# taz.de -- Der Hausbesuch: Nordherz mit Münchner Klamotte | |
> Jay Miniano ist auf den Philippinen geboren und wuchs in Flensburg auf. | |
> Heute lebt er mit seinem Mann in München. Dort fand er seine Passion: | |
> Drag. | |
Bild: In seiner Wohnung im Münchner Dreimühlenviertel: Jay Miniano | |
Nicht immer ist es zielführend, das Leben zu planen. Jay Miniano hat das | |
Talent, sich dem Schicksal in die Hände zu legen, und es kommt doch das | |
raus, was er will. | |
Draußen: Von der stark befahrenen Auenstraße an der Isar geht es in einen | |
ruhigen Hinterhof. Es hat geregnet. Die Bäume und Sträucher leuchten in | |
sattem Grün. Das sechsstöckige Haus ist schlicht, die ockerfarbene Wand | |
ohne Risse und Graffiti, etwas weiter hinten plätschert der Westermühlbach | |
vorbei. Von dem großen Balkon hängt eine Regenbogenfahne, der Lavendel der | |
Nachbarin könnte etwas Wasser vertragen. | |
Drinnen: Weiße Wände, schlichtes Flair. Jay Miniano wohnt hier mit seinem | |
Mann. Sein Reich ist die schwarz-weiße Küche, es gibt | |
„Sauwetter-Kräutertee“ aus einer gusseisernen Kanne. Immer wieder wird die | |
Ordnung in der skandinavisch eingerichteten Wohnung durch Farbtupfer | |
durchbrochen: Im schlichten Bücherregal liegen ein pinkes und ein weißes | |
Diadem von der Hochzeit, etwas weiter oben ein paar gehäkelte Figuren – und | |
in großen Buchstaben das Wort „Hamburg“. Chaos allerdings herrscht im | |
kleinsten Zimmer: Dort stehen ein Dutzend Perücken, viele High Heels und | |
riesige Koffer voller Make-up. | |
Damals: Miniano ist auf den Philippinen geboren. Mit fünf Jahren folgte er | |
seiner Mutter nach Flensburg. Davor sei das Leben sehr einfach gewesen, | |
„aber schön“. Er wuchs in einem philippinischen Dorf auf, verbrachte viel | |
Zeit bei „Omma und Oppa“, wie der 35-Jährige mit plattdeutschem | |
Zungenschlag sagt und: „Ich hatte viel Spaß, auch wenn wir nicht viel | |
hatten.“ Doch die Jobs und vor allem das Geld waren in Deutschland. Das war | |
die Hoffnung seiner Mutter. Und deshalb auch seine. | |
Zweifel: In Deutschland ging es geordnet und streng zu. Arzt oder Anwalt, | |
das wären doch gute Berufe, mit viel Geld, das man in die Heimat schicken | |
kann, war so eine Vorstellung, die in der Familie kursierte. Miniano war | |
eines von drei Kindern in der Grundschule, das aufs Gymnasium durfte. Doch | |
es folgte eine graue Zeit voller Selbstzweifel. In der 12. Klasse schmiss | |
er hin, zog aus und begann bei H&M zu jobben, um sich über Wasser zu | |
halten. Die Mappe fürs Modedesign-Studium wurde nie fertig, auch die | |
Bewerbung für die Musical-Ausbildung an der Stage-School in Hamburg brach | |
Miniano ab. „Mach erst mal was Ordentliches, mach nichts mit Kunst“, | |
meinten seine Eltern. | |
Hamburg: Die Stadt wurde ihm irgendwann zu klein, die Selbstzweifel, die | |
Enge. „Ich habe jeden Stein in Flensburg mindestens drei Mal umgedreht“, | |
erinnert er sich. Also ging es nach Hamburg, zuerst wieder zu H&M und | |
später zu TK Maxx. Dort arbeitete sich Miniano langsam hoch und machte so | |
auch seine Mutter stolz, ganz ohne Studium. Doch der Alltagstrott war | |
eigentlich nichts für ihn. Er wollte kündigen – sein Chef schickte ihn | |
stattdessen zu einer Filialeröffnung in München. | |
München: „Hier kennt mich niemand, ich kann machen, was ich will.“ Das ist | |
der beflügelnde Gedanke, den Miniano in München hegte. Zu Recht. Denn er | |
entdeckt Neues, das gelebt werden muss. Eigentlich wollte er nur drei | |
Monate bleiben, um die Mitarbeitenden in der TK-Maxx-Filiale einzulernen. | |
Doch dann traf er Uli. Der war in einer Beziehungspause mit seinem | |
damaligen Partner. Perfekt für Miniano, er sei schließlich nur kurz da. Es | |
kam anders. | |
Heimat: Als sich Miniano entschied, in München zu bleiben, ließ er sich | |
sein erstes Tattoo stechen, einen Anker am linken Unterarm. Er soll ihn | |
erden. Mit der Zeit kam ein Kompass dazu, weil er immer nach Norden zeigt, | |
eine Meerjungfrau, eine Qualle. „Mein norddeutsches Herz wird immer lauter | |
schlagen“, erzählt er. „Ich habe nur eine Münchner Klamotte drüber.“ | |
On-Off-On: Im September 2016 zog Miniano also richtig nach München, es | |
folgte ein Auf und Ab der Gefühle. Die Beziehung mit Uli zerbrach, dann | |
fanden sie wieder zusammen, so ging das eine Weile. Doch eigentlich war ihm | |
klar, dass diese Liebe halten wird. „Deswegen konnte ich da auch relativ | |
geduldig sein“, sagt Miniano. „Uli wusste es halt noch nicht.“ Irgendwann | |
war Schluss mit dem Hin und Her. 2019 machte ihm Uli einen Heiratsantrag, | |
im August 2021 feierten sie ihr Einjähriges. | |
Drag: Auf dem Christopher Street Day 2017 in München verguckte sich Miniano | |
vor allem in die Dragqueens. Zwölf Monate, ein 120-Euro-Einkauf und drei | |
Stunden vor dem Spiegel später verwandelte er sich das erste Mal. „Ich sah | |
aus, als hätte ich mich nur fünf Minuten geschminkt“, sagt Miniano heute. | |
Aber es hat sich genau richtig angefühlt. Er macht weiter. Für seine Mutter | |
war das zuerst befremdlich. Wolle er nun eine Frau werden? „Nein, das will | |
ich nicht. Ich liebe es, auch Jay zu sein“, sagt er. „Für mich ist das ein | |
Hobby, ein Job.“ Sein Drag-Name ist Pinay Colada. Ein Wortspiel: Pinay wird | |
informell für weibliche Filipina verwendet. | |
Wettbewerb: Bald nahm Miniano beim Dragqueen-Contest im Münchner Nachtclub | |
Harry Klein teil, der erste richtige Auftritt als [1][Pinay Colada]. Sie | |
trug „typische Sitzschuhe“, in denen man kaum tanzen konnte, deshalb | |
performte sie barfuß weiter – und machte trotzdem den zweiten Platz. „Pinay | |
Colada ist keine erfundene Person, sondern eine Erweiterung von mir“, sagt | |
Miniano. Sie ist lauter, etwas mutiger. Und sie kriegt viel Aufmerksamkeit. | |
„Das genieße ich als Jay natürlich mit.“ | |
Zweites Wohnzimmer: Spätestens nach dem Auftritt im Harry Klein war klar: | |
Das ist Passion. Miniano reduzierte seine Stelle bei TK Maxx, begann einen | |
Make-up-Kurs an der Kosmetikschule Schöner in München. Die Chefin sah etwas | |
in ihm, fragte, ob er nicht Dozent werden wolle. Er wollte und bekam im | |
September 2020 nach einer Einarbeitung seine erste eigene Klasse. So | |
verbinden sich seine Leidenschaften: Er kann Leuten etwas beibringen, wie | |
damals im Einzelhandel, und gleichzeitig seine Kreativität zum Ausdruck | |
bringen. | |
Sein dürfen, wer man ist: Die Make-up-Schule ist für Miniano zum ersten Mal | |
ein Ort, wo er sich nicht verstellen muss. „Mir wird keine Feindseligkeit | |
entgegengebracht: Ich laufe mit Nagellack rum, manchmal habe ich einen | |
Fetisch-Gurt an oder einen bunten Ohrring“, erzählt er. „Ich kann da | |
wirklich ein bisschen verrückter sein. Ich muss mich nicht verstellen.“ | |
Feindseligkeiten: Probleme gibt es eher außerhalb dieser sicheren Räume. | |
Einmal, als Miniano einen weiblichen Look trug, wurde er auf der Straße von | |
einem Mann gecatcalled, der ihn wohl für eine Frau hielt. Als er mit | |
bewusst tiefer Stimme antwortete, schlug die Stimmung sofort um. Eine | |
Bierflasche flog. „Ich habe sie halt gefangen“, sagt er, „und | |
zurückgeworfen.“ Miniano meint, er könnte sich immer irgendwie wehren, auch | |
wenn es die hohen Schuhe nicht einfacher machten. Uli wäre es lieber, wenn | |
er sich öfter ein Taxi nähme. | |
Unfertig: Als Pinay Colada verwirklicht sich Miniano, und es darf noch mehr | |
werden. „Vielleicht werde ich doch mal ein berühmter Dragqueen-Serienstar, | |
who knows?“, sagt er. Einen Anfang machte er in der [2][Sitcom „The Drag | |
and Us“], die auf ZDF Neo läuft. Dort spielt er eine Dragqueen in einer | |
Nebenrolle. Doch Corona hat ihm viele Aufträge vermasselt. Dennoch: er weiß | |
um seine vielen Standbeine und es gibt ihm Sicherheit. Perfektionismus ist | |
nicht das Ziel. Außer vielleicht beim Make-up, zumindest ein wenig. | |
Familie: In Zukunft möchten Miniano und sein Mann ein Kind adoptieren, | |
dafür arbeitet er gerade an seinem nächsten Projekt. In seinem Zimmer soll | |
eine Liege einziehen, damit er dort Massagen, Sugaring, Enthaarung also, | |
und Augenbrauen- und Wimpernstyling anbieten kann. Er wäre, da er mit Kind | |
mehr in der Wohnung sein müsse, „sonst zu Hause irgendwann so gelangweilt“. | |
Miniano ist dankbar für alles, was passiert ist. Gerade auch, weil er ein | |
Bild davon hat, wie es den Menschen auf den Philippinen geht, schätzt er | |
sein Leben hier: „Das ist bei mir kein Spruch in einem Poesiealbum.“ | |
22 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.instagram.com/misspinay_colada/ | |
[2] https://presseportal.zdf.de/pm/the-drag-and-us/ | |
## AUTOREN | |
Julia Weinzierler | |
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