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# taz.de -- Der Hausbesuch: Die Frau der vielen Leben
> Rahel Mann hat sich als 5-Jährige ein Jahr vor den Nazis hinter einem
> Schrank versteckt. Seitdem werfe sie nichts mehr aus den Stiefeln, sagt
> sie.
Bild: Sie glaubt, dass sich Geschichte wiederholt: Rahel Mann in Berlin-Schöne…
Sie überlebte die NS-Zeit, danach war sie in Nachkriegsdeutschland und
Israel Lehrerin, Ärztin und Psychotherapeutin. Heute wohnt die 84-jährige
Rahel Mann wieder in Berlin, in Schöneberg unweit des Hauses, in dem sie
aufgewachsen ist.
Draußen: Eine Wohnstraße inmitten von Berlins Regenbogenkiez, wo schwule
Kultur und bürgerliches Ambiente aufeinandertreffen. An einem Montagmorgen
flanieren zwei Männer in Lederkluft eng umschlungen die Straße entlang.
Während sie sich küssen, joggt ein junger Vater mit Baby auf dem Rücken
vorbei.
Drinnen: Im 5. Stock eines Neubaus öffnet Rahel Mann die Tür einer
Einzimmerwohnung. Der Eingangsbereich ist zugleich Küche. Auf der rechten
Seite sind Spüle und Herd, auf der linken die Arbeitsfläche. Im Wohn- und
Schlafzimmer stehen Sofa, Sessel, Tisch und Regale mit Büchern. Auf einem
Couchtisch ein Taschentuchspender. Ganz wie in einer psychotherapeutischen
Praxis sieht es aus.
Rollentausch: Wie ein Besuch bei einer Therapeutin fühlt sich der
Hausbesuch auch erst einmal an. Bereits kurz nach Betreten der Wohnung
teilt die 84-Jährige ihre Beobachtungen über ihr Gegenüber mit, fragt dann
nach dem Sternzeichen und gleicht ihre Eindrücke mit einem Buch über
Astrologie ab. Dabei ist sie so unverblümt, dass es bisweilen hart
rüberkommt. Doch ihre Stimme ist sanft. Gegenüber Patienten sei sie nicht
so direkt: „Ich überlege, was ich jemandem zumuten kann.“
Lebensrollen: Im Laufe des Gesprächs nimmt sie viele Rollen ein: Nach der
einer Therapeutin die einer Ärztin: „Kalte Füße haben sie nicht? Ihre
Durchblutung muss ja gut sein.“ Zuletzt die einer Zeitzeugin, die in der
NS-Zeit als Kind erleben musste, wie alle nur zusahen, als ein Säugling von
NS-Schergen den Armen der Mutter entrissen und erschlagen wurde. Einer
Zeitzeugin, die als Fünfjährige nach der Deportation der Mutter durch die
so nicht erwartete Hilfe der Blockwartsfrau überlebte. Sie habe mal
überlegt, eine Biografie zu schreiben: „Aber ich will mich nicht
festlegen.“
Resilienz: Ein Jahr verbrachte sie als Fünfjährige hinter einem Schrank im
Keller. Nüchtern erzählt sie davon, meint: „Ich war immer anpassungsfähig.…
Sie erklärt es sich damit, dass ihre Mutter sie nicht wollte: „Die wusste
nicht, wie ihr geschehen ist, dass sie schwanger war.“ Als Säugling gab die
Mutter sie zu Pflegeeltern und nahm sie erst wieder auf, als diese
deportiert wurden. Dass sie die ersten Jahre bei Pflegeeltern verbrachte,
habe sie erst mit 70 erfahren: „Das hat mich umgehauen. Vermutlich habe ich
denen zu verdanken, dass mich nichts aus den Stiefeln wirft.“ Mit zwanzig
habe sie ihrer Mutter, die das Lager überlebt hatte, den Rücken gekehrt:
„Ich hatte dann gute Schwiegereltern.“ Ihr Vater, von dem sie nur weiß,
dass er 1941 umkam, hat sie nie interessiert: „Mit manchen Dingen
beschäftige ich mich nicht.“
Verschiedene Leben: Über ihr Überleben im [1][Nationalsozialismus] hat sie
schon so oft gesprochen, dass sie meint: „Das ist ein alter Zopf.“ Vor
Schüler*innen erzählt sie dennoch immer weiter davon. Dabei hat sie in
ihrem Leben auch nach dem Krieg viel erlebt. Sie erzählt von ihrer Schul-
und Studienzeit im Nachkriegsdeutschland, davon, wie sie ihr Medizinstudium
unterbrach und Deutsch und Geschichte studierte, um alsbald, wie ihr
damaliger Mann, in den Schuldienst zu gehen. Die Kinder waren klein, das
Einkommen musste aufgebessert werden. Und sie erzählt vom Abschluss ihres
Medizinstudiums nach acht Jahren Lehrerinnendasein, ihrer Arbeit als
Therapeutin, ihrem Umzug nach Israel und der Rückkehr nach Berlin. „Ich
habe alles durcheinander gemacht. So wie es mir in den Schoß gefallen ist.
Mich quasi formlos den Formen angepasst.“
Mit Sprache Welt erschließen: Mit einem Buch, das sie im Versteck bei sich
hatte, rettete sie sich über die Zeit, brachte sich selbst Lesen und
Schreiben bei. Auch später blieb ihr Sprache wichtig. Um besser Hebräisch
zu lernen, ging sie in der Mitte ihres Lebens nach [2][Israel], wo ihre
Tochter lebte. „Die hat sich bei einer Weltreise in Israel verliebt und
meinte, nirgendwo könne man so frei sein. Trotz Armee.“ Im Gegensatz zur
deutschen Sprache, die ihr wichtig sei, um sich „auf allen Ebenen, auch
emotional, auszudrücken“, habe das Hebräische, „trotz weniger Wörter mehr
Ausdrucksstärke. Man kann mehr über sich ausdrücken.“
Beruf und Berufung: Als Kind habe sie davon geträumt, Ärztin zu werden:
„Aus dem kindlichen Grund, helfen zu wollen.“ Auch durch ihre Mutter, die
im Lager lungenkrank geworden war. Im Medizinstudium aber habe sie gemerkt:
„Ohne Psychologie geht es nicht. Und eigentlich auch nicht ohne
Philosophie.“ Philosophie sei ihr Lieblingsfach gewesen: die Liebe zur
Weisheit. Viele, meint sie, sammelten nur Wissen: „Die bezeichne ich als
Materialisten im Kopfe.“ Erst mit 43 Jahren sei sie mit allen ihren Studien
fertig gewesen: „Also spät.“
Aufarbeitung der NS-Zeit: An der Uni sei sie mit ihrem Jüdischsein offensiv
umgegangen: „Ich habe eine Kette mit Davidstern getragen. Sie sollten
fragen.“ Umgekehrt fragte sie auch. „Ich war sehr konfrontativ. Habe auch
immer nach den Elternhäusern gefragt. Viele wussten nichts. Die haben
überall nachgefragt. Aber nicht bei den eigenen Eltern.“ Sie selbst stand
gerne Rede und Antwort: „Ich war immer offen für das Thema. Habe immer
gesagt: ‚Fragt mich.‘“ Eine „ordentliche Entnazifizierung“ aber, mein…
gab es in Deutschland nie: „Das konnte man auch nicht machen. Dazu hätten
alle ihre eigenen unangenehmen Seiten erforschen müssen.“ Die menschlichen
Abgründe, die den [3][Holocaust] möglich machten, seien ja schließlich
nicht weg.
Trauma: Gern wäre Rahel Mann in Israel geblieben: „Die Menschen dort sind
insgesamt offener, direkter.“ Doch die Terroranschläge in Israel erinnerten
sie zunehmend an die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg, denen sie in
ihren Verstecken schutzlos ausgeliefert war. Sie reagierte körperlich: „Da
kam es oben und unten aus mir raus.“ Ihre Tochter habe gefragt: ‚Willst Du
das wirklich?‘ In Israel bleiben, obwohl der Körper so rebelliert, meinte
sie. Die Tochter konnte, sagt Rahel Mann, „mit einer kranken Mutter nicht
umgehen“. Daher zog sie zurück nach Berlin.
Weltlage: Was tagespolitisch passiert, erfährt Rahel Mann immer erst
später. Sie hat keinen Fernseher, kein Internet: „Ich lese einmal die Woche
den Spiegel.“ Auf die Frage, was sie davon halte, dass bei Demonstrationen
gegen den Infektionsschutz Vergleiche zur NS-Zeit gezogen werden und
Menschen meinen, sie fühlten sich wie Anne Frank oder Sophie Scholl, sagt
sie: „Ich lehne das ab, aber es tangiert mich nicht. Ich habe das
erwartet.“ Sie könne es schließlich nicht ändern: „Aber bei persönlichen
Begegnungen setze ich so was schon etwas entgegen.“
Lebensaufgabe: Nach ihrer Rückkehr aus Israel hat sie sich in Berlin
ehrenamtlich in einem Hospiz engagiert: „Mit zunehmendem Alter hat mich
bewegt: Wie treten die Leute ab?“ Es sei nicht so vielseitig gewesen, wie
sie erwartet hatte: „Die meisten gehen sehr positiv. Im Hospiz lebt man
sich ins Sterben ein.“ Vier Jahre ist sie nach Westend gefahren und hat
Menschen in ihrem Sterbeprozess begleitet: „Dann wurde es mir neben den
Zeitzeugensachen zu viel. Und das war mir dann wichtiger.“ Von ihren
Erfahrungen in der NS-Zeit zu berichten, sah sie als ihre Aufgabe: „Denn wo
kriegen die Menschen das sonst noch her?“ Manchmal macht sie sogar
Führungen zu den Originalschauplätzen, zeigt Schüler*innen ihr
Kellerversteck.
Tod: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal 84 werde. Meine Mutter ist 1962,
im 59. Lebensjahr gestorben.“ Rahel Mann genießt ihr Leben, ist trotz
Pandemie äußerst gesellig. Angst vor einer Ansteckung mit Corona hat sie
nicht: „Wenn ich daran sterben soll, dann ist das so. Dann kann ich mein
Leben auch schnell selber beenden.“ Als Ärztin, meint sie, habe sie da ihre
Mittel. Viel mehr als Corona beunruhigt sie der aktuelle Rechtsruck in
Deutschland und der Welt. Sie selbst sei noch nie persönlich angefeindet
worden. Aber sie kenne einige, die bereits auf gepackten Koffern säßen:
„Ich denke, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Und ich bin froh,
dass ich das nicht mehr erleben muss.“
8 May 2021
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## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
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