| # taz.de -- Kristina Hänel über ihr 219a-Urteil: „Ich will keine Märtyreri… | |
| > Die Ärztin Hänel wurde wegen Paragraf 219a, der Werbung für Abtreibung | |
| > verbietet, rechtskräftig verurteilt. Nun zieht sie vors | |
| > Verfassungsgericht. | |
| Bild: Gibt nicht auf: Kristina Hänel | |
| taz: Frau Hänel, Sie haben angekündigt, Informationen über | |
| Schwangerschaftsabbrüche von der Website Ihrer Praxis zu nehmen. Warum? | |
| Kristina Hänel: Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat meine Revision | |
| verworfen. Ich bin nun nach [1][Paragraf 219a] zum ersten Mal rechtskräftig | |
| verurteilt. Wenn ich die Informationen jetzt nicht von der Seite nehme, | |
| wären immer wieder Anzeigen möglich. Letztlich würde mich das finanziell | |
| ruinieren. | |
| Was haben Sie die Anzeigen von Abtreibungsgegnern bisher gekostet? | |
| Allein die Anwalts- und Verfahrenskosten von meinen Kolleginnen Nora Szász, | |
| Bettina Gaber und mir dürften bei um die 60.000 Euro liegen. Und ich habe | |
| ja noch nicht mal Strafe gezahlt, da kommen also nochmal 2.500 Euro drauf. | |
| Zum Glück hat der Verein Pro Choice Deutschland mittlerweile ein | |
| Spendenkonto für uns eingerichtet. | |
| Was passiert jetzt? Geben Sie auf? | |
| Natürlich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich mache. Auch | |
| über die Frage, ob ich ins Gefängnis gehen würde, um etwas zum Guten zu | |
| verändern. Aber ich will keine Märtyrerin sein. Ich glaube, dass der Weg | |
| zum Bundesverfassungsgericht nun erstmal der richtige ist. Der ist jetzt | |
| frei. | |
| Sie reichen Verfassungsbeschwerde ein? | |
| Die ist schon vorbereitet. Mit dem Urteil des OLG Frankfurt habe ich | |
| gerechnet. Die Berliner Ärztin Bettina Gaber war die erste, die nach | |
| Paragraf 219a rechtskräftig verurteilt wurde. [2][Sie hat bereits | |
| Beschwerde] beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Jetzt kommt meine | |
| dazu. Ich hoffe, das erhöht den Druck. | |
| Dass Sie im November 2017 vom Amtsgericht Gießen zum ersten Mal verurteilt | |
| wurden, war der Auslöser einer bundesweiten Debatte über den Paragrafen | |
| 219a. Was hat sich seitdem getan? | |
| Was seitdem passiert ist, hat mein Leben verändert. Ich habe unglaublich | |
| viel mediale Aufmerksamkeit bekommen. Das hilft, um mein Ziel zu erreichen, | |
| das nach wie vor ist: den Paragrafen 219a abzuschaffen oder so zu | |
| verändern, dass Ärzt:innen Frauen darüber informieren dürfen, wie sie | |
| Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Ich bin außerdem eine Reizfigur für | |
| Abtreibungsgegner geworden, die mich zum Teil bedroht haben. Das ist zwar | |
| eine Belastung, aber kein Grund, mich selbst in den Keller einzusperren. | |
| Hier in Hessen gibt es jetzt immerhin Schutzzonen von 150 Metern um unsere | |
| Praxen. | |
| Das heißt, es sind keine [3][„Mahnwachen“ von Abtreibungsgegnern] mehr | |
| möglich, durch die die Frauen hindurch müssen. | |
| In Hessen nicht, aber in anderen Bundesländern und Städten schon, das ist | |
| ein großes Problem. Es wird auch weiter angezeigt, weiter angegriffen. Und | |
| der unsägliche Kompromiss der großen Koalition zum Paragrafen 219a hat die | |
| rechtliche Situation für uns Ärzt:innen letztlich nur verschlechtert: Mit | |
| ihm wurde klar, dass auch die sachliche Information über das „Wie“ von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen in jedem Fall bestraft wird. | |
| Das klingt nach einer bitteren Bilanz. | |
| Das stimmt nicht: Das Positive überwiegt deutlich. Es gab unglaublich viel | |
| Anerkennung dafür, dass wir uns engagieren. Egal, wo ich mit Lesungen | |
| hinkam, wurde ich mit offenen Armen empfangen. Studierende und | |
| Ärzt:innen kommen in unsere Praxen und wollen von uns lernen. Gruppen von | |
| Aktivist:innen sind entstanden, die versuchen, die Situation für | |
| Ärzt:innen und Frauen zu verbessern. Auch dass Abbrüche in Argentinien, | |
| Südkorea oder Irland legalisiert wurden, ist ein enormer Erfolg. | |
| Sie sehen Ihren Kampf im globalem Kontext? | |
| Ja. Was hier in Deutschland passiert, ist nur ein Teil der Geschichte. | |
| Frauen kämpfen weltweit um ihre Rechte. | |
| Hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert? | |
| Immens. Ich habe viel, viel mehr Zulauf. Das liegt daran, dass meine Praxis | |
| so bekannt ist. Viele Frauen, die sonst keine Informationen finden, wenden | |
| sich mit Fragen an mich. Andere Praxen haben in der Pandemie ihr Angebot | |
| eingeschränkt, manche Krankenhäuser machen keine Abbrüche mehr. Diese | |
| Frauen landen jetzt bei mir. | |
| Wie machen Sie nun weiter? | |
| Ich sehe den Schritt zum Bundesverfassungsgericht als Push. Im Paragraf | |
| 219a können nur noch verbohrte Fundamentalist:innen irgendeinen Sinn | |
| erkennen. Aber ich kann eine Gesetzgebung, die ärztliche Aufklärung und | |
| Information verbietet, nicht akzeptieren. Ich werde also zum einen weiter | |
| als Ärztin für Frauen da sein. | |
| Und zum anderen? | |
| Ich darf auf meiner Webseite nun nicht mehr über Schwangerschaftsabbrüche | |
| informieren. Aber alle Personen, die keine Abbrüche machen, dürfen das. Ich | |
| habe den großen Wunsch und die Hoffnung, dass der Schwung aus den | |
| vergangenen vier Jahren zu einem kraftvollen Akt führen kann. | |
| Leute, hierzulande gibt es 80 Millionen Menschen! Wenn auch nur ein paar | |
| von euch in die Lücke springen, wenn auch nur ein paar von euch sachliche | |
| Informationen ins Netz stellen – dann braucht es meine nicht mehr. Mehr | |
| kann ich dazu nicht sagen. Aber wer Interesse hat, findet bereits Aufrufe | |
| mehrerer Personen auf verschiedenen Social Media-Kanälen. Wir können die | |
| Informationshoheit nicht den Fundamentalist:innen überlassen. | |
| 20 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patricia Hecht | |
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