# taz.de -- Der Hausbesuch: Er ist eine Kiezinstanz | |
> Peter Beierlein war reich. Er hat zwei Unfälle überlebt, eine Insolvenz | |
> und eine gescheiterte Ehe. Jetzt arbeitet er in einem Kiosk in Hamburg. | |
Bild: Peter Beierlein im Kiosk | |
Seit Peter Beierlein hinter dem Tresen eines Kiosks steht, sei er so | |
glücklich wie nie, sagt er. „Es ist das Leben, das ich immer führen | |
wollte.“ | |
Draußen: Altbauten säumen die Straßen im [1][Komponistenviertel] in | |
Hamburgs Norden. Früher lebten vor allem Arbeiter hier, jetzt ziehen Leute | |
her, die ihren Latte mit Hafermilch trinken. Um die neue Zielgruppe zu | |
bedienen, eröffnen neue Geschäfte, doch der Kiosk in der Beethovenstraße, | |
von denen, die ihn kennen, die „Beethi“ genannt, ist beliebt wie eh und je. | |
Oft ist viel los, vor allem seit Corona. An guten Tagen kommen 600 Leute | |
vorbei. Hier arbeitet Peter Beierlein. | |
Drinnen: Wenige Meter vom Kiosk entfernt lebt Beierlein. Altbau, drei | |
Zimmer, 65 Quadratmeter. „Schade, dass ich keinen Balkon habe. Sonst ist es | |
perfekt.“ Über dem Tisch in der Wohnküche hängt ein Bild von New York. „… | |
bin früher oft dort gewesen.“ Und an den Wänden viele Fotos, aus Beierleins | |
Jugend, seiner ersten WG, von den Eltern, der Familie. Vor allem von den | |
Kindern Kaya und Jan. Mal mit Zahnlücke, mal mit dem Bachelor-Zeugnis in | |
der Hand. | |
Stammkundschaft: Manche Kioskkunden erkennt Beierlein am Schritt, „Morgen, | |
Helmut“, grüßt er, ohne hochzuschauen. Für ein Gespräch nimmt er sich imm… | |
Zeit. „Für manche bin ich der einzige Kontakt am Tag, im Lockdown war das | |
extrem.“ Das Wichtigste sei die Bank draußen vor der Tür. „Da erzählen d… | |
Leute mir Sachen, die würde ich mir selbst nicht erzählen.“ | |
Abenteuerspielplatz: Beierlein wird 1961 geboren, ist das älteste von drei | |
Kindern. Die Kindheit sei toll gewesen, die Eltern liebevoll. Besonders | |
gern denkt er an die Zeit auf dem [2][Mineralölwerk] in Stade zurück. „Das | |
war der supergeilste Abenteuerspielplatz der Welt.“ Weil der Vater als | |
Vertriebler dort arbeitet, bekommt die Familie eine Werkswohnung mit Garten | |
auf dem Gelände. „Wir hatten nicht viel Geld, mein Vater hat 800 Mark | |
verdient. Da war das Haus wie ein Sechser im Lotto.“ Im Mineralölwerk | |
werden auch Seife, Waschpulver und Schuhcreme hergestellt. „Die | |
Lagerhallen, die Tanks, da waren wir zuhause, ich habe auf dem Schornstein | |
des Heizwerks gesessen. Das war Freiheit.“ | |
Babyboomer: Ende der 60er wechselt der Vater den Job, die Familie zieht in | |
eine Neubausiedlung. Dort gibt es eine Zentralheizung, Beierlein bekommt | |
ein eigenes Zimmer. Er geht auf ein Jungengymnasium und macht | |
Leistungssport. „Ich habe ziemlich hoch Handball gespielt, war immer bei | |
Jugend trainiert für Olympia dabei.“ Er ist Teil einer Riesenclique, im | |
Sommer im Schwimmbad sei man locker mal auf 60 Leute gekommen. „Wir sind | |
Babyboomer, von uns gibt es viele.“ Partys, die Freunde, der Sport, die | |
Mädchen – irgendwann bleibt die Schule auf der Strecke. Kurz vor dem Abi | |
schmeißt er hin. | |
Der Unfall: Peter Beierlein beginnt in einem Hamburger Schwimmbad als | |
Schwimmmeistergehilfe zu jobben. Jeden Morgen macht er sich um 5 Uhr auf | |
den Weg. Einmal, die gerade lange Strecke ist leicht gefroren, verliert er | |
auf der B 73 die Kontrolle über seinen gelben Toyota Celica. Der Wagen | |
überschlägt sich, ein breiter Graben verhindert, dass er an einem Baum | |
landet. „Gefühlt habe ich mich tausendmal gedreht. Ich bin rausgeklettert | |
und habe geheult.“ Er trauert um das neue Auto; was hätte passieren können, | |
daran denkt er nicht. „Ich habe mir dann das Nachfolgemodell gekauft, in | |
Zitronengelb. Richtig leiden konnte ich das nicht.“ | |
Der zweite Unfall: Nur drei Wochen später, wieder passiert es auf dem Weg | |
zur Arbeit, als Beierlein am Stader Burggraben auf seiner Fahrbahn ein Auto | |
entgegenkommt, „Naht auf Naht“. Sie stoßen frontal zusammen. Die drei | |
Insassen des anderen Fahrzeugs kommen schwer verletzt ins Krankenhaus; er | |
steigt unverletzt aus dem Auto. | |
Angst: Er denkt, alles überstanden zu haben. Doch eines Samstagabends, er | |
sitzt bei den Eltern zu Hause vor der „Sportschau“, schreckt er mit | |
Herzrasen auf. „Ich dachte, ich sterbe.“ Die Panikattacken halten an und | |
häufen sich. Von einem Tag auf den anderen hört er auf, Sport zu treiben, | |
trinkt keinen Alkohol mehr. „Ich hatte Angst, dadurch einen Herzinfarkt zu | |
bekommen.“ Auto fahren geht nicht mehr, damit ist der Job gestorben. „Das | |
war das Ende meiner Jugend. All die Unbeschwertheit, auf einen Schlag weg.“ | |
Da ist Beierlein gerade erst 19. | |
Beklemmungen: Zwei Jahre geht das so. „Ich weiß nicht, wie viele Ärzte ich | |
besucht habe. Die haben mir Tranquilizer gegeben. Aber diese schreckliche | |
Angst blieb.“ Eine Kur in der Nähe von Ulm hilft Beierlein schließlich. „… | |
waren Leute, denen es so ging wie mir und ich hatte einen tollen | |
Psychologen.“ Leichte Anfälle bleiben, aber er lernt, damit umzugehen. Er | |
fasst sich ans Herz „Bis 2002 ist das immer wieder passiert, diese | |
Beklemmungen in Stresssituationen.“ | |
Zurück: Mitte der 1980er findet er wieder Anschluss bei alten Freunden. | |
Viele von ihnen sind nun in Hamburg, wo die wilden Partys sind und das | |
Leben pulsiert. Peter Beierlein will auch dorthin, doch ihm fehlt ein Plan. | |
„Schule war ja schon ein Krampf; Studieren wäre nichts für mich gewesen.“ | |
Er kauft sich ein Abendblatt, schlägt die Jobseite auf und lässt mit | |
geschlossenen Augen den Finger kreisen. „Da wo ich lande, das mache ich.“ | |
Es wurde EDV. Beierlein zieht in die Schanze und beginnt eine Ausbildung | |
als Datenverarbeitungskaufmann. „Das hat mich von der ersten Sekunde an | |
fasziniert, irgendwie habe ich das direkt begriffen.“ | |
Geschäfte: Er lernt auf den großen Rechnern, noch bevor die PCs in | |
deutschen Firmen Einzug halten. „Ich habe mich total für die Vernetzung | |
interessiert. Darauf war damals noch niemand spezialisiert. Plötzlich war | |
ich der Spezialist.“ Beierlein berät Riesen wie Springer, Conti, BMW, VW | |
und die Deutsche Bank. | |
Aufstieg: Er macht sich als Netzwerkspezialist selbstständig. Bald hat er | |
20 Angestellte und fährt schnelle Autos. Mit seiner Frau Kathy und den | |
beiden Kindern lebt er auf 165 Quadratmetern in einer Jugendstilvilla. „Wir | |
hatten so viel Geld, dass wir es gar nicht ausgeben konnten. Klar war das | |
ein geiles Leben, weltweit arbeiten, Anzug, Cabrio.“ Doch mit dem Beginn | |
der Finanzkrise 2007 ist er bereits in Sorge. „Hoffentlich schwappt das | |
nicht zu uns rüber, habe ich mir gedacht.“ | |
Crash: 2009 ist es dann so weit, die Hausbank fordert ihn auf, seine Konten | |
auszugleichen. Kurz kann sich die Firma noch einmal berappeln, aber dann | |
werden auf einen Schlag alle Aufträge aus Russland und Osteuropa storniert. | |
„Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um der Realität ins Auge zu blicken | |
und dann Insolvenz angemeldet.“ | |
Neustart: Schon 2002 hatte sich seine Frau von Beierlein getrennt. Er | |
bleibt in der Nähe wohnen, engagiert sich in der Schule der Kinder und im | |
Fußballverein des Sohnes als Jugendtrainer. „Dieses Netz hat mir nach der | |
Insolvenz unheimlich geholfen.“ 2013 fragt ihn ein Bekannter aus dem | |
Verein, ob er sich vorstellen könnte, halbtags in der „Beethi“ auszuhelfen. | |
Dem Pächter gehe es gesundheitlich nicht gut, und wenn der Kiosk nicht | |
jeden Tag mindestens fünf Stunden geöffnet sei, gingen die Post- und | |
Lottolizenz verloren. Beierlein willigt ein, interimsmäßig, und findet | |
seine Berufung. Ob er Zigaretten oder Computer verkaufe, das sei egal, auch | |
das Geld reiche ihm. „Hier bin ich mittendrin.“ Der Betreiber wechselt, er | |
bleibt. | |
Dankbarkeit: Sein Sohn lebt in Berlin, die Tochter in London; das | |
Verhältnis zu beiden ist eng. Auch Peter Beierleins Ex-Frau ist für ihn | |
immer noch Familie. „Manchmal sehen wir uns fast täglich.“ Mit dem neuen | |
Partner hat sie zwei weitere Kinder bekommen. Dann und wann besucht er mit | |
ihnen den großen Bruder. Jetzt freut er sich auf ein paar Tage Zelten im | |
Emsland mit einem Freund, er hat mit dem Segelschein angefangen. Und zum | |
60. Geburtstag haben die Kinder ihm eine gemeinsame Kalifornien-Reise | |
geschenkt. „Ich bin an vielen Tagen glücklich, aber an wirklich allen bin | |
ich zufrieden.“ | |
31 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lea Schulze | |
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