# taz.de -- Der Hausbesuch: Mehr als ein Familienmensch | |
> Sie ist junge Mutter, Auszubildende – und in der Mongolei fast ein | |
> Popstar. Zu Besuch bei Namuun Ariunsaichan in Berlin-Weißensee. | |
Bild: Manche müssen eine Melone tragen, manche ein wenig mehr: Namuun Ariunsai… | |
Namuun Ariunsaichan ist eine Frau, die versucht, in Balance zu bleiben | |
zwischen dem, was von ihr gefordert wird, und dem, was sie von sich selbst | |
fordert. | |
Draußen: Eine ruhige Nebenstraße in Berlin-Weißensee. Nicht weit vom | |
Jüdischen Friedhof blühen rosa- und weißfarbene Kastanienbäume vor einem | |
unsanierten Altbau. An der Klingel stehen drei mongolische Nachnamen. | |
Drinnen: Eine schlicht eingerichtete Wohnung ohne viel Krempel. In der | |
Küche eine Tischdecke mit roten und blauen Punkten. Auf dem Regal daneben | |
mit roten Knöpfen beklebte Steine. „Die hat Erdem gemacht, voll süß oder?�… | |
Kunstprojekte ihres 3-jährigen Sohnes passend zur Tischdecke. Aus dem | |
Fenster schweift der Blick über die Dächer von Berlin. | |
Der Kleine: Ihr Sohn Erdem kam auf die Welt, da war Ariunsaichan gerade 21 | |
Jahre alt und noch nicht mal ein ganzes Jahr mit ihrem Freund Javkhlan | |
zusammen. Geplant war das nicht. Innerhalb von drei Tagen stand die | |
Entscheidung aber fest: Sie wollten das Kind behalten. Druck von ihren | |
Eltern gab es nie, nur einige Freund:innen konnten das nicht so ganz | |
nachvollziehen. | |
Echte Freundschaft: Von vielen Menschen hat sich Ariunsaichan seit der | |
Schwangerschaft distanziert und gemerkt, wer ihre echten Freund:innen | |
sind. Während sie ihre Entscheidungen selbst verkünden wollte, wurde hinter | |
ihrem Rücken oft darüber gesprochen. Das hat sie gekränkt. Echte | |
Freundschaft bedeutet für sie: „Egal, wo die Person gerade im Leben steht, | |
sollte man Respekt haben und ein offenes Ohr.“ Stattdessen hat sie sich | |
verurteilt gefühlt für einen Lebensstil, der anders war als der ihrer | |
meisten Freund:innen. | |
Wie nach Plan: „Erdem hat alles für sein Leben vorbereitet. So hat sich das | |
echt angefühlt.“ Innerhalb eines Monats finden sie und Javkhlan eine | |
günstige 2-Zimmer-Wohnung, ziehen zusammen und heiraten bald darauf. Bereut | |
haben die beiden bisher nichts. „Das war ja deine Entscheidung in dem | |
Moment. Und du kannst dich dann nicht so fertigmachen, weil die | |
Entscheidung für dich damals die richtige war“, sagt Ariunsaichan. | |
Der Umbruch: Natürlich hat sich mit der Familiengründung so einiges | |
geändert. Statt weiter bei Radio Fritz und bei Majestic Casual, einer | |
bekannten Youtube-Musikplattform zu arbeiten und nebenbei viel Zeit in ihre | |
eigenen Songs zu stecken, lag der Fokus ab sofort auf ihrem Sohn und ihrem | |
Partner. Die Frage, wohin mit sich und all ihren Gefühlen, begleitet sie | |
bis heute. | |
Der Buddhismus: Halt findet Namuun Ariunsaichan in einer buddhistischen | |
Klosterschule am Mehringdamm. „Das ist meine Happiness-Quelle.“ Hier hört | |
sie regelmäßig Vorträge und spricht mit Nonnen und Mönchen, die sie schon | |
seit Jahren kennt. „Sie akzeptieren einfach jeden so, wie er ist, auch | |
Leute mit krassen Tattoos zum Beispiel.“ Früher hatte Ariunsaichan nie viel | |
mit Religion am Hut, auch nicht durch ihre Eltern. Erst als ihr Bruder, | |
„der war kurz davor, auf die schiefe Bahn zu geraten“, ganz verändert nach | |
einem längeren Aufenthalt aus einem Kloster in der Schweiz zurückkam, war | |
sie auch angefixt. | |
Der Traum: „Ich sehe den Lebenstraum eher als Gefühl, also wie ich mich in | |
Zukunft fühlen will.“ Klar, das Album mit ihren Songs endlich | |
fertigzubekommen und dann auf Tour zu gehen, fände sie auch toll. „Aber für | |
mich ist es wichtiger, dass ich am Ende irgendwann in Frieden mit mir | |
selbst bin. Im Reinen mit meinen Gedanken und meinen Emotionen. Das ist das | |
Schönste, was man fühlen und sein kann als Mensch.“ | |
Die Eltern: Ihre Eltern sind zum Studieren nach Deutschland gekommen. „Mein | |
Dad hat in der Mongolei erst an der Fachhochschule Malerei studiert. Und in | |
Deutschland dann Bühnenbild und danach Szenenbild.“ Heute ist er ein | |
erfolgreicher Szenenbildner und lehrt an der Universität Babelsberg. | |
Ariunsaichans Mutter ist Modedesignerin. „Ja, die sind richtig im | |
Business!“ | |
Kreative Ader: „Die Kreativität hab ich von meinem Papa.“ Ihr Vater spricht | |
mit ihr über Kunst und Musik, gibt ihr Feedback zu ihren ersten Videoclips, | |
die sie am Mac schneidet, zu ihren ersten Bildern, die sie malt, und zu | |
ihren ersten Liedern, die sie covert. „Auch wenn ich heute Musik mache oder | |
Musikvideos, dann bin ich immer gespannt auf Papas Meinung.“ | |
Die Musik: Das erste Cover, das Ariunsaichan mit der Webcam aufnimmt, ist | |
„All I Want for Christmas“, der Ohrwurm von Mariah Carey. „You know, | |
starting with a Banger!“ Das Video lädt sie bei Yotube hoch. Hier | |
verbessert sie auch mit Hilfe diverser Tutorials das Gitarrespielen. Später | |
wechselt sie zu Soundcloud, einem Portal nur für Audiofiles. „Es war | |
einfacher als Yotube, weil du kein Video dafür machen musstest!“ Sie | |
beginnt, sich mit anderen Künstlern zu vernetzen, die zum Beispiel nur | |
Beats hochladen. „Dann konnte man voll easy miteinander kollaborieren!“ Und | |
so schenkte Ariunsaichan den Beats ihre Stimme. | |
Die Mongolei: In der Wohnung erinnern ein mongolischer Teppich im | |
Schlafzimmer und ein buddhistisches Gemälde im Wohnzimmer an die Mongolei. | |
Ariunsaichan selbst ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Bis heute hat | |
sie Berührungsängste mit älteren Mongol:innen. Mit der jungen Generation | |
versteht sie sich sehr gut und ist sowohl in Deutschland als auch in der | |
Mongolei gut vernetzt. Ihr Mann Javkhlan ist in der Mongolei geboren und | |
erst zum Studium nach Deutschland gekommen. Mit Javkhlan ist Ariunsaichan | |
der Kultur ihrer Eltern wieder nähergekommen, und sogar ihr Mongolisch hat | |
sich seit der Beziehung verbessert. | |
Das Studio: In Deutschland nimmt Ariunsaichan ihre Songs einfach im | |
Schlafzimmer ihrer Wohnung auf. Da hallt es dank des vollen Kleiderschranks | |
am wenigsten. Die Beats macht Ariunsaichan noch immer mit Garage Band, | |
einem kostenlosen Programm für den Laptop. Sie lacht nervös: „Auch mein | |
Computer ist noch immer derselbe.“ Fürs Erste reicht es. Richtig mischen | |
tun sowieso andere für sie. „Aber das Mikrofon ist gut!“ | |
Die Karriere: „Musik wird immer Teil meines Lebens sein“, sagt | |
Ariunsaichan. Vollzeit-Musikerin möchte sie trotzdem nicht werden. Zu groß | |
ist ihr der Druck, irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden. „Wenn ich | |
Musik mache, dann für mich und weil es mir damit gut geht.“ Und so hat sie | |
entschieden, dass Musik nicht an erster Stelle kommt. „Erst Familie, dann | |
Job, dann Musik.“ | |
Das Standbein: Für einen sicheren Job macht Ariunsaichan zurzeit eine | |
Ausbildung zur Mediengestalterin bei der Akademie der Deutschen Welle. Hier | |
steht sie kurz vor ihrem Abschluss und muss dafür noch einen Kurzfilm | |
drehen. „Mal sehen, ob ich das kann!“ | |
Die Balance: Ariunsaichan ist gerne Mama, weiß aber auch, wenn sie Zeit für | |
sich braucht. „Ich liebe die Zeit mit meinem Sohn, aber ich kann mir nicht | |
vorstellen, nur Hausfrau und Mutter zu sein.“ Es muss auch Zeit für eigene | |
Wünsche, Ziele und Hobbys bleiben. Sie will sich ausdrücken können. „Sei es | |
durch Musik, durch Tanzen oder Malen.“ Auch auf ihrem Instagram-Profil ist | |
nichts von ihrem Ehemann oder ihrem Sohn zu sehen. „Die Leute folgen mir | |
wegen mir und nicht weil Erdem so süß ist.“ | |
Die Kritikerin: „In der Mongolei bin ich ein bisschen viral gegangen mit | |
ein paar Liedern. Deshalb hab ich eine tolle Connection dort.“ Auch in | |
Deutschland wird sie manchmal erkannt. Natürlich findet sie es auch schön. | |
Der Druck, irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen, ist trotzdem | |
belastend. „Ich hab eine extrem kritische zweite Stimme in mir. Und ich | |
muss noch lernen, mit der umzugehen und der nicht so viel Aufmerksamkeit zu | |
schenken.“ | |
Der Ausgleich: Javklhan ist Namuun Ariunsaichans erster fester Freund. In | |
seiner Gegenwart fühlt sie sich wohl und hat das Gefühl, sie selbst sein zu | |
können und sich nicht verstellen zu müssen. „Es war alles gleich so warm | |
und offen.“ Ein Gefühl von Geborgenheit und Bodenständigkeit. „Erst war i… | |
verwirrt, weil ich gar keine Schmetterlinge im Bauch hatte, aber irgendwann | |
hab ich dann gecheckt, dass ich einfach total entspannt bei ihm bin.“ | |
We are Family: Ariunsaichan ist zufrieden mit ihren Entscheidungen. | |
„Natürlich sind wir jung, wir struggeln durchs Leben und wir sind beide | |
noch nicht fertig mit Studium und Ausbildung. Aber es ist machbar.“ Für sie | |
lief zwar nicht alles nach Plan, aber genau daraus hat sich eine Zuversicht | |
ergeben, dass alles seinen Weg gehen wird. Manche ihrer alten | |
Freund:innen sind überrascht, wenn sie ihnen erzählt: „Mein Sohn ist | |
gesund, meinen Mann gibt es auch noch, und ja, ich bin sehr glücklich.“ | |
14 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Linh Tran | |
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