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# taz.de -- Der Hausbesuch: Mit Pfauen und Kaninchen
> Seyhan Toku und ihr Ehemann Şehmus flohen mit ihren jesidischen Eltern in
> den 1980er Jahren aus der Türkei. Heute lebt die Familie in Bochum.
Bild: Familie Toku in ihrem Wohnzimmer
Integration, das bedeutet auch, dass man sich Haustiere hält, sagt Şehmus
Toku. Er sagt es mit einem Augenzwinkern und meint es doch ernst.
Draußen: Geprägt wurde der Bochumer Stadtteil Laer durch das Opel-Werk, das
vor acht Jahren geschlossen wurde. Zweistöckige Reihenhäuser erstrecken
sich bis fast zum Horizont. Sie sehen alle gleich aus; gestrichen in
demselben Dunkelbraun. Nur die Automarken vor den Reihenhäuschen verraten
den sozialen Status der Leute, die hier wohnen: Mercedes, Jeep, BMW.
Drinnen: Jedes Haus hat Zugang zu einem Garten, auch das der Familie Toku.
Heute trinkt Şehmus Toku seinen Tee mit Baklava allerdings auf dem Sofa.
Seine Kinder spielen um ihn herum, sie rennen die Treppe hoch und runter.
Spielzeug ist über den Boden verteilt. Der große Esstisch im Wohnzimmer mit
offener Küche ist gedeckt. Die Familie erwartet Gäste.
Der Pfau: An der Wand hängt ein großes Bild, ein wahres Feuerwerk an
Farben. Ein riesiger Pfau, der ein Rad schlägt und seine volle Federpracht
zeigt. Das ist „[1][Melek Taus]“ – im Glauben der Jesid:innen der
oberste der von Gott geschaffenen sieben Engel – der „Engel Pfau“. Auch
Familie Toku verehrt die „Schönheit der Tierwelt als das sichtbare Symbol
Gottes“.
Die Zauberin: Seyhan Toku kocht. Nein. Sie zaubert. Es gibt Bulgur mit
Reis, der nach blumigen Bergen duftet. Es scheint, als ob sie jedes Korn
auf den Tellern drapiert hat. Das Lamm ist so zart, dass es im Munde
zergeht. Und wer einmal den Tsatsiki von Seyhan Toku probiert hat, wird bis
zum Ende seines Lebens auf die jesidische Küche schwören.
Die Flucht: Şehmus Toku ist 47. Seine Frau Seyhan 37. Beide kamen Mitte der
1980er Jahre mit ihren Eltern nach Deutschland. Er aus Geduk und sie aus
[2][Nusaybin], jesidischen Ortschaften in der östlichen Türkei. Es war die
türkische Miliz, die die Menschen aus ihren Dörfern vertrieb. „Wir haben es
über Stock und Stein nach Deutschland geschafft“, erzählt Şehmus Toku.
Die Familie: 2002 haben Şehmus und Seyhan sich auf einer jesidischen
Hochzeit kennengelernt. Bald heirateten auch sie. Mittlerweile haben sie
drei Kinder. Der Cousin von Şehmus wiederum hielt um die Hand von Seyhans
Schwester an. Die beiden sind mit ihren Kindern heute zum Essen eingeladen,
sie heißen auch Toku. „Wir haben ein großes Familiennetzwerk“, sagt Şehm…
„Allein etwa 300 jesidische Familien in Deutschland heißen Toku. Doch nicht
jede kenne ich persönlich.“
Das Netzwerk: „Jesiden kennen sich untereinander. Das ist kein Spruch,
keine Floskel. Das ist die Wahrheit“, sagt Şehmus Toku. Und, verstärkt das
die soziale Kontrolle? Er widerspricht. Es sei vielmehr „wegen des
Gemeinschaftsgefüges“. So war es in der Türkei: Jesiden sind von Dorf zu
Dorf gegangen, um Geschäfte miteinander zu machen, erzählt er, und unter
Gleichgesinnten zu bleiben, zu feiern und zu trauern. „Auch in Deutschland
ist die Gemeinschaft wichtig, um unsere Kultur, Religion und Tradition zu
pflegen. In der Heimat ist das alles bedroht, egal ob in der Türkei, in
Syrien oder im Irak.“
Das Engagement: „Wir haben in Deutschland eine soziale Sicherheit“, sagt
er. Davon will er anderen etwas geben, denjenigen, die wegen [3][Krieg und
Massaker ihre Heimat verlassen]. Deswegen engagiert er sich als
Vorsitzender der jesidischen Gemeinde in Bochum. Sein Telefon klingelt
ständig, erzählt Şehmus Toku, vor allem, wenn es Probleme gibt, wenn jemand
beerdigt werden soll oder Geflüchtete in den Unterkünften untergebracht
werden müssen. „Uns hat niemand am Bahnhof erwartet oder vom Flughafen
abgeholt.“ Er helfe anderen, so könne er vor allem den neu Angekommenen
Perspektiven in Deutschland aufzeigen.
Die drei Optionen: Şehmus Toku ist Gärtner und zertifizierter
Baumgutachter. Er arbeitet seit 26 Jahren im öffentlichen Dienst. „Ich bin
da, wenn es Probleme mit städtischen Bäumen gibt.“ In Bochum gab es früher
drei große Arbeitgeber, erzählt er: Opel in der Autoindustrie,
Thyssen-Krupp im Stahlbereich und die Stadt. Er hat sich bei allen dreien
beworben und ist am Ende bei der Stadt Bochum gelandet. „Ich bin froh, dass
mein Leben so gelaufen ist. Sonst würde ich auch zu den Tausenden von
Arbeitslosen gehören, die ihren Job verloren haben, als das [4][Opel]-Werk
geschlossen wurde“, sagt er.
Der Jobwechsel: Auch Seyhan Toku ist glücklich mit ihrer Arbeit. Das war
aber nicht immer so. Sie ist gelernte Friseurin, doch war mit ihrem Job
nicht zufrieden und hat ihn schließlich aufgegeben. Eine Perspektive sah
sie in der Pflege und Betreuung alter Menschen. Seit über zehn Jahren
arbeitet Seyhan Toku als Pflegerin. „Ein Beruf mit Herz“, sagt sie.
Die WG: Heute arbeitet Seyhan Toku in einer Demenz-Wohngemeinschaft mit
zehn Personen. „Die Menschen fallen zurück an den Punkt, als sie klein
waren“, sagt sie. Toku macht Gedächtnistraining mit ihnen, lässt sie
Geschichten erzählen, wenn sie ihnen ihre alten Fotos zeigt. Die
Demenzkranken sind in einer Privateinrichtung untergebracht und werden im
Rahmen einer 24-Stunden-Pflege betreut. Es seien Menschen, die Geld haben,
erzählt sie, und Menschen, die viel mit dem Kopf gearbeitet haben –
Ärzt:innen, Professor:innen, hochrangige Beamt:innen. „Das Geld entscheidet
über das Zimmer.“ In dieser Demenz-WG zahlen die Pflegebedürftigen zwischen
6.000 und 7.000 Euro im Monat. „Wenn ich alt und krank wäre, könnte ich mir
nie so eine Pflege leisten.“
Die Anklage: Auf die Frage, ob es also eine WG für Privilegierte sei, meint
sie, dass die Frage nach Privilegien der falsche Ansatz sei: „Sie sind
krank, so wie die anderen Pflegebedürftigen in anderen Pflegeheimen, in
denen zum Beispiel zwei Menschen mit Demenz in einem Zimmer untergebracht
sind und die wegen Personalmangels keine optimale Betreuung bekommen
können.“ Dass nicht alle gleich behandelt werden, „das bezeichne ich als
unfair, unmenschlich und ungerecht“.
Der Alltag: Zwanzig Stunden in der Woche arbeitet Seyhan Toku. Dazu führt
sie zu Hause den Haushalt. Putzen, kochen, die Kinder in die Schule
bringen, von dort wieder abholen und ihnen bei den Hausaufgaben helfen, und
das alles macht sie in großem Tempo. „Ich kenne es nicht anders. Ich muss
alles selbst in Ordnung bringen.“ Und wann hat sie Zeit für sich? Abends,
wenn ihr Mann die Kinder ins Bett bringt. „Das ist seine Aufgabe“, sagt
Seyhan Toku. „Dann lege ich mich hin, telefoniere gerne oder schaue mir
einen Film an.“ Aber sogar das schafft sie nicht jeden Tag. Oft ist sie vom
Alltag platt und fällt selbst früh ins Bett.
Die Kaninchen: Und dazu sei sie noch strenger als der Vater, monieren die
Kinder. „Mama wird sauer, wenn wir die Kaninchen ins Haus reinbringen
wollen“, erzählen sie. Şehmus Toku lacht: „Wir haben zwei jesidische
Kaninchen im Garten“, sagt er. Er hat Humor, seine sarkastische Art bringt
auch seine Kinder zum Lachen. „Als gut Integrierter muss man in Deutschland
Haustiere haben. Unsere deutschen Nachbarn haben Hunde. Wir haben auch
Haustiere, aber eben Kaninchen.“ Die Kinder wollen noch zwei dazuholen. Am
besten solche, die immer Baby bleiben und nicht wachsen. „Da wäre ich auch
nicht dagegen“, sagt Şehmus Toku spitzbübisch.
Die Diskriminierung: Von Kaninchen geht keine Gefahr aus. Aber er hat
Sorge, dass sich die politische Lage in Deutschland ändern könnte. „Ich
wünsche meinen Kindern und allen anderen Menschen in Deutschland, dass sie
gleichberechtigt leben können und nicht wegen ihrer Religion oder Hautfarbe
ausgeschlossen werden.“ Es gab schon Konflikte in der Schule. „Kinder
muslimischen Glaubens haben meine Kinder gehänselt“, erzählt er. „Sie
sagten: ‚Ihr seid Jesiden, euch muss man töten.‘“ Die Familie ist besorg…
Wie kann so was in der Schule passieren? „Die Anfeindung kommt definitiv
aus den Familien. Doch die Lehrer:innen sollten solche
Auseinandersetzungen verhindern können“, sagt Şehmus Toku. Deutschland sei
die Heimat von allen.
Die Heimat: Dann geht er doch noch weiter auf den Heimatbegriff ein: „Es
gibt keine klassische Heimat“, sagt Şehmus Toku. „Mit dem Stein in meinem
Geburtsort habe ich keine Identifikation. In Bochum fühle ich mich zu
Hause, und das lasse ich mir von niemandem wegnehmen.“
20 Mar 2022
## LINKS
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Melek_Ta%C3%BBs
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Nusaybin
[3] /Genozid-an-Jesiden/!5702127
[4] /Opel-stellt-Produktion-in-Bochum-ein/!5077604
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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