# taz.de -- 150 Jahre Paragraf 218: Der Bauch, das Politikum | |
> Seit 1871 stehen Abtreibungen im Strafgesetzbuch. An diesem Samstag | |
> protestieren bundesweit Aktivist:innen für eine Abschaffung des | |
> Paragrafen 218. | |
Bild: Bundesweit fordern Menschen die Abschaffung von Paragraf 218 | |
In rund 40 Städten soll an diesem Samstag gegen die [1][Kriminalisierung | |
von Schwangerschaftsabbrüchen protestiert] werden. Geplant sind | |
Kundgebungen, Menschenketten und Infostände. Ein bundesweites linkes und | |
feministisches „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ hat die Aktionen | |
organisiert. Anlass der Proteste ist das 150-jährige Bestehen des | |
umstrittenen Paragrafen 218, der Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe | |
stellt. | |
Das Abtreibungsverbot wurde aber nicht erst 1871 erfunden. Neu war nur das | |
Reichsstrafgesetzbuch, das am 15. Mai 1871 verkündet wurde. Das Verbot von | |
Schwangerschaftsabbrüchen wurde in dessen Paragraf 218 geregelt, der wegen | |
der vielen Kämpfe bald zu einem der bekanntesten Straf-Paragrafen wurde und | |
dies auch heute noch ist. 1871 wurde die Abtreibung mit bis zu fünf Jahren | |
Zuchthaus bestraft. Ausnahmen gab es keine. | |
Eine breitere Reformdiskussion gab es erst in der Weimarer Republik, weil | |
immer wieder Frauen an heimlich durchgeführten Abtreibungen verbluteten. | |
Die illegalen „Engelmacher“ hatten oft keinerlei Ausbildung. Doch politisch | |
war eine Liberalisierung nicht durchsetzbar. Immerhin ließ das | |
Reichsgericht 1927 Abbrüche durch Ärzt:innen zu, wenn die Schwangerschaft | |
das Leben oder die Gesundheit der Frau bedrohte. | |
Im Dritten Reich gab es eine zweigleisige Bevölkerungspolitik. Für | |
„minderwertige“ Frauen wie Jüdinnen wurde der Schwangerschaftsabbruch | |
freigegeben, für arische Frauen wurde er erschwert. 1943 führten die Nazis | |
für Personen, die fortgesetzt gewerbliche Abtreibungen vornahmen, sogar die | |
Todesstrafe ein. Damit sollte die „Lebenskraft des Volkes“ geschützt | |
werden. | |
## „Mein Bauch gehört mir“ – Aktion | |
Nach 1945 galten wieder die Regeln der Weimarer Zeit, wobei Ärzte bei der | |
Annahme einer Notlage nun großzügiger wurden und auch soziale Aspekte eine | |
zunehmende Rolle spielten. Rechtssicherheit gab es aber nicht. | |
Aus der Studentenbewegung ging nach 1968 auch die moderne Frauenbewegung | |
hervor. 1971 bekannten über 300 Frauen auf dem Titelbild der Illustrierten | |
„Stern“: „Ich habe abgetrieben“. Mit dabei waren auch berühmte | |
Schauspielerinnen wie Romy Schneider und Senta Berger. Die Feministin Alice | |
Schwarzer hatte die Aktion nach einem französischen Vorbild initiiert. Die | |
neue [2][Frauenbewegung forderte unter dem Motto „Mein Bauch gehört] mir“ | |
eine ersatzlose Streichung von Paragraf 218. | |
Die Bewegung schien Erfolg zu haben. Mit den Stimmen von SPD und FDP | |
beschloss der Bundestag im Sommer 1974 eine Fristenlösung. Der | |
Schwangerschaftsabbruch wurde erlaubt, wenn er in den ersten zwölf Wochen | |
durchgeführt wurde. | |
Doch auf Antrag der baden-württembergischen CDU-Landesregierung stoppte das | |
Bundesverfassungsgericht die Fristenlösung sofort per Eilbeschluss. Ein | |
Jahr später, 1975, erklärte Karlsruhe den liberalisierten Paragraf 218 für | |
verfassungswidrig. Das Recht auf Leben gelte von Anfang an, also auch für | |
das ungeborene Leben. | |
## Straflos aber rechtswidrig | |
Der Bundestag beschloss darauf 1976 eine Indikationenlösung. | |
Schwangerschaftsabbrüche waren rechtmäßig, wenn es eine medizinische oder | |
soziale Notlage gab sowie nach einer Vergewaltigung oder wenn ein | |
behindertes Kind erwartet wurde. | |
In der DDR war bereits 1972 eine Fristenlösung eingeführt worden, die bis | |
1992 galt. Frauen hatten in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft | |
sogar einen Anspruch auf einen Abbruch. | |
Nach der Wiedervereinigung musste eine einheitliche Rechtslage hergestellt | |
werden. Auf Vorschlag der CDU-Politikerin Rita Süssmuth beschloss der | |
Bundestag 1992 eine Beratungslösung: Abtreibungen sind in den ersten zwölf | |
Wochen erlaubt, wenn die Frau sich im Sinne des Lebensschutzes beraten | |
lässt. | |
Doch 1993 blockierte das Bundesverfassungsgericht zunächst auch diese | |
Reform, weil das ungeborene Leben zu wenig geschützt werde. Vorgabe aus | |
Karlsruhe: Abbrüche nach der Beratungslösung dürfen zwar „straflos“ | |
bleiben, müssen aber formal als „rechtswidrig“ eingestuft werden. 1995 | |
beschloss der Bundestag eine entsprechend angepasste Beratungslösung. | |
## Immer weniger Ärzt:innen | |
Diese Rechtslage gilt bis heute. Und immerhin ist es mit dieser juristisch | |
abenteuerlichen Konstruktion gelungen, den Konflikt weitgehend zu | |
befrieden. In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland jeweils rund | |
100.000 Schwangerschaftsabbrüche, davon über 95 Prozent nach der | |
Beratungslösung, die übrigen meist aufgrund einer medizinischen Indikation. | |
Im Jahr 2019 wurden nur elf Personen, davon sieben Männer, nach Paragraf | |
218 verurteilt. | |
Das Hauptproblem im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen ist | |
inzwischen, dass immer weniger Ärzt:innen dazu bereit sind. In weiten | |
Teilen Deutschlands ist es inzwischen schwer, vor Ort Hilfe zu finden. | |
Ältere Frauenärzt:innen gingen in Ruhestand und jüngere scheuen oft die | |
Stigmatisierung durch aggressive Abtreibungsgegner:innen. | |
Juristisch umstritten war zuletzt vor allem der eng verwandte Paragraf 219a | |
des Strafgesetzbuchs. Er [3][verbot Ärzt:innen nicht nur die Werbung für | |
Schwangerschaftsabbrüche], sondern auch sachliche Informationen über das | |
eigene Angebot. Nach einer Reform Anfang 2019 dürfen Ärzt:innen nun | |
immerhin darauf hinweisen, dass sie selbst Abtreibungen durchführen. Aber | |
bereits die Mitteilung der Methode ist immer noch illegal. | |
Mehrere verurteilte Ärztinnen haben deshalb das Bundesverfassungsgericht | |
angerufen. Zuständig dafür ist jedoch der Zweite Senat, der schon zwei Mal | |
Liberalisierungen blockiert hat. Beim aktuellen Aktionstag spielt der | |
Werbungs-Paragraf keine große Rolle. Im Mittelpunkt steht jetzt wieder | |
Paragraf 218 mit seinem grundsätzlichen Abtreibungsverbot. | |
15 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://wegmit218.de/termine/ | |
[2] /!1169034/ | |
[3] /Kristina-Haenel-ueber-ihr-219a-Urteil/!5745523 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
## TAGS | |
Paragraf 218 | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Feminismus | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
GNS | |
Paragraf 218 | |
Bundesverfassungsgericht | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Paragraf 218 | |
Frauenbewegung | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schwangerschaftsabbrüche: Petition will §218 streichen | |
Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung will die Legalisierung von | |
Abbrüchen. 86.000 Menschen haben die Petition unterschrieben. | |
Informationen zu EU-Verhandlungen: Karlsruhe rügt Bundesregierung | |
Der Bundestag muss zügig über EU-Verhandlungen informiert werden, so das | |
BVerfG. Geklagt hatten die Grünen wegen der Griechenland-Verhandlungen | |
2015. | |
Vermeintliche Werbung für Abtreibung: Arzt wegen 219a verurteilt | |
Ein Gericht hat den Gynäkologen Detlef Merchel zu einer Geldstrafe | |
verurteilt. Das Vergehen: Er informierte im Netz über | |
Schwangerschaftsabbrüche. | |
Abtreibungsgesetze in Deutschland: § 218 schützt kein Leben | |
Der Kompromiss zum deutschen Abtreibungsrecht wird 25 Jahre alt. Er hält | |
keines seiner Versprechen, sondern spielt Fundamentalist*innen in die | |
Hände. | |
Blauer Brief von den Vereinten Nationen: Paragraf 218a in der Kritik | |
Das UN-Menschenrechtskommissariat kritisiert, dass die Bundesregierung die | |
Situation von ungewollt Schwangeren nicht ausreichend verbessere. | |
Weitere Anzeigen wegen Paragraf 219a: Verstoß: Solidarität | |
Weil sich Ärzt*innen mit ihrer Kollegin Kristina Hänel solidarisierten, | |
wurden sie von einem Abtreibungsgegner angezeigt. |