# taz.de -- Der Hausbesuch: Vom Ausziehen bedroht | |
> Die Wohnung der Sperlings in Berlin-Neukölln steht voller Telefone. Bei | |
> ihrem Kampf gegen die Gentrifizierung erreichen sie damit niemanden. | |
Bild: Seit 51 Jahren sind die Sperlings verheiratet | |
Die Boddinstraße 20 im Berliner Bezirk Neukölln wurde an Investoren | |
verkauft. Viele der Bewohner*innen sind vom Ausziehen bedroht. Auch | |
Gudrun und Herbert Sperling, die dort vor 40 Jahren ihr Zuhause fanden. | |
Draußen: Nachbar*innen mit Hunden, spielende Kinder, verliebte Pärchen, | |
schwankende Junkies – das ist Alltag an einem Sommertag am Boddinplatz. | |
„Vor 40 Jahren war es hier nicht so belebt, dreckig schon immer“, sagt | |
Gudrun. An einer bröckelnden Fassade gegenüber hängen zwei verblasste | |
Transparente. „Zahnloser Milieuschutz“ und „Wehrhafte Mieter für die | |
Bieter“ steht darauf. Als das Haus verkauft wurde, im Februar dieses | |
Jahres, schrieben die Bewohner*innen der Boddinstraße 20 auf ihrer | |
Facebookseite: „Bald heißt es ade schöne trashige Fassade, denn der neue | |
Eigentümer will sie hoffentlich instand setzen und nicht modernisieren!“ | |
Mit Graffiti bemalt ist auch das Tor der Fahrradgarage, bunt der Balkon | |
darüber. Eine Katze sitzt auf der Brüstung und beobachtet die | |
Passant*innen. Wer am Erdgeschoss vorbeigeht und durch die Fenster in die | |
dortige Wohnung späht, sieht, dass die Regale an den Wänden voller Telefone | |
sind. Drin leben Sammler. | |
Drinnen: Der Flur der „Sperlings“, wie alle die zwei nur nennen, hängt voll | |
mit Familienfotos der letzten Jahrzehnte. Magisch jedoch zieht das | |
pastellorange gestrichene Wohnzimmer mit all den Telefonapparaten an. | |
Nicht nur in den Regalen stehen sie, auch in Vitrinen und auf Tischen. | |
Zudem hängen ein paar an den Wänden. Mitten im Raum steht ein eiförmiger | |
Tisch mit Kaffee, Wasserflaschen, Oliven und Knabberzeug. Gleich ist | |
Nachbarschaftstreffen, einige Leute sitzen schon im Wohnzimmer. Auf dem | |
Tisch befinden sich auch Zigarettenpackungen und Aschenbecher. Herbert | |
Sperling raucht Kette, Gudrun Sperling hat aufgehört. Ein Kronleuchter | |
spendet weißes Licht. Gudrun Sperlings Rollator steht auch im Zimmer. | |
Telefonapparate: Die Sammelleidenschaft der Sperlings fing an, als Herbert | |
Sperling 1980 seinen ersten Apparat geschenkt bekam. Ein DDR-Modell. 300 | |
Exemplare haben sie heute, viele im Keller, das älteste sei von 1890. Es | |
gebe Stücke aus Holland, aus Ungarn, aus Polen, aus Dänemark, die sie als | |
Souvenirs mitbrachten. Viele seien was wert. „Die Kinder werden sie später | |
bei E-Bay verkaufen“, sagt Gudrun Sperling. Mit den noch funktionierenden | |
Telefonen rufen sie sich an, wenn Herbert Sperling im Keller ist und Gudrun | |
Sperling im Wohnzimmer. | |
Bei den Sperlings: „Wir sind 51 Jahre verheiratet. Das sind 50 Jahre zu | |
viel“, sagt Gudrun Sperling, und Herbert Sperling lacht, während sich die | |
beiden in die Augen schauen. 1968 lernten sie sich auf einer | |
Geburtstagsparty kennen, zwei Jahre später heirateten sie. Er arbeitete 49 | |
Jahre bei Siemens, sie war Assistentin in einer Apotheke, bis die zwei | |
Kinder zur Welt kamen. „Wir haben noch heute Spaß miteinander“, sagt sie. | |
Bei ihnen wird fast nur im scherzhaften Ton geredet. Das wissen die | |
Nachbar*innen im Haus zu schätzen. Und dann schätzen sie noch, dass man | |
sich auf die Sperlings verlassen kann, wenn es ernst wird. Ernst ist es, | |
seit 2016 die ersten Modernisierungsankündigungen an alle im Haus geschickt | |
wurden. | |
Was im Haus geschah: Das Gebäude hat 24 Wohnungen, die 2014 in | |
Eigentumswohnungen umgewandelt wurden. Ein Jahr später wird die | |
Boddinstraße zum Milieuschutzgebiet. Doch das Bezirksamt erlaubt Maßnahmen, | |
die die Mieter*innen aus eigener Tasche bezahlen sollen, wie etwa den | |
Austausch der Fenster und Gasthermen. Dagegen klagen die Mieter*innen | |
und gewinnen. Im Dezember 2019 wird das Haus versteigert, aber erst im | |
Februar 2021 an eine GmbH in Hamburg verkauft. Vier Wohnungen würden seit | |
zwei Jahren leer stehen. „Investoren sind wie ein Gott, der alles über uns | |
bestimmen will“, sagt der Biologe Andreas aus dem Hinterhaus, der wie seine | |
direkte Nachbarin Sonja bei den Sperlings sitzt. Zusammen mit anderen | |
langjährigen Bewohner*innen setzen sie sich dafür ein, dass sie in den | |
Wohnungen bleiben können. Und „gegen Spekulanten“ kämpfen sie auch. Sie | |
schafften es, drei Modernisierungsankündigungen abzuwenden und das | |
Vorkaufsrecht für ihre Wohnungen zu erhalten. Doch nicht alle haben das | |
Geld dazu. | |
Preis: „Der Preis für die Wohnung ist gut“, sagt Gudrun Sperling. „Trotz… | |
können wir uns das nicht leisten.“ Viele im Haus sind in derselben | |
Situation. Der älteste Nachbar wohne seit 50 Jahren da, ist Witwer und | |
könne nirgendwohin gehen, erklärt Herbert Sperling. Die Jüngeren ziehen | |
schnell weiter; andere suchen schon außerhalb Berlins. „Wir sind Rentner, | |
niemand gibt uns einen Kredit. Unsere Kinder können uns nicht helfen“, sagt | |
Gudrun Sperling. Zudem „werden wir auch nicht mehr so lange leben“. | |
Gesprächsthemen: Die Sperlings stellen ihr Wohnzimmer für das | |
Nachbarschaftstreffen zur Verfügung, weil sie es mögen, „umgeben von | |
Menschen zu sein“ – aber auch, weil Gudrun Sperling sich nicht mehr viel | |
bewegen kann: Ihre Gesundheit habe sich in den letzten Jahren | |
verschlechtert. Wenn dieses Thema aufkommt, wird schnell ein neues gesucht. | |
Andreas beschwert sich über feiernde Nachbarn, Sonja blättert in Akten. | |
Schlaflosigkeit: Viele im Haus können im Moment nicht schlafen – Sonja ist | |
eine von ihnen. Und das nicht nur aufgrund feiernder Nachbar*innen, sondern | |
weil die Chancen, das Zuhause zu behalten, nicht groß sind. Die 37-jährige | |
Ethnologin und Sozialpädagogin wisse nicht, wie es weitergeht. „Wer gibt | |
mir schon einen Kredit?“, fragt auch sie. 196.000 Euro braucht sie. Sie | |
macht gerade eine Ausbildung zur Naturpädagogin, sei auf Freiwilligendienst | |
und auf Jobsuche. „Was lernen Kinder von einer Naturpädagogin?“, möchte | |
Gudrun wissen. „Zum Beispiel, dass Salat nicht im Supermarkt wächst.“ | |
Widerstand: Wenn es zum Schlimmsten käme und sie ausziehen müssten, hätte | |
Gudrun Sperling eine Idee: „Ich kette mich an einen Rollstuhl an.“ Alle | |
lachen. Die Sperlings sind protesterfahren. Bei vielen Aktionen haben sie | |
damals in den 80ern mitgemacht, sagt Herbert Sperling. „Die Kinder haben | |
wir auf Demos mitgenommen.“ Bis jetzt haben die Aktionen und Demos, die die | |
Gruppe organisierte, um im Haus bleiben zu können, nicht viel gebracht, | |
doch die Hoffnung verlieren sie trotzdem nicht. | |
Es spukt: „Wir sollten den neuen Hausbesitzer über den Hausgeist, der im | |
Dachgeschoss wohnt, informieren. Das wäre eine Lösung“, schlägt eine | |
Nachbarin vor. Alle fangen gleichzeitig an, die Geschichte von der | |
damaligen Hausbesitzerin zu erzählen, die aus dem Fenster des vierten | |
Stocks sprang. Sie hatte zuvor schon zwei Mal versucht, sich das Leben zu | |
nehmen. „Unsere Tochter guckte zu“, sagt Gudrun Sperling. „Sie wollte | |
Pathologin werden“, sagt Herbert Sperling. Der Bruder der toten Frau habe | |
behauptet, seine Schwester sei umgebracht worden, und versprach lebenslange | |
Mietfreiheit für diejenigen, die ihm Hinweise geben. „Ich habe Herbert | |
vorgeschlagen, dass ich sage, er war’s, aber er wollte das nicht“, sagt | |
Gudrun Sperling, und alle lachen. | |
Hausgeschichten: Bei Nachbarschaftstreffen werden Anekdoten wie die vom | |
Hausgeist gerne erzählt. Die Sperlings berichten auch von dem Hausmeister, | |
damals, als sie in die Boddinstraße zogen. Sie glauben, dass er für die DDR | |
spionierte. „Er konnte nur ab 15 Uhr besucht werden“, sagt Gudrun Sperling. | |
„Und wenn es regnete, guckte er auf die Pfütze vor seinen Füßen. Dann | |
sprang er rein, patsch, patsch.“ Nachbar Andreas zeigt auf die Wände: | |
„Übrigens, die Telefone klingeln heimlich. Sie sind so was wie Voodoo.“ | |
Vögel und „Dinner-Hopping“: Während die Sperlings für Geselligkeit im Ha… | |
sorgen, kümmert sich Andreas um den Garten, baut Vogelhäuser und füttert | |
die Vögel das ganze Jahr. Dadurch leben hier exotische Exemplare wie der | |
Stieglitz. Seine Wohnung teilt er sich mit Meerschweinchen, „die sind | |
ichbezogen, wie Menschen“. Sonja wohnt in einer Zweier-WG, mehr als 20 | |
Mitbewohner*innen aus aller Welt habe sie in elf Jahren gehabt. Sie | |
bringt die Nachbar*innen auch zusammen, indem sie gemeinsame Aktionen | |
organisiert. Grillen im Garten, Jubiläen mit Fenstermusik oder | |
Dinner-Hoppings: von Tür zu Tür. „So kriegt man einen Einblick, wie die | |
Leute von nebenan leben.“ | |
Herzstücke: Wie die Sperlings wohnen, wissen alle: Sie seien ohne ihre | |
Wohnung und vor allem ohne die Telefonanlagen nicht mehr wegzudenken. | |
Münzen und Stabgläser sammeln sie „unter anderem“ auch. „Wohin sollen w… | |
mit dem Ganzen?“, fragt Gudrun Sperling. Alle am Tisch schweigen. | |
1 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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