feldmann, in Ihrem Paper sprechen Sie sich dafür aus, dass | |
[1][Schwangerschaftsabbrüche] aus dem Strafgesetzbuch gehören. Warum? | |
Céline Feldmann: Wir haben das Thema intensiv diskutiert und dabei die | |
Grund- und Menschenrechte, die Rechtswirklichkeit und internationale | |
Erfahrungen einbezogen. Der Gesetzgeber hat die schwierige Aufgabe, | |
Selbstbestimmung und Lebensschutz im Blick zu haben. Das kann mit einer | |
Regelung außerhalb des Strafgesetzbuchs besser gelingen. | |
Valentina Chiofalo: Die Art und Weise, wie der Schwangerschaftsabbruch in | |
Deutschland geregelt ist, führt nicht dazu, dass der Zugang | |
[2][flächendeckend zur Verfügung steht]. Seit 2003 hat sich die Zahl der | |
Schwangerschaftsabbruchstellen fast halbiert. Wie wir den Abbruch in | |
Deutschland regeln, spiegelt auf einer faktischen Ebene nicht mehr die | |
Realität wider. Gleichzeitig führt eine Kriminalisierung zu einer enormen | |
Stigmatisierung. | |
CF: Eine solche Stigmatisierung führt im Fall des Schwangerschaftsabbruchs | |
zu Hemmschwellen, sich etwa über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren | |
oder sie als Ärztin zu unterstützen. Das geht letztendlich zulasten der | |
schwangeren Personen und vielleicht auch zulasten des ungeborenen Lebens. | |
Das heißt, eine bessere Versorgungslage wäre allein durch eine | |
Entkriminalisierung sichergestellt? | |
VC: Es geht nicht ausschließlich um die Frage der Frist und der | |
Entkriminalisierung. Das sind wichtige Fragen. Es geht auch darum, dass | |
dieser Zugang abgesichert wird, damit auch eine vollumfängliche | |
langfristige Versorgungslage besteht – unabhängig davon, wo man wohnt. | |
Es gibt das Argument, dass man keine Regelung für ungewollte | |
Schwangerschaftsabbrüche mehr hat, streiche man 218 aus dem | |
Strafgesetzbuch. Welche Lösung sieht der Deutsche Juristinnenbund (djb) | |
dafür vor? | |
CF: Das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person muss mehr in den | |
Mittelpunkt gerückt werden. Potenziell könnte man bereits jetzt einen | |
Abbruch gegen oder ohne Willen als Körperverletzung bestrafen oder | |
gegebenenfalls Nötigung. Dadurch kommt allerdings nicht zum Ausdruck, dass | |
das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person und die | |
Selbstbestimmung über den Körper verletzt wird. | |
Wie könnte das gesetzlich geregelt werden? | |
CF: Man könnte zum Beispiel einen Straftatbestand in 226b einführen, der | |
vor allem die Rechte der schwangeren Person schützt. „Gegen oder ohne | |
Wille“ macht erkennbar, dass es eine Zustimmung braucht, also es eines „Ja�… | |
zum Abbruch bedarf. | |
Beim djb setzen Sie sich auch dafür ein, dass über die zwölfte | |
Schwangerschaftswoche hinaus Abbrüche zulässig sein sollten – warum? | |
CF: Wir orientieren uns an internationalen Regelungen wie den Niederlanden, | |
die auf den Zeitpunkt der Überlebensfähigkeit abstellen. Der | |
frühestmögliche Zeitpunkt ist derzeit [3][die 22. Schwangerschaftswoche], | |
der spätestmögliche Zeitpunkt die 25.. Das muss der Gesetzgeber im Zweifel | |
entscheiden. Bis zu diesem Zeitpunkt sehen wir Schwangerschaftsabbrüche als | |
zulässig an. | |
VC: Ganz grundsätzlich werden Schwangerschaftsabbrüche ja deutlich früher | |
durchgeführt. Die Prozentzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Ländern wie | |
Kanada, wo es ja absolut gar keine Frist gibt, oder die Niederlande, die | |
eine deutlich spätere Frist haben, sind vergleichbar mit Deutschland, was | |
Abbrüche nach der 20. Woche betrifft. Es gibt daher keine Anhaltspunkte, | |
dass auf einmal alle schwangeren Personen bis zu 20 Wochen warten würden, | |
um einen Abbruch vorzunehmen. | |
Inwiefern spielt das Bundesverfassungsgericht eine Rolle? | |
CF: Dafür sind zwei Entscheidungen maßgebend, eine von 1975, eine von 1993. | |
Dort wurde statuiert, dass aufgrund des Schutzes des ungeborenen Lebens | |
eine Schutzpflicht des Staates folgt, Schwangerschaftsabbrüche | |
grundsätzlich zu kriminalisieren. Daraus folgt auch, dass die schwangere | |
Person bis heute grundsätzlich eine Pflicht zur Austragung des Fötus hat. | |
VC: Aber das Bundesverfassungsgericht ist offen für gesellschaftliche | |
Wandlungen. Wir haben 2017 gesehen in der Entscheidung zur dritten Option, | |
dass das Bundesverfassungsgericht durchaus gesellschaftlichen Wandel in die | |
verfassungsrechtliche Auslegung miteinbeziehen kann. | |
CF: Man sieht zudem, dass das Selbstbestimmungsrecht des Individuums in der | |
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer mehr gestärkt wird. | |
Sie sprechen in Ihrem Paper auch von reproduktiver Gerechtigkeit. | |
VC: Reproduktive Gerechtigkeit ist ein Konzept, das vor allem in den USA | |
groß geworden ist. Es geht darum, dass reproduktive Rechte innerhalb der | |
Gesellschaft diskriminierungsfrei gewährleistet werden müssen. Eine | |
Verengung zum Zugang vom Schwangerschaftsabbruch wirkt sich vor allem auf | |
besonders marginalisierte Gruppen aus. | |
Welche Rolle spielen denn die Menschenrechte bei alldem? | |
VC: Die Menschenrechte spielen eine sehr große Rolle. Die Freiheit über die | |
eigene Reproduktion liegt bei jedem Individuum. Das beinhaltet die Frage, | |
ob jemand ein Kind bekommen möchte und auch Nein dazu sagen kann. Und Ja | |
sagen können muss. 1994 wurden die reproduktiven Rechte das erste Mal | |
offiziell erwähnt, auf der Kairoer Konferenz. Mittlerweile sind sie | |
etabliert im menschenrechtlichen Diskurs. | |
Was bedeutet das für die deutsche Rechtsprechung? | |
VC: Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist zentral, um | |
reproduktive Rechte langfristig umzusetzen. Da liegt natürlich ein großer | |
Widerspruch zur deutschen Rechtslage vor. Der UN-Frauenrechtsausschuss hat | |
schon häufiger angemerkt, dass in Deutschland immer noch dieser Zwang der | |
Beratung besteht und die obligatorische dreitägige Wartefrist, die mit der | |
UN-Frauenrechtskonvention nicht in Einklang zu bringen sind. | |
Für wie realistisch halten Sie die Umsetzung Ihres Papers? | |
CF: Uns ist es einfach wichtig, uns zu positionieren und eine Neuregelung | |
anzubieten. Unsere derzeitige Bundesregierung hat in ihrem | |
Koalitionsvertrag festgehalten, dass sie die reproduktiven Rechte stärken | |
möchte. Deswegen sehen wir das jetzt als guten Zeitpunkt, eine Neuregelung | |
in Angriff zu nehmen und vorzuschlagen. Wir wünschen uns einen sachlichen | |
Dialog über das Thema in Politik und Zivilgesellschaft. | |
VC: Der Schwangerschaftsabbruch ist ein politisches Thema, das im Parlament | |
debattiert werden muss. Und gerade ist das einfach unglaublich schwer wegen | |
der engen Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1993. | |
CF: Uns war es wichtig, ein rechtswissenschaftliches Paper zu | |
veröffentlichen, das zeigt: § 218 kann sehr wohl auch in verfassungsmäßig | |
gebotener Weise reformiert werden. Unserer Meinung nach ist eine Reform | |
sogar geboten. | |
8 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm22-40 | |
[2] /Abtreibungen-in-Deutschland/!5899987 | |
[3] /Spaete-Schwangerschaftsabbrueche/!5886892 | |
## AUTOREN | |
Nicole Opitz | |
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