# taz.de -- Über die Politik von Drag: „Travestie persifliert Reichtum“ | |
> Ein Gespräch mit dem Autor und Aktivisten Baffolo Meus über Drag und | |
> Arbeiterkinder, Travestie und Klasse, Kritik und Genuss. | |
Bild: Jacky-Oh Weinhaus (links) und Baffolo Meus | |
taz: Baffolo Meus, Sie stellen Ihrem Essay „Schminken mit Tschechow“ einen | |
Eintrag aus dem Brockhaus Konversationslexikon von 1841 voran, der lautet: | |
„Travestie nennt man ein scherzhaftes Gedicht, welchem immer ein ernstes | |
Gedicht zugrunde liegt.“ Es handelt sich also um eine Kunstform, die auf | |
heiligen Ernst und Gravitas verzichtet, dennoch und deswegen aber ein | |
ernstes politisches Anliegen verfolgt. | |
Baffolo Meus: Die Mittel und Werkzeuge der Travestie sind Leichtigkeit und | |
Flattern. Mit ihnen lässt sich öffentliche Aufmerksamkeit erhaschen und wie | |
im Falle unseres Vereins Travestie für Deutschland subkutan unsere | |
Botschaft und unsere Utopie unter das Volk bringen. | |
Die Homosexuelle Aktion Westberlin, die 1977 das SchwuZ mitbegründete, | |
heute der [1][älteste und größte queere Club Deutschlands,] organisierte | |
1973 das legendäre Tunten-Pfingstreffen. Sie setzte sich damit bewusst von | |
einem Teil der Schwulenbewegung ab, der in den bundesrepublikanischen | |
Normalzustand diffundieren wollte. Die HAW wollte nicht nur frei von | |
Homophobie leben, sondern positionierte sich auch antikapitalistisch. Sind | |
Unstimmigkeiten über das Mischverhältnis von Politik und Party ein altes | |
Problem der Linken und emanzipatorischen Bewegungen? | |
In dieser Hinsicht hat sich von 1973 über 1983 bis ins Jahr 2021 nicht viel | |
verändert. Politisches Bewusstsein und ein hedonistischer Lebensstil stehen | |
aber nicht in Widerspruch, das hat die HAW-Tunten auch gewiss ausgemacht. | |
Denen ging es sowohl um Kapitalismuskritik als auch um Genuss und Befreiung | |
vom Patriarchat. Der Hedonismus ist insofern politisch, als dass er die | |
Forderung vertritt, es müsse doch mehr geben als nur ein 0815-Leben in der | |
Dominanzgesellschaft: Er schafft gleichermaßen Werte und Glück. Der | |
Tuntenstreit über das Verhältnis von Integration und Konfrontation ist | |
meines Erachtens aber nie definitiv entschieden worden und muss es | |
gewissermaßen auch nicht. | |
Warum nicht? | |
Man kann sich mit seiner besseren Hälfte sowohl am Wochenende in die | |
Datsche im Speckgürtel Berlins zurückziehen und sich an anderen Tagen | |
politisch engagieren. Zum Verhältnis von marxistischer Bewegung und Genuss | |
hat Rio Reiser als linker Schwuler gesagt: Die Linken hier, die stinken | |
mir. Ewige Plenardiskussionen hatten mit seinem Lebensgefühl nichts zu tun. | |
Ich sehe das ähnlich, wir versuchen, der Heteromatrix lustvoll etwas | |
entgegenzusetzen. | |
Das Klassenbewusstsein, das Travestie und Drag zu eigen ist, beschreiben | |
Sie in Ihrem Essay. Sie selbst kommen aus einer ostdeutschen | |
Arbeiterfamilie und vergleichen die Drags einerseits mit „Sansculotten“, | |
revolutionären Arbeiterinnen und Kleinbürgerinnen zu Zeiten der | |
Französischen Revolution, andererseits sehen Sie bei ihnen eine Faszination | |
für den Lebensstil der „jeunesse dorée“, also reicher Bürgerkinder. | |
Die Drags, die ich kenne, haben keinen großbürgerlichen Background. Sie | |
brechen in der Travestie mit den bieder-bescheidenen Glücksvorstellungen | |
ihrer Klasse und eifern der sogenannten „jeunesse dorée“ nach. | |
Selbstverständlich ohne über die Mittel oder die Sicherheiten der oberen | |
Klassen zu verfügen. Dabei wird eine Lebensrealität in den Wunschfokus | |
gerückt, der man selber nicht angehört. Das äußert sich in extravaganten | |
Kleidern, großen Schulterpolstern, auftrumpfenden Frisuren und jeder Menge | |
Plastik-Geschmeide. Man eifert diesem Lebensstandard der oberen Klassen | |
nach, aber das geschieht nie ohne Spott, da wird gerne nach oben getreten. | |
Dieser Humor ist basales Element der Travestie und gar nicht von ihr zu | |
trennen. | |
Vorbilder der ästhetischen Grenzüberschreitung und des Spiels mit | |
Verwandlungen, auf die Sie Bezug nehmen, sind unter anderem: Marilyn | |
Monroe, David Bowie, Rainer Werner Fassbinder und Lou Reed. Welche Art von | |
Genealogie verbindet diese Namen, wer folgt ihnen heute nach? | |
Diese zum Teil auch hetero- und bisexuellen Ikonen haben eine queere | |
Lesbarkeit kommuniziert und es mir in meiner Jugend leichter gemacht. Das | |
klingt banal, aber ist es keinesfalls, da wurde etwas in mir bewegt. Wie es | |
in der kürzlich uraufgeführten „Operette für zwei schwule Tenöre“ heiß… | |
„Ein Liebeslied von Mann zu Mann hätt' mir als kleiner Junge gut getan“. | |
Heute ist Lil Nas X ein großer Popstar und kann hoffentlich Ähnliches für | |
eine neue Generation Jugendlicher leisten. Damals musste man auf die oben | |
genannten Künstler*innen zurückgreifen, genauso wie die vorige | |
Generation auf Marlene Dietrich und Bette Davis, generell gerne auf | |
Hollywooddiven der Dreißiger und Vierziger zurückgegriffen hat. Seit den | |
Siebzigern und Achtzigern, als queere Popstars verstärkt in den Medien | |
sichtbar wurden, hat sich die Welt weitergedreht. Eine zwanzigjährige Drag | |
im heutigen Berlin wird sich vielleicht weniger Madonna als Vorbild nehmen, | |
sondern eher Ariana Grande oder Lizzo. | |
Die Utopie, die in der Travestie als Kunstform aufscheint, beschreiben Sie | |
im Essay mit Anton Tschechow wie folgt: „Es gibt kein Glück ohne Müßiggang, | |
nur das Nutzlose bereitet Vergnügen“. Das ist eine radikale Absage an den | |
permanenten Verwertungszwang des kapitalistischen Alltags. | |
Kein Mann schminkt sich rote Lippen und keine Frau malt sich einen Bart an, | |
um damit große ökonomische Zwecke zu erreichen, man tut sich selbst und dem | |
Umfeld was Gutes. Das freigesetzte Glück macht die Welt momenthaft zu einem | |
besseren Ort. Vergleichbar ist das Bild einer schnurrenden Katze, die sich | |
am Ofen zusammenrollt. Ein Haus ohne Ofenkatze kann eben nur ein Haus, aber | |
niemals ein Heim sein. Und diese Funktion erfüllt Travestie, die oberste | |
Disziplin der Nutzlosigkeit. Großartige Gesangsstimmen oder wirtschaftlich | |
erfolgreiche Performer findest du bei Dragshows kaum. Es geht darum, für | |
einen Moment Kohlenstaub in Goldpartikel zu verwandeln. | |
Steht diese Utopie im Widerspruch zu aktuellen Formen der | |
Identitätspolitik? | |
Travestie ist das Gegenteil von Identität. Die identitätspolitischen | |
Diskurse dieser Zeit sind erst mal zu begrüßen, und dennoch: Das Loswerden | |
von Identität sollte nicht mit Identitätsfragen bemüht werden. Ein Begriff, | |
um den die Travestie aber nicht herumkommt und der mir nach wie vor sehr | |
wichtig ist, ist eben der Klassenbegriff. Travestie persifliert Reichtum, | |
problematisiert ihn aber nicht, sondern verteilt ihn ästhetisch um. Sie | |
eröffnet einen Sinn dafür, dass Eigentumsverhältnisse und Machtverhältnisse | |
doch anders sein könnten, zumindest für eine Nacht. | |
Sie sind im Vorstand der Travestie für Deutschland, eines Vereins, der in | |
Berlin politische Arbeit leistet. Worum geht es? | |
Unsere Galionsfigur Jacky-Oh Weinhaus hat 2016 die TfD ins Leben gerufen, | |
um dem gesellschaftlichen Rechtsruck der letzten Jahre etwas | |
entgegenzusetzen. Sie sammelte ihre Drag-Freundinnen und Verbündete um sich | |
– das Medienecho war enorm und reichte bis zur BBC und New York Times. | |
Volker Beck, den wir wegen seines Kampfes gegen Homophobie und | |
Antisemitismus für einen ganz Großen halten, war der erste Politiker, der | |
sich mit uns getroffen hat. Anfangs waren die Treffen formlos, später haben | |
wir auch Panels veranstaltet und schließlich politische Instanzen wie das | |
Justiz- und Gesundheitsministerium direkt angesprochen. Wir haben uns für | |
die Gründung des ersten lesbischen Seniorinnenheims in Europa eingesetzt | |
und erfolgreich das Verbot der „Homoheilung“ in Deutschland vorangetrieben. | |
Mittlerweile haben wir die TfD als Verein etabliert und machen in | |
Kooperation mit Bezirksämtern und Berliner Senat gezielte | |
Antidiskriminierungsarbeit in Schulen. | |
19 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Moersener | |
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