# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie beschreibt sich als Chamäleon | |
> Alina Gromova wuchs in der Ukraine auf. Als Jugendliche wollte sie nach | |
> Israel auswandern, dann nahm ihr Vater sie mit nach Deutschland. | |
Bild: Alina Gromovas Wohnung war mal eine Druckerei. In der Kiste auf dem Regal… | |
Alina Gromova spricht von Räumen, die sich auftun, wenn Menschen sich | |
begegnen. Zu Besuch bei einer Ethnologin, die bei ihrer Forschung immer | |
wieder auf sich selber stößt. | |
Draußen: Verkehrslärm, Spätis, Imbisse. Eine wuselige Ecke in | |
Berlin-Kreuzberg unweit des [1][Görlitzer Parks]. Den nennt Gromova ihren | |
„erweiterten Hinterhof“. Ihre Tochter Elisha fährt dort gern mit ihren | |
Inline-Skates. Es sei ein Ort, an dem viele Menschen aufeinandertreffen und | |
sich doch nicht begegnen. | |
Drinnen: Sie wohnt in einem Hinterhaus, einer ehemaligen Druckerei. | |
Wohnzimmer und Wohnküche bilden ein großes Zimmer mit Bücherregalen. Darin | |
hebräische und jiddische Bücher, die ihr ein Kollege aus Melbourne | |
vermachte. Neben einem Globus steht eine silberne Kiste mit | |
„Jugendbriefen“. Die hat Gromova sich mit ihren Freundinnen und Freunden | |
zwischen der Ukraine und Israel hin- und hergeschickt. | |
Fernweh: In der Ukraine ist sie 1980 geboren, aufgewachsen in der Stadt | |
Dnipropetrowsk. „Es war eine sehr schöne Kindheit. Unser Haus stand am | |
Rande vom Park.“ Sie spricht von viel Platz, Bewegung, Wasser und breiten | |
Straßen. „Trotzdem habe ich mir immer gewünscht, über die Grenze zu | |
schauen.“ Sie hegte früh den Wunsch, die Welt zu erkunden, „weiter zu | |
fahren als bis nach Moskau“. | |
Vorbilder: „Im Sommer bin ich immer ans Asowsche Meer gefahren“, erzählt | |
Gromova. Dort sei sie „in einem Haus voller Frauen aufgewachsen“, bei der | |
Familie der Mutter. Es waren Händlerinnen, die in der Sowjetunion viel auf | |
Reisen waren, um Waren zu kaufen. Manchmal fuhr Gromova mit. Um Geld zu | |
verdienen, hätten sich die Frauen immer etwas Neues einfallen lassen | |
müssen. | |
Verlust: Ihre Mutter starb, als sie fünf Jahre alt war. In Dnipropetrowsk | |
lebte Gromova fortan zusammen mit der neuen Familie des Vaters. Sie spricht | |
von einer „Großfamilie“ aus Angehörigen, Nachbarinnen und Nachbarn. Das | |
Verständnis von Familie sei in der Ukraine ein anderes. „Zu Cousinen sagen | |
wir auch Schwestern“, sagt Gromova, um zu verdeutlichen, wie nah man sich | |
stand. | |
Religion: In der Familie sei das Judentum sehr präsent gewesen. „Ich sage | |
manchmal soziales Judentum dazu.“ Gromovas Vater ist Jude, aber „überhaupt | |
nicht gläubig“. Als Religion durfte das Judentum in der Sowjetunion nicht | |
existieren. „Man konnte die Religion nur im Geheimen leben.“ Die Familie | |
habe dennoch jüdische Feste gefeiert. Sie erinnert sich an Matzen an | |
Pessach und Granatäpfel zu Rosch Haschana. „Wir haben nie ausdrücklich | |
darüber gesprochen, dass wir Juden sind, aber wir haben das | |
selbstverständlich gelebt.“ | |
Eine Entscheidung: Das Judentum war nicht die einzige Religion in ihrem | |
Umfeld. Ihre Großmutter mütterlicherseits war russisch-orthodox und nahm | |
sie manchmal mit in die Kirche. Aber Gromova entschied sich für das | |
Judentum. Mit dem Christentum habe sie wenig anfangen können. „Die | |
Dreieinigkeit und die Geschichte von Jesus hat mich immer irritiert.“ | |
Begeisterung: Als Jugendliche wurde für Gromova das Judentum sichtbarer – | |
auch außerhalb der schützenden Wände der Familie. Mit dem Zerfall der | |
Sowjetunion kamen jüdische Organisationen aus dem Ausland in die Stadt. | |
„Wir haben jiddische Musik gehört und dazu getanzt.“ Es sei „ungewohnt“ | |
gewesen und „schön“. Sie lernte in einem jüdischen Zentrum Hebräisch, | |
wollte Neues erfahren.Sie wollte „alles aufsaugen“, wie ein „Schwamm“. | |
Ein Traum: Eine Freundin fragte die damals zwölfjährige Gromova: „Weißt du, | |
dass Juden jetzt nach [2][Israel] gehen können?“ Möglich wurde das durch | |
ein Programm der Jewish Agency for Israel. Für Gromova wurde das zu einem | |
Traum. Sie sah es als „Möglichkeit, rauszukommen“. Sie war noch zu jung, um | |
am Programm teilzunehmen. Aber ihr war klar: Das wird nicht ewig so | |
bleiben. | |
Israel: „Mit 16 war ich dann in Israel“, erzählt Gromova. Sie lebte in | |
einem Internat. „Ein tolles Jahr.“ Sie habe das Gefühl gehabt, „gewünsc… | |
zu sein und das Judentum nicht mehr bloß in Nischen suchen zu müssen. | |
Abhängigkeit: Doch dann ein Schock: Ihr Vater und seine Frau beschlossen, | |
aus der Ukraine auszuwandern. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge wollten | |
sie nach Deutschland. Bedingung für die Auswanderung war, „dass sie alle | |
ihre minderjährigen Kinder mitnehmen“. Die damals 17-Jährige musste mit. | |
„Ich habe mich sehr gesträubt dagegen.“ | |
Tränen: Gromova dachte daran, sich von jemandem adoptieren zu lassen oder | |
zu heiraten. Ein Freund habe sich das mit der Heirat tatsächlich überlegt. | |
Aber er wollte nicht „den Stempel ‚geschieden‘“ haben. „Mit Tränen“ | |
brachten ihre jüdischen Freundinnen und Freunde sie zum Zug. Sie planten, | |
sich alle wiederzutreffen – in Israel. | |
Die Farbe wechseln: Doch in Deutschland kam dann die Neugierde, „der | |
Wunsch, mich hineinzuvertiefen“. Gromova wollte verstehen, wie die | |
Gesellschaft funktioniert. Sie beschreibt sich selbst als Chamäleon. „Ich | |
tauche in die Umgebung um mich herum ganz schnell ein und lasse mich darauf | |
ein.“ Wieder wollte sie alles aufsaugen und unbedingt Deutsch lernen. „Wenn | |
ich die Chance habe, ergreife ich sie.“ | |
Ankunft: Die Familie kam zuerst nach Köln, lebte dort anfangs in einer | |
ehemaligen Kaserne, Hausnummer: null. Zu fünft in einem Zimmer, „nachdem | |
ich mit meiner Familie schon lange nicht mehr zusammengelebt habe.“ Die | |
Schwester des Vaters wollte, „dass ich aufs Gymnasium komme“. Mit ihrem | |
schlechten Deutsch war das schwierig. Doch zusammen mit der Tante setzte | |
sie sich durch. Nach dem Abitur studierte sie Englisch und | |
Rechtswissenschaft. „Jura war dann aber doch nichts für mich.“ | |
Gemeinschaft: Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft hatte sie zunächst kaum. | |
In Köln gab es zwar eine Synagoge. Da aber nur ihr Vater Jude war, ihre | |
Mutter nicht, durfte sie dort kein Mitglied werden. Das Judentum vererbt | |
sich über die mütterliche Linie, in orthodoxen Gruppierungen wird das | |
streng gehandhabt. Deshalb suchte Gromova außerhalb der Gemeinde nach | |
Möglichkeiten, mit anderen Jüdinnen und Juden in Verbindung zu kommen. | |
„Dann fiel die Entscheidung, Jüdische Studien zu studieren“, in Berlin. | |
Orte: In Berlin wurde Gromova schnell Teil jüdischer Netzwerke. „Weil sich | |
Berlin durch die Heterogenität des jüdischen Lebens auszeichnet“, sagt sie. | |
Die jüdischen Räume entstanden oft jenseits von Synagogen. Gromova erzählt: | |
„Man traf sich zu Hause, man traf sich in Cafés.“ | |
Kinder: Während sie sich als junge Erwachsene eher intellektuell mit dem | |
Judentum auseinandersetzte, kam die religiöse Annäherung mit der Geburt | |
ihrer beiden Kinder. Gromova begann, eine Synagoge zu besuchen, feierte mit | |
ihren Kindern jüdische Feste. Sie habe das Bedürfnis verspürt, mit ihren | |
Kindern „das zu leben, was ich als Kind miterlebt habe“. | |
Museum: Studiert hat Gromova in Potsdam und Berlin. Und auch ein paar | |
Monate in Melbourne, weil dort eine große jiddischsprachige Community lebt. | |
Dort lernte sie intensiv Jiddisch und arbeitete in einem Museum, das die | |
jüdische Community gegründet hatte. | |
Gegenwart: Nach dem Studium entschied sich Gromova, zu promovieren. „Ich | |
hatte zwei tolle Vorbilder“, zwei Frauen, „die sich beide mit jüdischer | |
Geschichte auseinandergesetzt haben“. Sie ermutigten sie. Doch Gromovas | |
Projekt ging um das jüdische Leben der Gegenwart. „In Deutschland gab es | |
eigentlich niemanden an der Uni, der sich mit gegenwärtigem jüdischen | |
Leben beschäftigte.“ Einen Betreuer fand sie schließlich in der | |
Europäischen Ethnologie. | |
Identität: Gromova hat für ihre Arbeit „Generation ‚koscher light‘“ | |
jüdische Räume in Berlin erschlossen und dazu mit russischsprachigen | |
Jüdinnen und Juden Interviews geführt. „Ich wollte die ganze Stadt unter | |
die Lupe nehmen.“ Ein jüdischer Raum könne prinzipiell an jedem Ort | |
entstehen. Entscheidend sei, dass dort jüdische Identität verhandelt werde. | |
Trotzdem arbeitet sie heute in einer Institution: dem Jüdischen Museum. | |
Während sie früher von außen die jüdischen Innenräume gesucht hat, | |
erschließt sie sich jetzt von innen die Außenräume. | |
4 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lea De Gregorio | |
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