# taz.de -- Verfassungsbeschwerde zu Paragraf 219a: „Schlicht frauenfeindlich… | |
> Die Ärztin Bettina Gaber ist rechtskräftig verurteilt, weil sie über | |
> Abtreibungen informiert. Nun wendet sie sich an das | |
> Bundesverfassungsgericht. | |
Bild: Bettina Gaber (r.) und Kollegin Verena Weyer bei einer Kundgebung im Juni | |
BERLIN taz | Wenn Bettina Gaber sagen soll, ob [1][Paragraf 219a] des | |
Strafgesetzbuchs zeitgemäß ist, lacht sie laut auf. „Zeitgemäß? Ich finde | |
ihn schlicht frauenfeindlich“, sagt die Berliner Frauenärztin. Der Paragraf | |
verbietet ihr, öffentlich darüber zu informieren, wie sie | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführt. | |
Weil die Ärztin das nicht akzeptieren wollte, stand auf ihrer Webseite | |
trotzdem der Satz: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier | |
Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren | |
Leistungen.“ Im November wurde sie deswegen rechtskräftig [2][zu einer | |
Geldstrafe von 2.000 Euro verurteilt]. Nun will sie erreichen, dass der | |
Paragraf vom Bundesverfassungsgericht ganz gekippt wird: Am Montag hat | |
Gaber Verfassungsbeschwerde erhoben. | |
Sie wehrt sich damit dagegen, verbotene „Werbung für den Abbruch der | |
Schwangerschaft“ gemacht zu haben. Das Gesetz sei „monströs“, schreibt | |
Gabers Anwalt Johannes Eisenberg in der Verfassungsbeschwerde, die der taz | |
vorliegt. „Ich verstehe es nicht. Es ist ein klassisches Gesetz von Leuten, | |
die sich nicht einigen können, und es deshalb völlig unverständlich | |
formulieren.“ | |
Doch auf Grundlage „unklarer Gesetze“ dürfe man niemanden verurteilen. Wen | |
er mit den „Leuten, die sich nicht einigen können“ meint, zeigt ein Blick | |
zurück auf die vergangenen zwei Jahre: die Politik. | |
## Vorgängergesetz von 1933 | |
Paragraf 219a fristete lange ein Dasein im Strafgesetzbuch, ohne dass viele | |
Menschen von seiner Existenz Kenntnis genommen hätten. Das Vorgängergesetz | |
wurde 1933 erlassen, 1974 übernahm es die damalige sozialliberale Koalition | |
weitestgehend. Es verbot in seiner damaligen Fassung unter anderem, dass | |
Ärzt*innen öffentlich und zu ihrem eigenen Vermögensvorteil oder in grob | |
anstößiger Weise darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen. | |
Da schon das gängige ärztliche Honorar als Vermögensvorteil gilt, war davon | |
jede noch so sachliche öffentliche Information über die Leistung erfasst. | |
Das Gesetz kam aber kaum zur Anwendung. | |
Bundesweite Bekanntheit erlangte der Paragraf erst, als im November 2017 | |
die Gießener Ärztin Kristina Hänel [3][vom Amtsgericht Gießen zu einer | |
Geldstrafe verurteilt wurde], weil sie genau das getan hatte: Sie hatte auf | |
ihrer Webseite darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche | |
durchführt und welche Methoden sie anbietet. Hänel wurde zum Gesicht im | |
Kampf gegen den Paragrafen, auch sie hatte angekündigt, bis zum | |
Bundesverfassungsgericht gehen zu wollen. | |
Nun hat Bettina Gaber sie überholt. Das Bundesverfassungsgericht kann, so | |
steht es auf dessen Webseite, „die Verfassungswidrigkeit eines Aktes der | |
öffentlichen Gewalt feststellen, ein Gesetz für nichtig erklären oder eine | |
verfassungswidrige Entscheidung aufheben und die Sache an ein zuständiges | |
Gericht zurückverweisen“. Es kann Gabers Beschwerde aber auch abweisen. | |
## Yannic Hendricks Hobby: Anzeigen stellen | |
Angezeigt wurden beide Ärztinnen von radikalen Abtreibungsgegnern. [4][Vor | |
allem zwei Männer] durchforsteten über Monate hinweg systematisch das | |
Internet und stellten Strafanzeigen, wenn sie auf eine Seite mit | |
entsprechenden Informationen stießen. Einer von ihnen, Klaus Günter Annen, | |
betreibt die Webseite Babycaust, auf der er Abtreibungen mit dem Holocaust | |
gleichsetzt. Der andere ist der Mathematikstudent Yannic Hendricks, der in | |
der taz erklärte, [5][diese Anzeigen seien sein „Hobby“]. | |
Nach Hänels Verurteilung entbrannte ein erbitterter politischer Streit um | |
das Schicksal des Paragrafen. Grüne, Linke, FDP und SPD sprachen von einer | |
„Kriminalisierung“ von Ärzt*innen und wollten den Paragrafen abschaffen | |
oder zumindest weitgehend reformieren. Die Union hingegen wollte unbedingt | |
an ihm festhalten. | |
Der Paragraf, so das Argument, schütze vor einer „Verharmlosung“ von | |
Schwangerschaftsabbrüchen und diene dem „Schutz des ungeborenen Lebens“. | |
Für eine Abschaffung hätte es eine knappe Mehrheit im Bundestag gegeben. | |
Doch dann gingen SPD und Union im März 2018 erneut eine Große Koalition | |
ein. | |
Ein langes Ringen zwischen den Koalitionspartnern begann, [6][an dessen | |
Ende ein Kompromiss stand]: Seit dem Frühjahr 2019 dürfen Ärzt*innen | |
öffentlich darüber informieren, dass sie Abbrüche vornehmen – für jede | |
weitere Information aber müssen sie auf die Webseiten befugter Stellen | |
verweisen, etwa der Bundesärztekammer. Diese legt derzeit eine Liste an, | |
auf der bislang aber nur rund 215 der insgesamt 1.200 Ärzt*innen stehen, | |
die bundesweit Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Man habe damit | |
Rechtssicherheit geschaffen und den Frauen den Zugang zu Information | |
erleichtert, freute sich die SPD. | |
## „Ein schwachsinniges Gesetz“ | |
In der Praxis sieht es allerdings anders aus. Während das Berliner | |
Kammergericht Gaber für schuldig befand, wurde das Verfahren gegen zwei | |
Ärztinnen in Kassel eingestellt – weil nach dem neuen Paragrafen keine | |
Strafbarkeit mehr vorliege. In Gießen wurde Kristina Hänel [7][erst | |
vergangene Woche vom Landesgericht erneut für schuldig befunden], diesmal | |
nach der neuen Rechtslage. | |
Doch selbst die Richterin nannte die Reform bei der Urteilsverkündung | |
„nicht gelungen“. Es gebe nun „mehr Unklarheiten“ als zuvor und es mache | |
„keinen Sinn“, sachliche Information über einen medizinischen Eingriff | |
mithilfe des Strafrechts zu verbieten. | |
Nun soll sich das Bundesverfassungsgericht des Paragrafen 219a annehmen. | |
Gabers Anwalt Eisenberg argumentiert, dieser sei in seiner jetzigen | |
Fassungen in gleich mehreren Punkten verfassungswidrig und beinhalte | |
„Paradoxien und eklatante Wertungswidersprüche“. | |
So fragt er in der 44 Seiten umfassenden Verfassungsbeschwerde, ob es Gaber | |
etwa verboten sei, zu schreiben: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier | |
Schwangerschaftsabbruch gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber“, | |
während es erlaubt sei, zu schreiben: „Auch ein Schwangerschaftsabbruch | |
gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber. Wenn Sie wissen wollen, wie | |
Frau Dr. Gaber den Abbruch durchführt, suchen Sie bitte auf Seite XY“? | |
Eisenbergs Schlussfolgerung: „Das wäre ein schwachsinniges Gesetz, das | |
niemand befolgen muss.“ | |
## Moralvorstellungen aus den 70ern | |
Eisenberg sieht Eingriffe in die Meinungs-, Äußerungs- und | |
Informationsfreiheit seiner Mandantin. Nach Rechtsprechung des Europäischen | |
Gerichtshofs (EuGH) stellten diese eine „wesentliche Grundlage einer | |
demokratischen Gesellschaft“ dar. Der Einsatz strafrechtlicher Mittel sei | |
unverhältnismäßig. | |
Aus der Überschrift des Paragrafen ergebe sich zudem, dass Werbung bestraft | |
werden solle. Seine Mandantin aber informiere lediglich. „Dieses Verbot | |
zielt offenkundig darauf ab, dass einer Schwangeren, welche nach | |
Information sucht, es erschwert wird, in der vorgegebenen knappen Zeit an | |
die für sie wichtigen und entscheidenden Informationen zu gelangen“, | |
schreibt der Anwalt. Dies sei kein legitimer Grund, in Grundrechte | |
einzugreifen. | |
Auch stelle sich die Frage nach dem zu schützenden Rechtsgut. Der Paragraf | |
sei „nicht geeignet, ungeborenes Leben zu schützen“, heißt es in der | |
Verfassungsbeschwerde. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der | |
FDP-Fraktion habe die Bundesregierung selbst angegeben, keine Erkenntnisse | |
dazu zu haben, ob und inwiefern dadurch Abtreibungen vermieden würden. Es | |
komme allein das Schutzgut der öffentlichen Moral in Betracht. | |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe aber darauf | |
hingewiesen, dass Moralvorstellungen sich „je nach Zeit und Ort“ änderten. | |
Beim Paragrafen 219a stammt diese aus dem Jahr 1974, sei also 45 Jahre alt. | |
Er sei zudem Teil einer „moralisierenden, auf die Durchsetzung einer | |
religiös-weltanschaulich bestimmten Sittlichkeit bezogenen Strafnorm“ und | |
entspreche somit nicht dem „Verfassungsgebot der weltanschaulichen | |
Neutralität des Staates“. | |
## Eine Frage des gesellschaftlichen Klimas | |
Bettina Gaber will sich nicht nehmen lassen, Patient*innen auf ihrer | |
Webseite über ihr Leistungsspektrum zu informieren. „Es ist Teil ebenso | |
meiner Aufgabe als Ärztin, Schwangerschaften zu betreuen, wie Abbrüche | |
durchzuführen“, sagt sie. „Das ist klar in meinem Berufsbild verwurzelt.“ | |
Nur wenige Ärzt*innen in Deutschland sehen es so wie Gaber: Bei rund 18.500 | |
berufstätigen Ärzt*innen in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe führen nur | |
etwa 1.200 Abbrüche durch. „Das ist eine Frage des gesellschaftlichen | |
Klimas. Viele haben keine Lust auf diese Kriminalisierung“, sagt Gaber. | |
Bis Hänel im September 2017 verurteilt wurde, kannte Gaber den Paragrafen | |
gar nicht. Die Information über ihr Leistungsspektrum stand da schon seit | |
sieben Jahren auf ihrer Webseite. „Aber als das Urteil kam, dachte ich: | |
jetzt geht’s los. Jetzt erwischen dich die Abtreibungsgegner“, sagt Gaber. | |
Sie habe sich aber dagegen entschieden, ihre Webseite zu ändern. Jetzt | |
könnte Gabers Fall derjenige sein, der den Paragrafen kippt. Zunächst muss | |
das Bundesverfassungsgericht aber entscheiden, ob es die Beschwerde | |
überhaupt annimmt. Gaber ist zuversichtlich: „Dieses Gesetz muss komplett | |
abgeschafft werden“, sagt die Ärztin. | |
18 Dec 2019 | |
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