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# taz.de -- Britische Ärztin über Abtreibungen: „Vertrauen wir den Frauen?�…
> Caroline Scherf ist Abtreibungsärztin in Großbritannien. Ein Gespräch
> über Papierberge, Telemedizin und den deutschen Paragrafen 218.
Bild: „Der Gesetzgeber sieht offenbar die Aufgabe von Frauen darin, zu gebär…
taz: Frau Scherf, in Großbritannien können Frauen seit einem Jahr eine
Schwangerschaft zu Hause medikamentös abbrechen, mit telemedizinischer
Begleitung. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Caroline Scherf: Sehr gut. Wir wussten vorher aus internationalen Studien,
dass es aus medizinischer Sicht keine Bedenken gibt. Überrascht hat uns,
dass wir über Videotelefonie ganz anders mit den Frauen reden können, sie
sprechen freier. So können wir im Vorfeld auch besser verstehen, wie es
ihnen geht, was sie brauchen und wollen, ob sie sich in ihrer Entscheidung
vom Partner oder von Freunden unterstützt fühlen.
Woran liegt das?
Es macht einen Unterschied in der Atmosphäre, ob die Frauen in ihren
Wohnzimmern in vertrauter Umgebung sitzen oder in der Klinik, die sie eher
verunsichert und klein fühlen lässt. Die meisten waren sehr erleichtert, zu
hören, dass sie nicht in die Klinik kommen müssen. Viele sind ja
alleinerziehend oder wohnen außerhalb, ohne Transportmöglichkeiten.
Das heißt, Sie untersuchen die Frauen gar nicht?
Die meisten nicht, nein. Als Ärztin sehe ich oft nur die Akte. Es braucht
zwar am Ende die Unterschriften von zwei Mediziner*innen. Aber in vielen
Fällen führt eine Hebamme oder Krankenschwester das Anamnesegespäch, und
der Arzt oder die Ärztin stellen weitere Fragen, wenn es klinisch notwendig
scheint oder Unklarheiten ausgeräumt werden müssen.
In Deutschland geht nichts ohne Ärztin.
Das hat auch strukturelle Gründe. Der staatliche NHS, der National Health
Service, ist wegen ständiger Unterfinanzierung sehr interessiert daran,
überflüssige Untersuchungen oder Gespräche zu vermeiden. Und es gibt in
Großbritannien nicht so viele Ärzt*innen pro Kopf wie in Deutschland,
dafür aber sehr gut ausgebildete andere medizinische Berufe. Die können und
dürfen viel mehr machen als in Deutschland.
Aber wie können Sie sicher sein, dass sich die Frauen wirklich in einem
Frühstadium der Schwangerschaft befinden?
Wir wissen aus vielen Studien, dass Frauen sich bei der Berechnung der
Schwangerschaftswochen nicht irren. Darum geht es doch: Vertrauen wir den
Frauen – oder nicht? Eine Frau, die sagt, „keine Ahnung, in welcher Woche
ich bin“, die müssen wir natürlich sehen. Und wir sprechen ja mit ihr, um
herauszukriegen, wie sicher sie sich ist, und ob der medikamentöse Abbruch
das richtige für sie ist.
Was passiert, wenn sie sich doch um mehrere Wochen verrechnet hat?
Dann hat sie trotzdem eine Fehlgeburt – oder es passiert nichts und die
Schwangerschaft wird chirurgisch abgebrochen.
Sie arbeiten seit Ende Januar für ein halbes Jahr als Ärztin bei [1][Pro
Familia in Bremen]. Was ist der Unterschied zu Ihrer Arbeit in Cardiff?
Ich arbeite auch hier mit einem unglaublich netten und kompetenten Team. Es
kommt rüber, wie wichtig den Mitarbeiter*innen die Frauen sind, und
ich glaube, das spüren diese auch. Gewöhnungsbedürftig war der Riesenberg
von Papier, mit dem wir uns hier rumschlagen, bevor eine Behandlung
anfangen kann. Und diese Pflichtberatung – das kannte ich ja bisher nicht.
Bei uns beraten die behandelnden Ärzte und Krankenschwestern, wie bei
anderen medizinischen Eingriffen auch.
Wie finden Sie die Beratung?
Für mich ist das ganz klar eine Barriere, die der deutsche Staat den Frauen
in den Weg gelegt hat. Der Gesetzgeber sieht offenbar die Aufgabe von
Frauen darin, zu gebären – und fürchtet, dass sie das nicht machen, wenn
man nicht aufpasst. Derartige Barrieren helfen Frauen mit einer ungewollten
Schwangerschaft nicht, sondern tragen dazu bei, noch mehr Schuldgefühle
hervorzurufen. Dabei finden die Frauen diese Situation sowieso schon
bescheuert. Es ist eine abstruse Vorstellung, dass Frauen einen
Schwangerschaftsabbruch gerne oder „einfach so“ machen.
Aber was ist mit den unentschlossenen Frauen? Ist es nicht gut, wenn die
sich von einer spezialisierten Stelle beraten lassen können?
Die meisten Frauen wissen gleich, ob sie die Schwangerschaft abbrechen
wollen oder nicht und möchten gar keine spezielle Beratung. Es gibt doch
auch keine Pflichtberatung für Frauen, die weitere Kinder bekommen, obwohl
sie das überfordert. Und die Unentschiedenen suchen sich Rat, meistens im
privaten Umfeld, genauso wie in anderen Lebenssituationen. Wer
professionellen Rat bevorzugt, findet den, dabei helfen wir ja auch. Und
gerade in Deutschland wimmelt es doch nur so von Beratungsmöglichkeiten.
Sie haben mal [2][in einem Interview] gesagt, für Sie sei ein
Schwangerschaftsabbruch eine Frühkomplikation in der Schwangerschaft.
Das ist meine Erfahrung als Ärztin. Die Frauen, die wir in der Klinik
sehen, sind ja die gleichen. Einmal kommt eine Frau, weil sie eine
Fehlgeburt hat, einmal bekommt sie bei uns ihr Kind und einmal hat sie eine
Abtreibung. Die technischen Fähigkeiten, die wir dafür brauchen, sind
letztendlich dieselben.
Sie haben in dem Interview auch gesagt, es seien immer weniger Ärzt*innen
bereit, einen Schwangerschaftsabbruch zu begleiten – also unterscheidet
sich Großbritannien gar nicht so sehr von Deutschland?
Doch, das war 2017 und seitdem hat sich noch einmal viel getan. Und ich
habe mich damit vor allem auf die Abbrüche nach der 14. Woche bezogen, die
auch bei uns kompliziert und oft mit weiten Reisewegen verbunden sind.
Der große Unterschied zu Deutschland ist, dass wir als Abortion Care
Providers, also als Fachkräfte, die Frauen im Fall eines
Schwangerschaftsabbruchs versorgen, die Rückendeckung der
Fachgesellschaften, Berufsverbände und Universitäten haben. Die
unterstützen auch alle die Bewegung zur Dekriminalisierung.
In Deutschland stehen diese geschlossen hinter dem Paragraf 218 des
Strafgesetzbuchs, [3][der Schwangerschaftsabbrüche als Straftat
brandmarkt.]
Das macht einen Riesenunterschied. Dadurch, dass sich die Fachgesellschaft,
das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, seit 2015 aktiv
hinter das Abtreibungsthema geklemmt hat, sind wir nicht mehr in der
Schmuddelecke. Als ich 2004 in Cardiff angefangen habe, fühlte sich das
noch so an wie ein Hässliches-Entlein-Dasein. Niemand wollte etwas damit zu
tun haben, niemand kannte sich aus. Ich musste mir das Wissen über den
medikamentösen Schwangerschaftsabbruch aus anderen Ländern beschaffen.
Was geschah dann?
Zum Glück schlossen sich damals Ärzt*innen und Krankenschwestern mit
Anwält*innen und Campaigner*innen zusammen. Die haben das Thema bis
in die Gremien gebracht, in denen Entscheidungen getroffen wurden. Seitdem
hat sich die Versorgung deutlich gebessert, nicht nur bei Abtreibungen,
auch bezogen auf andere Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.
Deutschland scheint gerade an einem ähnlichen Punkt zu sein, wenn sich die
Verbände auch nur politisch und nicht medizinisch damit beschäftigen.
Ich schlage vor, dass Sie sich in Deutschland mal die britische Leitlinie
für Schwangerschaftsabbrüche angucken. Darin geht es ausschließlich um die
beste Gesundheitsversorgung für Frauen.
Gab es in Großbritannien Widerstand gegen die Umstellung auf Telemedizin?
Nein. Es war wegen der Pandemie notwendig, um unnötige Kontakte zu
vermeiden. Und jetzt wird diskutiert, ob es auch danach weitergehen darf.
25 Mar 2021
## LINKS
[1] /Pro-Familia-Zentrum-in-Bremen/!5642194
[2] https://www.rcog.org.uk/en/global-network/global-health-advocacy/internatio…
[3] /Schwangerschaftsabbruch-nach--218/!5751368
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
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Schwerpunkt Abtreibung
Schwerpunkt „Marsch für das Leben“
Hans-Dietrich Genscher
Paragraf 218
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