# taz.de -- Anzeige wegen Interview zu 219a: Neue Eskalationsstufe | |
> Die Bedrohung nimmt zu: Wegen eines Interviews zum Thema | |
> Schwangerschaftsabbruch ist die Ärztin Alicia Baier angezeigt worden. | |
Bild: Alicia Baier spricht auf dem internationalen Safe Abortion Day 2019 in Gi… | |
Der Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs geriet in den vergangenen Jahren vor | |
allem deshalb in die Schlagzeilen, weil Ärzt:innen seinetwegen angezeigt | |
wurden, die auf ihren Webseiten über ihre Leistungen beim | |
Schwangerschaftsabbruch informieren. Er verbietet es zum Beispiel, | |
öffentlich zu machen, ob und wie Ärzt:innen Abbrüche vornehmen – „ihres | |
Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise“. [1][Erst im Mai | |
wurde wieder ein Gynäkologe deshalb veurteilt]. | |
Nun ist eine Ärztin wegen des Paragrafen angezeigt worden – weil sie | |
öffentlich über das Thema Schwangerschaftsabbruch gesprochen hat. Bereits | |
vor einem Jahr gab die Ärztin Alicia Baier dem feministischen | |
Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung ein Interview über | |
„self-managed abortion“, konkret über medikamentöse Möglichkeiten zum | |
Schwangerschaftsabbruch. Diese sind für Frauen schonender und können vor | |
allem selbständig durchgeführt werden. | |
Baier, 30, ist Mitbegründerin und Vorstandsmitglied von Doctors for Choice | |
Germany, einem deutschlandweiten Netzwerk von Mediziner:innen, das sich für | |
einen selbstbestimmten Umgang mit Sexualität und Familienplanung einsetzt. | |
Im Interview kritisiert Baier etwa die restriktive Gesetzeslage in | |
Deutschland sowie Probleme, die Frauen aus dieser Situation heraus | |
erwachsen. „Medikamentöse Abbrüche“, fordert Baier im Interview, „sollt… | |
selbstverständlicher Teil der Gesundheitsversorgung sein.“ | |
Im Januar 2021 bekommt Baier Post von der Staatsanwaltschaft. Sie ist wegen | |
Paragraf 219a angezeigt – weil sie darüber gesprochen hat. „Damit ist eine | |
neue Eskalationsstufe erreicht“, sagt Baier. „Menschen, die sich im Bereich | |
reproduktiver Rechte engagieren, sollen mundtot gemacht werden.“ Das | |
Verfahren selbst wird einige Monate später zwar eingestellt. Die | |
Staatsanwaltschaft sieht keinen ausreichenden Anlass zur Erhebung einer | |
öffentlichen Klage. | |
## Betroffene Berufsgruppen | |
Baier beruhigt das nicht. „Diesmal habe ich Glück gehabt“, sagt sie und | |
fragt: „Aber was bedeutet diese Bedrohung für mich und andere Ärzt:innen | |
und Aktivist:innen?“ Wie frei diese in der Öffentlichkeit noch sprechen | |
könnten, ohne eine Anzeige befürchten zu müssen, sei unklar. Welche | |
Berufsgruppen sonst noch angezeigt werden könnten – Journalist:innen | |
etwa –, sei ebenfalls offen. | |
Der Paragraf gilt schließlich nicht nur für Ärzt:innen. Auch der | |
katholische Bischof Georg Bätzing war schon einmal wegen Paragraf 219a | |
angezeigt. Auf der Beratungsseite des Bistums Limburg war darüber | |
informiert worden, dass für einen Abbruch ein Beratungsschein nötig ist. | |
Diese Formulierung, heißt es noch immer etwa auf der Seite | |
katholisches.info, wolle „schwangere Mütter animieren, ihr Kind straffrei | |
ermorden zu lassen“. Auch die Anzeige gegen Bätzing wurde eingestellt. | |
Angezeigt wurde Baier nicht wie sonst üblich von einem der beiden | |
Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen oder Yannic Hendricks, von denen | |
Letzterer die Anzeigen als sein „Hobby“ bezeichnet – sondern von Andreas | |
Düren. Düren, ein Fotograf aus Augsburg, engagiert sich seit Jahren gegen | |
Frauenrechte. 2019 gründete er zusammen mit seiner Frau den | |
christlich-fundamentalistischen, als gemeinnützig anerkannten Verein | |
„sundaysforlife“. | |
## Bedrohungslage sei „immens“ | |
Dessen Ziel ist es, „aufzudecken, was Abtreibung dem ungeborenen Kind und | |
der Frau antut“, steht auf der Vereinswebseite. Die „Abtreibungsindustrie | |
entmenschlicht ungeborene Kinder“. Diejenigen, die derlei Unwahrheiten | |
verbreiten, würden geduldet, kritisiert Baier – aber wahrheitsgemäß über | |
Schwangerschaftsabbrüche zu informieren ist in Deutschland verboten. Sie | |
fordert dringend „mehr Schutz vor Angriffen aus dem rechten beziehungsweise | |
christlich-fundamentalistischen Lager“. | |
Die Bedrohungslage durch den Paragrafen 219a sei „immens“, sagt auch Ulle | |
Schauws, frauenpolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Bundestag, zu | |
Baiers Fall. Schauws fodert die ersatzlose Streichung des Paragrafen. Eine | |
Alternative, um Rechtssicherheit herzustellen und ungewollt Schwangeren die | |
Informationen zu geben, die sie brauchen, „gibt es nicht“. | |
[2][Die beiden Ärztinnen Kristina Hänel und Bettina Gaber haben bereits | |
Beschwerde gegen den Paragrafen 219a beim Bundesverfassungsgericht | |
eingelegt]. Je nach Ausgang der Sondierungen gäbe es – etwa mit einer | |
Ampelkoalition – möglicherweise auch in der kommenden Legislatur gute | |
Chancen, den Paragrafen endlich zu streichen. | |
6 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vermeintliche-Werbung-fuer-Abtreibung/!5767844 | |
[2] /Kristina-Haenel-ueber-ihr-219a-Urteil/!5745523 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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