# taz.de -- Der Hausbesuch: Er findet keine Worte | |
> Weil sein Vater Jude war, wurde Gerd Wolf von den Nazis aus seinem | |
> Heimatdorf am Bodensee vertrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er | |
> zurück. | |
Bild: Gerd Wolf in seinem Esszimmer. Links hinten an der Wand hängt die Pfeife… | |
Er ist 93 Jahre alt und würde gerne im Winter wieder Schlittschuh laufen. | |
Allerdings nur noch vorwärts. Rückwärts traue er sich das nicht mehr zu. | |
Draußen: Ein Dorf am Bodensee, unweit von dort, wo der See in den Rhein | |
übergeht. Auf der anderen Seite ist die Schweiz. Wangen heißt der Ort, | |
knapp tausend Menschen leben hier. Besiedelt war der Fleck, wo es Wasser, | |
Fische, Sonne und fruchtbaren Boden gibt, schon vor fast sechstausend | |
Jahren. Pfahlbausiedlungen wurden hier gefunden. | |
Drinnen: Gerd Wolf zeigt jedes Zimmer in seinem Haus. Stolz ist er auf | |
seine Sammlung alter Röhrenradios, die im Arbeitsraum steht. Überhaupt | |
sammelt er gerne. Münzen, Modellautos, Bücher. In seinem Esszimmer hängt | |
die Pfeifensammlung. Dabei raucht er gar nicht. Auch auf die vielen Kästen | |
mit Dias und auf seine Regale voller Fotoalben deutet er. Denn mit 93 | |
Jahren ist alles Erinnerung. | |
Wanderbewegungen: Nicht nur im Neolithikum siedelten Leute am Bodensee. | |
Auch später. Mitte des 18. Jahrhundert kamen Juden und Jüdinnen aus | |
Vorarlberg. Gerd Wolfs Vorfahren väterlicherseits waren darunter. | |
„Viehhändler werden die gewesen sein“, sagt Wolf. „Viel Auswahl hatten s… | |
ja nicht.“ Als Hitler an die Macht kam, gehörten etwa hundert Leute zur | |
jüdischen Gemeinde im Dorf – rund ein Fünftel der damaligen Bevölkerung | |
Einen Stempel aufdrücken: Ob er selbst Jude sei? Die Antwort ist | |
unbestimmt. Er sei es geworden durch die Geschichte. „Ich bin Mischling | |
ersten Grades“, sagt Wolf. Das ist eine Kategorie, die die Nazis erfanden. | |
Erst die machten aus ihm einen Juden, einen jüdischen „Mischling“. Er | |
wiederholt es immer wieder: „Mischling ersten Grades“. Denn die Praxis der | |
Nazis steht im Widerspruch zur jüdischen Tradition: Gerd Wolfs Mutter war | |
katholisch und weil sich das Judentum über die mütterliche Linie vererbt, | |
ist er nach jüdischen Regeln kein Jude, wie es sein Vater war. Der ging | |
samstags in die Synagoge. „Da bin ich wohl öfters mit.“ Wie soll ein Kind | |
dieses Durcheinander verstehen? | |
Der Vater: Gerd Wolfs Vater war Landarzt. Bis die Nazis anfingen, ihr Gift | |
zu verspritzen. Am 10. November 1938 brannte in Wangen die Synagoge, die am | |
Ufer des Sees stand. „Ein Gotteshaus zündet man nicht an“, soll ein | |
Schreiner zu den SS-Leuten gesagt haben. Die hätten ihn sofort | |
zusammengeschlagen und eingesperrt, erzählt Wolf. Dass der Schreiner | |
Rückgrat gezeigt hat, tut Wolf 83 Jahre später noch gut. Auch zum Haus der | |
Wolfs kamen die Nazischergen an jenem 10. November. Der Vater öffnete, | |
wurde zurückgestoßen und verprügelt. „Erst als meine Mutter mit mir auf dem | |
Arm ins Zimmer kam, ließen sie von ihm ab.“ Der Vater wurde, wie alle | |
jüdischen Männer aus dem Ort, nach Dachau deportiert. | |
Foltermethoden:„In Dachau mussten sich die verhafteten Juden auf den Boden | |
legen, die Hände über dem Kopf ausgestreckt. Dann sind die SS-Leute mit | |
Fahrrädern über die Arme und Hände gefahren“, sagt Wolf. Das habe der Vater | |
erzählt. Nach ein paar Wochen wurden die Verhafteten wieder aus Dachau | |
entlassen und kamen zurück, das war vor dem Krieg noch so. Ein Mann sei | |
aber gleich gestorben, die Verletzungen waren zu schwer. Neben der heutigen | |
Fleischerei im Ort habe der gewohnt. | |
Flucht: Kaum zurück, flüchtete Gerd Wolfs Vater sofort in die Schweiz. Er | |
war gut bekannt mit dem Kantonsrat von Schaffhausen, die Stadt liegt 20 | |
Kilometer von Wangen entfernt. Die Wolfs hatten damals schon ein | |
Erholungsgrundstück, das direkt am See lag. Dort fuhr der Vater mit einem | |
Schiff auf der Schweizer Seite öfters vorbei und seine zwei Kinder winkten | |
ihm zu. | |
Reden wollen: Wolf erzählt, aber es fällt ihm schwer. Wie es war in der | |
Schule, nachdem sein Vater weg war? Wie es mit ehemaligen Freunden war? Wie | |
das Leben war im Dorf, wo der angesehene Vater plötzlich wie ein Verbrecher | |
behandelt wurde? Wolf findet keine Worte. Dann fällt ihm ein Nazi-Lehrer | |
ein, der keinem Mitschüler erlaubte, sich neben ihn zu setzen. | |
Deportation: Wie alle Juden und Jüdinnen aus Baden wurden seine Großmutter | |
und seine Tante 1942 in das Internierungslager im südfranzösischen Gurs | |
deportiert. Von dort gelangten die beiden in die Schweiz, dank der Hilfe | |
von Verwandten. Zum Glück. Denn viele andere Internierte aus Gurs wurden | |
wenig später nach Auschwitz in die Vernichtungslager verschleppt. | |
Fluchthelfer: Und dann erzählt Gerd Wolf noch, dass sein Vater Fluchthelfer | |
war. Er organisierte, dass Verfolgte über die Landgrenze in die Schweiz | |
gelangten. Als er aufflog, musste er den Kanton Schaffhausen verlassen; | |
nach dem Krieg hatte er Einreiseverbot in die Schweiz. Vor ein paar Jahren | |
kam ein Brief aus der Schweiz an Wolfs längst verstorbenen Vater. Drin | |
stand, dass er voll rehabilitiert sei. „Wie, was, rehabilitiert?, fragten | |
wir uns“, erzählt Wolfs Tochter. Sie hatten nichts davon gewusst. | |
Die Mutter: In den vierziger Jahren wurde es aufgrund der Rassegesetze für | |
Gerd Wolf und seine Schwester immer schwieriger. „Erst war dann da das | |
Schulverbot“, sagt er. Und bald starb auch die Mutter. Sie hatte | |
Tuberkulose, Verwandte in der Schweiz wollten sie zu sich holen, alles war | |
bezahlt und arrangiert. Aber der damalige Amtsarzt von Konstanz erlaubte | |
nicht, dass sie ausreiste. „Sie hätte überlebt, wenn sie Medikamente | |
gekriegt hätte“, sagt Wolf. „Die Nazis haben auch die Mutter auf dem | |
Gewissen.“ Der Nazi-Arzt sei auch nach dem Krieg weiter im Amt geblieben, | |
erzählt Wolf. | |
Zusammengeschweißt: Eine Haushälterin, „Stefanie Stöckle hieß sie, sie hat | |
schon bei der Großmutter gearbeitet“, sorgte für Gerd Wolf und seine | |
Schwester. Aber es wurde immer schwieriger. Die Kinder bekamen | |
Aufenthaltsverbot in allen Grenzkreisen und wurden nach Obertürkheim | |
geschickt, zu einem Weinbauern, einem „Wengerter“. „Wir waren sehr fleiß… | |
Haben von morgens bis abends gearbeitet“, erzählt Wolf und es klingt, als | |
erzähle ein Kind. Der Wengerter hat ihnen vermutlich das Leben gerettet. | |
Denn er habe, wenn „da dann die SS gekommen ist“, immer gesagt: „Nein, | |
nein, die beiden brauche ich unbedingt.“ Das Erlebte schweißte Wolf und | |
seine Schwester zusammen. Nach dem Krieg gingen sie wieder nach Wangen, sie | |
sind die Einzigen, die dauerhaft zurückkamen. „Da war nur noch der Erich | |
Bloch aus Israel.“ Wolf ist sich unsicher, ob der dann in Wangen oder | |
Konstanz wohnte. | |
Zurück: Wie es war, als er mit 17 Jahren ins Dorf zurückkam? Wie es war mit | |
den Leuten, die ihm vorher gezeigt haben, dass er nichts ist? Wieder findet | |
Wolf keine Worte. Die Reise sei schwierig gewesen, sagt er. Sein Vater war | |
schon im Dorf. „Er hat die Leute, die in unserem Haus wohnten, | |
rausgeworfen.“ Ob das Nazis waren? „Das werden dann wohl Nazis gewesen | |
sein.“ | |
Schweigen: Für all die Jahre danach fehlen Wolf erneut die Worte. Da sind | |
nur die Röhrenradios. Solche aus den fünfziger, sechziger, siebziger | |
Jahren. Gehäuse, aus denen Stimmen kommen könnten. In der Scheune stehen | |
noch mehr. Wolf ist Zahnarzt geworden. „Ich wollte nicht wie mein Vater | |
rund um die Uhr Landarzt sein.“ | |
Fehler: Zahnarzt würde er heute auch nicht mehr werden wollen. Das sei ein | |
Fehler gewesen. Er habe sich den Rücken kaputt gemacht. Öfters kommt dieser | |
Satz: „Da habe ich einen Fehler gemacht.“ Einen Fehler hat er gemacht, weil | |
sein Verhältnis zum Sohn, dem Ältesten der drei Kinder, schlecht ist. Einen | |
Fehler hat er gemacht, weil er seine Schwester nicht retten konnte. Sie | |
starb beim Schwimmen im Bodensee. Herzstillstand. Einen Fehler hat er | |
gemacht, weil er nicht in Zürich weiterstudiert hat, sondern in Freiburg. | |
Warum Fehler? „Ich hatte da ein Mädchen.“ | |
Heimat: Nach dem Studium eröffnet er eine Zahnarztpraxis in Singen, der | |
nächstgrößeren Stadt. Mit seiner Familie wohnt er allerdings wieder in | |
Wangen. Aber, nochmals, sagen Sie doch: Wie war es, in diesen Ort | |
zurückzukehren, wo man Ihnen viel Leid zugefügt hat? Gerd Wolf denkt lange | |
nach. Dann sagt er: „Das hier ist meine Heimat. Ich war neun Jahre Vorstand | |
im Turnverein.“ Ob sich je jemand von damals bei ihm entschuldigt hat? „Ich | |
wüsste nicht.“ Bis heute besucht Wolf alle kulturellen und politischen | |
Veranstaltungen im Ort. Mit dem Rollator ist er unterwegs. Allein, seine | |
Frau ist vor einigen Jahren gestorben. | |
Der Zustand der Welt: Leichter ist es, mit Gerd Wolf über den Zustand der | |
Welt zu sprechen. Er ist nicht optimistisch. Er ist Vegetarier. Seit bald | |
70 Jahren. Auch hat er aufgehört zu angeln. „Den Fischen den Haken aus dem | |
Maul reißen und sie totschlagen, ich wollte das nicht mehr.“ Den | |
Klimawandel nimmt er ernst. Und dass nichts dagegen getan wird, sei nicht | |
zu verstehen. „Die Menschen werden sich auslöschen.“ | |
Und seine Wünsche? „Gesundheit“, sagt er. Dass er gesund bleibe. Nur sei | |
das – erfährt, wer hartnäckig nachfragt – dann doch nicht alles: Da ist | |
auch eine Sehnsucht nach Schönheit. | |
29 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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