| # taz.de -- Der Hausbesuch: Auf zwei Rädern ins Glück | |
| > Beständigkeit trägt Renate Wiehmann durchs Leben. Dazu der Glaube, dass | |
| > alles gut wird. Abwechslungsreich ist ihr Leben trotzdem. | |
| Bild: Blau ist ihre Lieblingsfarbe | |
| Alles hat seine Zeit, sagt Renate Wiehmann. Und nach 40 Jahren im | |
| Schuldienst fängt jetzt ihre Zeit an. | |
| Draußen: Zweimal in der Stunde hält der Zug aus Hamburg in Stade. Wer | |
| Sehnsucht nach dem Meer hat, den bringt die Bahn weiter an die Küste. Die | |
| Straße, in der Renate Wiehmann wohnt, liegt nah beim Bahnhof. Das trifft | |
| sich gut, denn sie hat kein Auto, aber eine Bahncard. Und ein Fahrrad. Wenn | |
| das Wetter es zulässt, erwischt man die große, schlanke Frau meist auf dem | |
| Rad, nach links, nach rechts grüßend. Nach 46 Jahren in der norddeutschen | |
| Kleinstadt kennt sie die Menschen. Einfamilienhäuser prägen das Viertel, | |
| ihr rotes Backsteinhaus fällt auf, wegen der schönen blauen Tür. | |
| Drinnen: Blau geht es weiter, von der Tischdecke zum Set, zur Kaffeekanne. | |
| „Blau ist meine Lieblingsfarbe, blau, grün und türkis“, sagt sie. Diese | |
| Farben hat auch ihr Pullover, im vergangenen Jahr hat sie ihn gestrickt. | |
| Jetzt sitzt sie am Tisch in ihrer Wohnküche und strickt an einem ähnlichen | |
| Modell. Immer wieder klingelt das Telefon. Im März wird das fünfte | |
| Enkelkind geboren. Drei Uhren ticken, die Standuhr ist ein Erbstück des | |
| Vaters. „Die höre ich gar nicht mehr.“ Aus der Küche führt eine Glastür… | |
| den Garten. Sie sitzt gerne dort, trinkt Kaffee, beobachtet die Vögel. Was | |
| in der Welt passiert, erfährt sie aus dem Küchenradio und aus dem Stader | |
| Tageblatt. Früher bewohnte sie das Haus mit Mann und Kindern, inzwischen | |
| vermietet sie die obere Etage an Lehramtsreferendar*innen. | |
| Damals: Ihre Kindheit verbrachte sie mit vier Geschwistern in einem kleinen | |
| Dorf in Ostwestfalen, der Vater war Pfarrer, die Mutter Ärztin. Der Beruf | |
| des Vaters prägt das Familienleben, religiöse Andachten und gemeinsames | |
| Singen gehören zum Alltag. „Da war nicht nur meine Familie. Diakonissen, | |
| Kindergärtnerin, Kriegerwitwen und Küster, in meiner Erinnerung gaben die | |
| mir alle viel Wärme, Liebe, Geborgenheit und Verständnis.“ Sie helfen, den | |
| Tod der Mutter zu verwinden. „Die Krebserkrankung meiner Mutter und ihr | |
| früher Tod mit 39 haben mein Vertrauen in Gott und unsere kleine Welt ganz | |
| schön ins Wanken gebracht.“ Zuflucht findet sie in der Musik, sie spielt | |
| Bratsche und Flöte. Familienurlaube gibt es selten, stattdessen | |
| Ferienaufenthalte bei Verwandten oder Kinder– und Jugendfreizeiten, meist | |
| mit ihrer jüngeren Schwester Annemarie. An all das denkt sie gerne zurück. | |
| Eigene Wege: Der enge dörfliche Rahmen passt Ende der Sechziger nicht mehr. | |
| Die Einflüsse der Kleinstadt, in der das Mädchengymnasium war, auf das sie | |
| ging, die Denkanstöße in der Schule, Martin Luther King, Protestsongs von | |
| Joan Baez und Bob Dylan, der Vietnamkrieg, all das prägt sie: „Damals habe | |
| ich erkannt, wie wenig selbstverständlich die eigenen Bequemlichkeiten | |
| sind. Meine Herkunft wollte ich teilweise leugnen.“ | |
| Aufbruch: Nach dem Abitur geht sie ins Ausland, will Abstand bekommen, | |
| herausfinden, welche Werte der Familie sich weiter tragen. Ein Jahr lang | |
| arbeitet sie in einem Kinderheim an der finnischen Westküste, darauf folgt | |
| ein Studienjahr im schwedischen Uppsala, dann ein Lehramtsstudium in | |
| Göttingen. Die kritische Sicht auf die Bibel an der Uni, die ehrenamtliche | |
| Arbeit in einer Psychiatrie und das Zusammenleben mit der 90-jährigen | |
| körperlich behinderten Vermieterin erweitern ihren Horizont. | |
| Im Leben stehen: Bei einem Campus-Fest 1974 lernt sie Süleyman kennen, den | |
| Promotionsstudenten aus der Türkei. „Er war ein begnadeter Tänzer, deshalb | |
| fiel er mir auf. Meine Stärke war das Tanzen nie.“ Wenige Tage später | |
| bricht Süleyman mit seinem Opel Kadett für die Sommermonate in die Heimat | |
| auf. Von dort schreibt er ihr eine Postkarte. Zurück in Göttingen treffen | |
| sich der liberale Moslem und die gläubige Protestantin, verlieben sich. | |
| Hindernislauf: „In meinem Heimatdorf war das ein kleiner Skandal. Da gab es | |
| kein Industriegebiet mit Gastarbeitern, Ausländer kannte man kaum“, sagt | |
| Wiehmann. Die Verbindung stößt auf Ablehnung, doch das ungleiche Paar | |
| bleibt zusammen. „Meine Schwiegereltern hatten sich gewünscht, dass ihr | |
| Sohn in die Heimat zurückkehrt. Als klar wurde, dass das nicht passiert, | |
| gaben sie mir alle aus Deutschland mitgebrachten Geschenke zurück.“ | |
| Die Lehrerin: Sie beginnt 1975 das Referendariat in Stade, findet eine | |
| Stelle an der Sonderschule für lernbehinderte Kinder. Süleyman und sie | |
| heiraten, kaufen ein Haus, bekommen innerhalb von sechs Jahren drei Kinder. | |
| „Das Kennenlernen einer anderen Kultur und die vielen Reisen in die Türkei | |
| als das Land noch so weit entfernt schien, habe ich als unheimlich | |
| bereichernd empfunden.“ Süleyman spricht türkisch mit den Kindern, also | |
| lernt auch sie es. „Noch heute kann ich mich im Alltag gut verständigen.“ | |
| Der Hausmann: Sie liebt die Arbeit an der Montessori-Schule im sozialen | |
| Brennpunkt, die sie später annimmt, doch diese ist auch kräftezehrend. Der | |
| promovierte Agrarwissenschaftler dagegen findet keinen Job, also kümmert er | |
| sich um die Kinder, kocht, während sie arbeitet. Das Konzept geht nicht | |
| auf, sie trennen sich, im Guten. „Vielleicht waren wir doch zu | |
| unterschiedlich.“ 1995 zieht Süleyman aus. | |
| Neues Glück: Mehrmals im Jahr führt sie beim Allgemeinen Deutschen | |
| Fahrradclub Touren durchs Alte Land. 1999 ist Reinhart dabei. Wieder | |
| beginnt alles mit einer Postkarte, die er ihr schreibt, damit hat er bei | |
| der leidenschaftlichen Briefeschreiberin gleich einen Stein im Brett. Sie | |
| treffen sich öfter, entdecken viele Gemeinsamkeiten: die Liebe zur Musik, | |
| zum Radeln, ähnliche Ansichten in Glaubensfragen. Im September lernen sie | |
| sich kennen, im Dezember die erste gemeinsame Reise auf die friesische | |
| Insel Amrum. „In dem Alter zaudert man nicht mehr.“ Seitdem verbringen sie | |
| jeden Jahreswechsel auf der Insel. Nur in diesem Pandemie-Januar fiel das | |
| aus. | |
| Pandemie: Corona macht ihnen in jeder Hinsicht 2021 einen Strich durch die | |
| Rechnung. Reinharts Geburtstag am 2. Januar verbringen sie erstmals nicht | |
| in dem kleinen Café auf Amrum, stattdessen fahren sie mit Schnittchen und | |
| einer Thermoskanne Tee mit der S-Bahn bis zur Endstation nach Pinneberg. | |
| „Jetzt weiß ich, dass es bei uns schöner ist und bin beruhigt.“ Zusammen | |
| ziehen will das Paar einstweilen nicht. „Ehe und Familienleben hatten wir | |
| zu Genüge. Sich aufeinander freuen, Verabredungen haben, das genießen wir | |
| sehr.“ | |
| Beständigkeit: Seit 1963 schreibt Wiehmann Tagebuch, jeden Tag. „Wenn ich | |
| die Notizen lese, weiß ich immer, wie es mir in dem Moment ging.“ Vor sechs | |
| Jahren ging sie in Pension. Trotzdem, von Langeweile ist keine Spur, sie | |
| ist beschäftigt: montags Chor, dienstags Orchester, seit 40 Jahren. | |
| Reinhart holt sie mit dem Fahrrad ab, jedes Mal. Mittwochs wird geputzt, | |
| donnerstags ist sie beim Internationalen Chor, freitags Früh | |
| Bratschenunterricht, „den gönne ich mir, seit ich in Pension gegangen bin“, | |
| und dafür wird täglich geübt. Abends Hausmusik mit Reinhart. Jeden Mittag | |
| gehen beide zusammen spazieren. Am Wochenende besuchen sie gern einen | |
| Gottesdienst. Mehrmals pro Woche kommen geflüchtete Frauen aus Afghanistan | |
| und Syrien zu ihr, mit denen sie die deutsche Sprache übt. | |
| Glaube: Aus ihrem Glauben zieht sie Kraft und Zuversicht, sagt Wiehmann. | |
| „Bildlich gesprochen würde ich sagen, mein Glaube bringt mein Inneres zum | |
| Leuchten und zur Ruhe, in schweren Zeiten.“ Wenn man mit so vielen | |
| christlichen Liedern aufgewachsen sei, manifestiere sich das eben im Kopf, | |
| wie ein schützender Mantel. „Ich habe immer eine Zeile parat aus Liedern | |
| wie „Du meine Seele singe“ oder „Von guten Mächten wunderbar geborgen“… | |
| gleich fühle ich mich besser.“ Ihre beiden Schwestern wurden Pfarrerinnen, | |
| die Brüder haben mehr Distanz zur Kirche. „Meinen Kindern konnte ich nicht | |
| das tiefe Vertrauen, das ich im Glauben gefunden habe, weitergeben. Ich bin | |
| aber dankbar, dass für sie Werte, die für ein gelingendes Zusammenleben | |
| stehen, bedeutsam sind. | |
| Siebzig: Die große Feier zum 70. im November fiel wegen Corona ins Wasser, | |
| nachholen wird sie sie nicht. „Mein Sohn und seine Freundin waren da und | |
| haben mir die erste Videokonferenz meines Lebens mit der ganzen Familie | |
| beschert, das war eine große Freude.“ | |
| 2 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Schulze | |
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