# taz.de -- „Orpheus in der Unterwelt“ in Bremen: Warmer Schaumwein statt C… | |
> Labberwarm und ohne Zunder: Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der | |
> Unterwelt“ bleibt drei Stunden lang ohne klare Idee, ohne Sex und ohne | |
> Tempo. | |
Bild: Der Schwung fehlt, aber zwei Glücksperlen gibt es doch noch | |
Traurig stimmt die Performance des Orchesters bei dieser Premiere von | |
Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. Wer noch die febrile | |
Rauschhaftigkeit erinnert, die sich unter [1][Yoel Gamzous Dirigat] bei | |
Operetten zuverlässig einstellte, kann sich über die Leistung der Bremer | |
Philharmoniker jetzt nur wundern: So bräsig und zahnlos, so brav, wie sie | |
es unter William Kelley spielen, hat man dieses Schlüsselwerk des 19. | |
Jahrhunderts noch nie gehört. Aber auch nie hören wollen. Da fehlen aller | |
Schwung und jedes Feuer. Da fehlt alles, was Operette zur queersten und | |
wollüstigsten Kunstform überhaupt gemacht und ihr seit 15 Jahren eine | |
Renaissance beschert hat. | |
Dieser rabiate Qualitätsverlust hat mehr als mit dem Dirigat aber damit zu | |
tun, dass [2][Frank Hilbrichs Regie] keinen Zunder gibt: Das Stück von | |
Ludvovic Halévy und Hector Crémieux ist ja eigentlich ein Riesenspaß, den | |
die Musik potenziert. Es erzählt eine Travestie des Orpheus-Mythos. Statt | |
durch übergroße Liebe sind der legendäre Sänger und seine Frau Eruydike – | |
gespielt von der extrem guten Sopranistin Diana Schnürpel – durch die | |
Zwänge der Ehe aneinander gekettet. Sie flieht mit ihrem Lover, dem Gott | |
der Unterwelt, in dessen Reich. | |
Dass Orpheus, der lieber mit einer Nymphe rummachen würde, sie von dort auf | |
Geheiß des Göttervaters zurückzuholen versucht, ist allein der | |
Personifikation der öffentlichen Meinung geschuldet. Die, das ist die erste | |
der zwei guten Ideen der Produktion, wird von der famosen Ulrike Mayer | |
weißmaskiert in einem von Regine Standfuss designten anthrazitfarbenen | |
Zeltststoff-Overall verkörpert. Der ist aufblasbar und verwandelt die | |
Sängerin in eine größenflexible, wabernde Stehauffigur. Mal zwergig, mal | |
riesig, mal prall und mal schlapp trollt sie über die Bühne, ohne die | |
gesangliche Perfektion einzubüßen. Brava! | |
Den zweiten guten Moment erlebt die Inszenierung, als der Höllen-Galopp | |
zwar wohl ertönt, jedoch nur über Kopfhörer und nur für die Mitglieder des | |
Ensembles: Die lautlose Individualisten-Party in der Unterwelt folgt dem | |
Rhythmus dieses Mega-Smashhits, den als French Cancan wirklich alle Welt | |
kennt. Großartig lesbar hat Sascha Pieper Profi-Tänzer*innen mit den | |
unterschiedlich bewegungsvirtuosen Chorleute und Solist*innen | |
choreografisch zusammen gebracht. Da stört noch nicht mal die recht | |
immobile Lilo Wanders, die, aus unerfindlichen Gründen als Juno gecastet, | |
im Laufe des Abends Textelemente aufsagt. | |
Zwei Glücksbläschen perlen also binnen drei Stunden aus diesem | |
labberwarmen, vom Publikum gleichwohl freudig konsumierten Schaumwein, den | |
Hilbrich kredenzt: Ohne klare Idee, ohne Sex und ohne Tempo, das dort, wo | |
es gut gemacht ist, wie zuletzt bei [3][Barrie Kosky in Berlin], jede | |
Sinnfrage wegfegen kann, wie ein Herbststurm. In Bremen jedoch: Flaute. | |
31 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Oper-Jenfa-in-Bremen/!5844961 | |
[2] /!5882990/ | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/kultur/jupiter-auf-der-pirsch-4294351.html | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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