# taz.de -- Der Hausbesuch: Er will es wissen | |
> An seinem 22. Geburtstag fährt Y. nach Berlin. Mit 120 Euro in der Tasche | |
> und dem Vorsatz, die beste Version seines Selbst zu werden. | |
Bild: Y. hat den Sprung ins Unbekannte gewagt (Symbolbild) | |
Y.'s Vorbilder sind die, die es vom Tellerwäscher zum Millionär schafften. | |
Die Großes erreichten. Auch deshalb ist er nach Berlin gezogen. | |
Draußen: Autorauschen. Fahrräder flitzen vorbei. Die Hermannstraße zieht | |
sich wie eine Hauptschlagader durch Neukölln. Erst in die Seitenstraße | |
abgebogen, wird es ruhiger. Auf dem Gehsteig ragen Pflastersteine wie | |
kleine Gebirge aus dem Boden. Hinter der milchigen Schaufensterscheibe | |
bewegen sich Silhouetten. Eine Klingel gibt es nicht. Mit einem | |
verschlafenen Lächeln öffnet Y. die Tür. | |
Drinnen: Von der Straße hereingekommen, steht man direkt in einem Wohn- und | |
Schlafzimmer. Stumm an die Wand projiziert läuft ein Cartoon. | |
Lieferando-Rucksäcke stehen auf weißen Ikea-Schränken. Pizzakartons stapeln | |
sich auf dem Küchentisch. Rechts und geradeaus geht es in die Schlafzimmer. | |
Wer wann wo schläft, das wird unter den sechs MitbewohnerInnen immer wieder | |
neu entschieden. | |
WG: Sie kennen sich aus dem [1][Hostel] und noch nicht lange. Die | |
Airbnb-Wohnung haben sie angemietet, um erst einmal in der Hauptstadt | |
anzukommen. Eine Mitbewohnerin huscht in Shorts durch die Wohnung, zieht | |
den Geruch von Shampoo hinter sich her. Aufstehzeit. Y. ist der Einzige, | |
der schon länger wach ist. „Die sind eher so partymäßig drauf.“ Er führ… | |
sein aktuelles Zimmer. Seine Mission sei eine andere. Eigentlich will er | |
hier ausziehen. Er brauche Ruhe, sagt Y., kommt aus der Küche mit | |
dampfendem Tee. „Es passiert ganz viel und ich versuche mich zu ordnen.“ | |
Glück: Y. ist 22. Fast fünf Monate vor dieser Begegnung ist er mit 120 Euro | |
in der Tasche in Berlin gelandet. „Seitdem bin ich so glücklich wie nie“, | |
sagt er, über ihm ein schlichtes Hochbett. An der Wand hängt ein | |
Berlin-Poster, auf dem Boden steht ein weißer Tisch, auf dem Y. jeden | |
Morgen im Schneidersitz sitzt, meditiert und durch das Fenster auf den | |
schattigen Innenhof blickt, wo die Vögel zwitschern und sich Mülltonnen | |
aneinanderreihen. Was sonst noch zu seiner Morgenroutine gehört: Kalt | |
duschen, ein Liter Wasser auf Ex, Yoga-Übungen („für meine Korrektur“), | |
erst mal raus, dann Lesen. Jeden Tag sei er dankbar. | |
Vorbilder: „Da steckt all meine Philosophie drin“, sagt Y. und nimmt ein | |
Buch vom Fensterbrett. „Wie gewöhnliche Menschen das Ungewöhnliche | |
erreichen“, steht darauf. Er hat es mehrere Male gelesen. Seine Vorbilder: | |
Steve Jobs. Nikola Tesla. Arnold Schwarzenegger. Menschen, die | |
bilderbuchartig vom Tellerwäscher zum Millionär geworden sind. Y. lehnt | |
sich zurück. Obwohl das Geld alleine ihm eigentlich egal wäre: „Ich will | |
die beste Version meines Selbst werden.“ Was das bedeutet: frei sein, | |
reisen, sinnvolle Arbeit. Also auch genau das, was seine Eltern nicht | |
hatten. Als Allererstes möchte er ihnen seine Dankbarkeit ausdrücken. Und | |
so gesehen … ein bisschen Geld bräuchte er ja schon, um seinen Eltern ein | |
Haus in der Türkei zu kaufen, mit Schafen und Kühen. Y. zerfleddert einen | |
Teebeutel in seinen Händen. | |
Herkunft: Seine Familie kommt aus dem östlichen, kurdischen Teil der | |
Türkei. Wo die Berge beginnen und es „wüstenmäßig“ wird, „so ein biss… | |
wie in Syrien“. Y. öffnet Google Maps auf seinem Handy. Richtige Straßen | |
gibt es dort nicht, aber Kinder, die mit Reifen oder Murmeln spielen: „Es | |
ist wunderschön.“ Den Ort kennt Y. nur von Reisen dorthin, mit Koffern | |
voller Milka-Schokolade. | |
Familie: Seine Eltern sind vor etwa 30 Jahren nach Deutschland geflüchtet, | |
haben sich hier ein Leben aufgebaut. Y. wird in Bayern geboren. Er | |
bewundere seine Eltern, mehr möchte er über seine Herkunft nicht erzählen, | |
nur: „Mein Vater ist eine der diszipliniertesten Personen, die ich kenne.“ | |
Immer zwei bis drei Jobs, so etwas wie Urlaub hatte er nie. | |
Hirnfuck: In der Schule habe er sich immer fehl am Platz gefühlt. Y. klemmt | |
seine Hände in den Nacken und schaut an die Decke. Man werde immer nur auf | |
Noten reduziert: „Aber was, wenn du Probleme hast?“ Und es gehe nur um die | |
Fehler: „Das ist Hirnfuck!“ Was man Kindern stattdessen beibringen sollte? | |
Y. überlegt kurz: „Wie man sich selbst liebt.“ Die Sonne wirft ein Rechteck | |
auf den Laminatboden. In der fensterlosen Küche nebenan brutzelt etwas auf | |
dem Herd. Musik dudelt aus dem Bad. | |
Anders: „Ich dachte immer, dass ich verrückt bin. Keiner hat mich | |
verstanden.“ Die anderen Kinder mobben ihn. Er zuckt mit den Schultern. | |
„Aber Kinder sind halt Kinder.“ In seiner Klasse sei er der einzige | |
„Ausländer“ gewesen. Einmal habe die Lehrerin ihn bestraft und gesagt: | |
„Nicht mal dein Allah kann dir jetzt helfen.“ Sich zu beschweren – | |
unmöglich. Die Mutter konnte kein Deutsch und der Vater hat immer nur | |
gearbeitet. „Ich will nicht, dass sie sich Sorgen machen.“ | |
Veränderung: In seiner Kindheit habe er jede Menge falscher Dinge in sein | |
Unterbewusstsein „gedownloadet“, sagt Y. und bürstet sich mit der Hand | |
durch die Haare, seine Finger sind kurkumagelb. „Du unterscheidest als Kind | |
nicht, ob scheiße oder nicht.“ Die Veränderung kam erst mit 17. „Ich habe | |
immer mehr gecheckt, in welcher Welt wir leben, die Eltern sind | |
unglücklich, das System ist Bullshit.“ Da hat er sich entschieden, es | |
anders zu machen. | |
Verweigerung: Er verbringt viel Zeit im Wald. Nach dem Fachabitur bricht er | |
den Kontakt zu seinem alten Umfeld ab. An Studieren denkt er nicht. „Ich | |
wollte Zeit in mich investieren.“ Seine Eltern können das nicht verstehen, | |
sagen: Wenn du schon in Deutschland bist, warum wirst du nicht Arzt oder | |
machst Maschinenbau? Stattdessen schlägt sich Y. mit Gelegenheitsjobs | |
herum. Aber auch: mit Büchern und Theorien über das Unbewusste und Erfolg. | |
Aufbruch: Es ist der 30. September 2020, sein Geburtstag, als er in den | |
Flixbus steigt. Das Ziel: Berlin. Die Eltern weinen, als er geht. Aufgeregt | |
sitzt er im Bus, aber auch zuversichtlich: „Mein Mindset war bereit, ich | |
wusste, es wird sich alles ergeben. Ich werde nicht auf der Straße landen.“ | |
Dann ist er das erste Mal auf sich gestellt. Y. kniet vor dem Schrank, | |
öffnet den Koffer, mit dem er sonst in die Türkei gefahren ist, 20 Jahre | |
lang. Darin: ein Schachspiel, das sein Vater ihm mal gekauft hat, auch 20 | |
Jahre alt. Und eine Reiki-Urkunde: „Ich habe all meine Kanäle öffnen | |
lassen.“ Viel mehr hat er nicht dabei, als er in einem Berliner Hostel | |
aufschlägt. | |
Zwischenstation: Keiner im Hostel ist wirklich auf Reisen, alle auf der | |
Suche nach einem Job, einer Wohnung. Y. findet schnell Freunde. „Jeden Tag | |
sind Sachen passiert.“ Er hat dafür eine einfache Erklärung: Nur positiv | |
denken – und die Dinge kommen automatisch. Ein Mitbewohner kommt ins | |
Zimmer, greift nach dem jemenitischen Honig auf dem Tisch. „Ohio“, sagt Y., | |
die Kurzform für Guten Morgen auf Japanisch. Einige der MitbewohnerInnen | |
kommen daher. | |
Jetzt: Im Hintergrund, im Wohnzimmer sitzen sie auf der Couch, die Laptops | |
auf dem Schoß, und rauchen Zigaretten. Passanten ziehen hinter dem | |
Milchglas vorbei. „Wie soll ich sagen?“ Wenn Y. überlegt, schließt er kurz | |
die Augen. „Ich bin viel mehr, like, im Hier und Jetzt.“ Die Pläne hätten | |
schon angefangen sich zu entwickeln. „Jetzt ist es nur noch eine Frage der | |
Zeit.“ Er will Coaching oder Onlinemarketing machen. Richtig viel Geld | |
verdienen, um die Möglichkeit zu haben, selbst ein Beispiel zu werden. Um | |
andere zu empowern, die aus Kriegsgebieten kommen: „Menschen helfen, die | |
kein System haben.“ | |
Zukunft: „Ich bin in Deutschland, ich hab die Chance dazu.“ Eine Chance, | |
die seine Eltern nie gehabt haben. | |
Anm. der Redaktion: Der Porträtierte wurde auf eigenen Wunsch anonymisiert. | |
13 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ann Esswein | |
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