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# taz.de -- Fotos der Berliner Kulturszene: Verlassene Landschaften
> Die Berliner Fotografin Denise „Nietze“ Schmidt fängt in einem
> Text-/Bildband ein, was die Pandemie für die Kulturszene bedeutet.
Bild: Ohne Kunst in Gemeinschaft verkümmern wir langsam
Sie sind von Abwesenheit, Leere und Kargheit gezeichnet.
Schwarz-Weiß-Fotografien, die Denise „Nietze“ Schmidt in diesem Bildband
zusammengestellt hat: Ein Flyerständer im Gang des SO36 ist nurmehr ein
Metallgerippe ohne Funktion, im kahlen Konzertraum des Kreuzberger Clubs
hängt an der Theke ein Schild „Please Keep Distance“.
Die Kühlschränke im Neuköllner SchwuZ sind unbefüllt, der Eingangsbereich
wirkt wie ein toter Trakt. Und der „Trinkteufel“ in Kreuzberg hat die
Schotten dicht gemacht. Vor dem Eingang: keine Menschenseele.
„Kein Halt mehr“ heißt der Bildband, in dem die Berliner Fotografin das
Verharren, das Warten, das Darben der Kulturszene während der Coronazeit
eingefangen hat. Die Fotografien zeigen zum einen die beschriebenen
verlassenen Kulturlandschaften und bilden ab, was fehlt; sie zeigen mit
ihrer ästhetischen Qualität aber auch, was diese Orte eigentlich ausmacht.
Auf vielen anderen Fotos sieht man Protagonistinnen und Protagonisten der
Berliner (Club-)Kultur; man blickt in die nachdenklichen und skeptischen,
aber auch entschlossenen, entschiedenen, stolzen Gesichter des Produzenten
T.Raumschmiere, der Reinigungsfachkraft Roswitha aus der Columbiahalle, der
Türsteherin Jen Pahmeyer vom SchwuZ, des Konzertveranstalters Ran Huber und
der Musiker von Oum Shatt.
## Der Existenzgrundlage beraubt
Einige von ihnen haben Textbeiträge verfasst, in denen sie darüber
reflektieren, wie Kulturakteuren während der Pandemie abrupt die
Existenzgrundlage entzogen wurde und was das für das zukünftige Verhältnis
von Kultur, Ökonomie und Politik bedeuten kann oder muss. Rapperin Lena
Stoehrfaktor hofft, dass nach der Pandemie „ein Umdenken in der Subkultur
stattfindet, der Hustle von D.-I.-Y.-Künstler:innen mehr in den Fokus
gelangt und dieser schwierige Weg mehr wertgeschätzt wird.“
Nachtleben-Legende Ben de Biel wird etwas grundsätzlicher und fragt sich,
„ob ein Grundeinkommen oder Bürger:innengeld nicht vielleicht doch eine
schlaue Idee ist oder ob unsere Art und Weise zu wirtschaften nicht doch
radikal überdacht werden sollte“.
Nachdenkens- und lesenswert sind aber auch die etwas weniger erwartbaren
Einschätzungen, etwa von der Berliner Psychologin und Psychotherapeutin
Birgit Kohlhofer. Viele, die in den Lockdowns auf Kino, Konzerte und
Theater verzichten mussten, dürften sich in dem wiederfinden, was Kohlhofer
schreibt: „Kunst in Gemeinschaft (…) zu erleben dient der Herstellung
unseres Gleichgewichts, dient dazu, Mensch sein zu dürfen. Ohne sie
verkümmern wir langsam. Wir ziehen uns nach innen zurück, unstimuliert,
uninspiriert, mit getrübter Stimmung.“
Dieses Buch ist nicht das erste Projekt dieser Art, aber Fotografie scheint
auch ein gutes Medium, um den Stillstand und die Zäsur, die Corona für die
Kultur bedeutet, einzufangen. Denise Schmidt fotografiert seit vielen
Jahren, „Kein Halt mehr“ ist ihre erste Buchveröffentlichung. Sie erweist
sich dabei als gute Chronistin, die nah dran ist an ihren Sujets und doch
erkennbar die Beobachterinnenrolle einnimmt.
## Bilder voller Wut und Widerstand
Es gelingt ihr so, die ganze Stadt unter Pandemiebedingungen zu
porträtieren. Denn auch Demonstrationen wie die „Alarmstufe Rot“-Demo der
Veranstaltungsbranche, die spontane Mietendeckel-gekippt-Demo und die
1.-Mai-Demo hat sie fotografisch begleitet, man sieht sehr viel Wut und
Widerstand auf diesen Bildern. Für die Kulturszene einschneidende
Ereignisse wie den [1][Tod von Françoise Cactus] im Frühjahr hält sie
ebenfalls fest, indem sie ein „R.I.P. Françoise“-Plakat auf der
Manteuffelstraße abfotografiert.
Wir erinnern uns: Zu Beginn der Coronazeit wussten viele Politikerinnen und
Politiker wenig bis nichts über die Struktur und die Arbeitsverhältnisse in
der Kulturszene. Dieser Band, mit seinen kraftvollen Bildern genau wie mit
seinen Gedanken zur Kulturpolitik kommt genau zur richtigen Zeit,
funktioniert er doch auch als eindringliche Mahnung, bloß nicht einfach so
weiterzumachen wie vor der Pandemie. Denn viele Probleme hat diese schlicht
nur offengelegt.
21 Oct 2021
## LINKS
[1] /Zur-Erinnerung-an-Francoise-Cactus/!5753156
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Kultur in Berlin
Berlin Kultur
Kulturszene
Pandemie
Bedingungsloses Grundeinkommen
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Kunstmarkt
Queer
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