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# taz.de -- „Marsch für das Leben“ 2019: Vorwurf: Feminismus
> Gegen 116 Aktivist:innen wird ermittelt. Sie stoppten den „Marsch
> fürs Leben“ 2019 vorübergehend. Brisant: die Rolle eines AfD-nahen
> Staatsanwalts.
Bild: Gegendemonstrant:innen beim „Marsch für das Leben“ 2019
Der 21. September 2019 ist ein sonniger Tag, der Himmel über Berlin
erscheint in strahlendem Blau. Durchs Regierungsviertel ziehen rund 5.500
Abtreibungsgegner:innen und christliche Fundamentalist:innen, die ein
vollständiges Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordern. Auch
Vertreter:innen der AfD nehmen am „Marsch für das Leben“ teil, darunter
die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch.
Als die Teilnehmenden gegen 13 Uhr am Spreeufer in der Nähe des Reichstags
ankommen, sind plötzlich Trillerpfeifen und laute, rhythmische Rufe mitten
aus ihrem Demozug zu hören: „My body, my choice! Raise your voice!“ Mehr
als 100 feministische Aktivist:innen, [1][die sich bis dahin unerkannt
unter die Teilnehmenden des „Marschs“ gemischt hatten, haben eine
Sitzblockade gebildet].
Knapp eine Stunde werden sie laut singend und friedlich am Boden sitzen.
Die meisten Abtreibungsgegner:innen laufen nicht am Rand an ihnen
vorbei, steigen auch nicht über sie hinweg und nehmen keinen Umweg über
eine angrenzende Querstraße zurück zur offiziellen Route. Doch obwohl es
all diese Möglichkeiten gegeben hätte, die Sitzblockade zu umgehen, fasst
die Berliner Staatsanwaltschaft diese als Straftat auf.
Nun laufen Ermittlungsverfahren gegen 116 Aktivist:innen, die Strafbefehle
lauten Nötigung – im Fall von Sitzblockaden ein ungewöhnlicher Vorwurf.
„Das ist eine massive Kriminalisierung feministischen Protests“, sagt
deshalb auch die Sprecherin des Bündnisses „What the fuck“, Lilli Kramer*.
„Da geht es darum, uns einzuschüchtern und uns einen Denkzettel zu
verpassen.“
## Verdacht auf Befangenheit
Mehrere Betroffene und Anwält:innen verweisen in diesem Zusammenhang auf
den Einfluss eines Oberstaatsanwalts, der in Berlin kein Unbekannter ist:
F. Dieser ist dafür berüchtigt, linke Bagatellen scharf zu verfolgen,
rassistische Diskriminierungen hingegen schnell einzustellen. Erst im
August 2020 wurde F. wegen [2][der stockenden Ermittlungen zu einer
rechtsextremen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln mit mehr als 70 Fällen
versetzt]. Gegen ihn bestand der Verdacht auf Befangenheit und AfD-Nähe,
nachdem er diese in einer Vernehmung eines rechtsextremen Verdächtigen
offenbar selbst angedeutet hatte. Bis dahin war F. Leiter der
Staatsschutzabteilung 231 und somit verantwortlich für sämtliche
politischen Straftaten im Land Berlin. Auch in den Verfahren wegen der
Blockade des „Marschs“, sagt Einar Aufurth, der Anwalt einer Angeklagten,
stelle sich für ihn die Frage, ob F.s politische Überzeugung nicht eine
wesentliche Rolle gespielt habe.
Die Sprecherin der Staatsanwaltschaft dementiert gegenüber der taz, dass F.
„an diesem Verfahrenskomplex“ in irgendeiner Form beteiligt war. Die
Verhandlungen und Strafakten jedoch zeichnen ein anderes Bild. In der
Hauptverhandlung seiner Mandantin, so erzählt Anwalt Aufurth der taz, sagte
ein Kriminalkommissar, es habe ein Treffen mit ihm, einem weiteren
Kriminalkommissar, einer Staatsanwältin sowie F. gegeben. Bei dem Treffen
ging es darum, wie der Verfahrenskomplex juristisch zu bewerten sei.
Staatsanwaltschaft wie LKA seien der Ansicht gewesen, dass es sich um
Nötigung handle und die Verfahren mit diesem Tatvorwurf weiter bearbeitet
werden sollen. In der Akte seiner Mandantin, so Aufurth, gebe es einen
Vermerk, der die „Rücksprache mit Oberstaatsanwalt F.“ dazu ausdrücklich
festhält. In der Akte eines anderen Falls heißt es zudem im Schlussbericht
der Kriminalpolizei: „Auf Weisung der Staatsanwaltschaft Berlin, OStA F.,
wurden für jeden der […] Beschuldigten aus dem Verfahren […] inhaltlich
identische Einzelverfahren gefertigt.“
Seit November und voraussichtlich noch weit in dieses Jahr hinein stehen
die Aktivist:innen nun in Berlin vor Gericht – einzeln, wie F. laut
Aktenvermerk anwies. Jeder Anwalt, jede Anwältin darf laut dem Bündnis
„What the fuck“ zudem nur ein Mandat übernehmen, um Mehrfachverteidigungen
zu verhindern. Diese würden eine bessere Koordinierung der Verteidigung
ermöglichen. Das Gesetz, auf dem dieses Verbot beruht, [3][wurde im
Zusammenhang mit den Strafverfahren gegen Mitglieder der RAF erlassen].
## Gefährliche Allianzen
Die Verfahren gegen die friedlich und weniger als eine Stunde auf der
Straße sitzenden Aktivist:innen sind ein immenser Aufwand: Für jede:n
der Angeklagten wurden Videomitschnitte erstellt, auf denen andere Personen
verpixelt wurden. Für jedes Verfahren findet eine Beweisaufnahme statt,
werden Zeug:innen geladen und ein bis zwei Verhandlungstage benötigt. Wie
viele Staatsanwält:innen und Richter:innen in den Gerichtsverfahren
insgesamt beschäftigt sind, könne nicht festgestellt werden, heißt es aus
deren Pressestellen.
Mehr als ein Dutzend Verfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten gab es
bisher, die meisten wurden gegen eine Spende von zwei- bis dreihundert Euro
an eine gemeinnützige Organisation eingestellt. Vier Verfahren wurden mit
dem Hinweis eingestellt, die Angeklagten seien durch das bisherige Vorgehen
„ausreichend belehrt und gewarnt“. Die Kosten für Anwält:innen sowie die
Gerichtskosten müssen die meisten Angeklagten selbst tragen. Das Bündnis
„What the Fuck“, das die Angeklagten [4][unterstützt und Spenden sammelt],
rechnet mit rund 1.000 Euro pro Person – zusammen eine Summe im hohen
fünfstelligen Bereich. „Die Aktivist:innen kommen zu einem großen Teil
aus einer jungen, queerfeministischen Szene mit wenig finanziellen
Mitteln“, sagt Kramer. „Für die ist das sowohl psychisch wie finanziell
eine enorme Belastung.“
Das bisher höchste der bisherigen drei Urteile: Eine Geldstrafe von 1.600
Euro plus Anwalts- und Gerichtskosten für Anna Feiting*. Feiting wollte
keine Einstellung des Verfahrens – sondern einen Freispruch. „Bei einer
Einstellung ist die Schuldfrage nach wie vor ungeklärt“, sagt die
34-Jährige. „Aber ich will, dass anerkannt wird, dass wir friedlich unser
Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben.“ Es mache sie
fassungslos, dass unberücksichtigt bleibe, wie Rechtspopulist:innen
und offen Rechtsextreme zusammen mit christlichen
Fundamentalist:innen und Antifeminist:innen gefährliche
Allianzen bildeten. Die Erfahrung, wegen einer Versammlung gegen
sexistische und rassistische Positionen vor Gericht zu stehen, sei
„erschütternd“.
## Mögliche negative Präzedenzfälle
Feiting hat Berufung gegen das Urteil eingelegt, das ihr „zutiefst
undemokratisches“ Handeln bescheinigt. „Wenn nötig, gehen wir bis zu einer
Verfassungsbeschwerde“, sagt sie. Bei einer solchen rechnet sich ihr Anwalt
durchaus Chancen aus. Denn ob Sitzblockaden einer Demonstration überhaupt
als Nötigung gelten können, ist umstritten.
Seines Wissens gebe es jenseits der drei Urteile in diesem
Verfahrenskomplex bislang keinen anderen Fall in Deutschland, in dem eine
Person wegen Nötigung verurteilt wurde, sagt Joschka Selinger von der
Gesellschaft für Freiheitsrechte. Die Rechtsprechung zu Sitzblockaden in
den vergangenen Jahrzehnten betreffe die Blockade von Autos, zum Beispiel
auf Zufahrten zu Bundeswehrstützpunkten. Die Gerichte begründeten in diesen
Fällen die Nötigungswirkung damit, dass durch das erste Fahrzeug, das vor
der Sitzblockade hält, ein Hindernis für die nachfolgenden Fahrzeuge
entstehe.
Dabei gehe es also nicht wie bei der Blockade des „Marschs“ um zwei
Versammlungen, die jeweils der Versammlungsfreiheit unterstehen, politische
Anliegen ausdrücken und Meinungen kundtun – und bei der die eine der
anderen eine Weile im Weg sitzt. Sondern eben um Fahrzeuge. Durch die
Verurteilung der Aktivist:innen wegen Nötigung könnten nun negative
Präzedenzfälle geschaffen werden, befürchtet Selinger.
## Nicht aufgeben
Auch Anwalt Aufurth will deshalb wenn nötig bis zum
Bundesverfassungsgericht gehen. „Die Versammlungsfreiheit der
Protestierenden, die genauso zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen wie
die Teilnehmenden des ‚Marschs‘, wird missachtet“, sagt Aufurth. „Die
Verurteilung von Anna Feiting ist verfassungsrechtlich bedenklich.“
Bis zum Landes- oder Bundesverfassungsgericht ist es ein weiter Weg. Doch
Feiting ist bereit, ihn zu gehen: „Feminismus ist kein Verbrechen“, sagt
sie. Und auch, wenn sie bei einer weiteren Verurteilung vorbestraft wäre,
sieht sie dem „Marsch für das Leben“ in diesem Jahr gelassen entgegen.
„Solange die menschenverachtenden Positionen christlicher
Fundamentalist:innen staatlich gedeckt werden und unser Protest
ungerechtfertigt kriminalisiert wird“, sagt sie, „lasse ich mich nicht zum
Schweigen bringen.“
*Name von der Redaktion geändert
Die nächste Verhandlung findet am Dienstag, 9. 2., um 13.00 Uhr vor dem
Amtsgericht Berlin-Tiergarten statt. Die nächste Kundgebung findet am
selben Tag um 12.30 Uhr statt.
8 Feb 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=kFiT4CizxhA
[2] /Rechte-Anschlagsserie-in-Neukoelln/!5705701
[3] https://m.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-der-raf/49232/re…
[4] https://betterplace.me/feminismus-ist-kein-verbrechen
## AUTOREN
Patricia Hecht
## TAGS
IG
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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Abtreibungsgegner
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Schwerpunkt Feministischer Kampftag
Kulturgeschichte
Feminismus
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Polizei Berlin
Schwerpunkt Abtreibung
Schwerpunkt „Marsch für das Leben“
Paragraf 218
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