# taz.de -- Der Hausbesuch: Ein Leben in Rot | |
> Vera Hemm stammt aus einer kommunistischen Familie in Konstanz. Heute, | |
> mit 86, will sie nicht mehr so streng mit sich sein. | |
Bild: Die „Rote Vera“. Selbst ein Schlaganfall kann sie nicht beeindrucken | |
Schon an der Seite ihrer Mutter kämpfte Vera Hemm für die Rechte von | |
Arbeiterinnen, Arbeitern und Frauen. Seit 1971 ist sie Mitglied der | |
Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Für eine sture Kommunistin hat sie | |
sich nie gehalten. | |
Draußen: „Damals wohnten hier fast nur Gemüsebauern. Sie hatten ihre Gärten | |
um das Haus herum“, erzählt Vera Hemm auf ihrem Balkon in der Gartenstraße | |
in [1][Konstanz]. Das achtstöckige Wohngebäude, in dem sie seit 37 Jahren | |
lebt, ist 1970 entstanden. Heute gibt es im Stadtteil Paradies vor allem | |
Einfamilienhäuser, die auf den ehemaligen Grünflächen errichtet worden | |
sind. „Alles ist bebaut. Da hat nichts mehr Platz“, sagt Hemm. Nur am Rande | |
der Straße, da steht noch ein alter Haselnussbaum. | |
Drinnen: Hemm hat die Vorhänge im Wohnzimmer weit geöffnet, damit die | |
Sonnenstrahlen jeden Winkel erreichen. Die Möbelstücke, die Bilder und die | |
Blumentöpfe befinden sich in einem Spiel aus Licht und Schatten. Das | |
gefällt Hemm. An einem kleinen runden Tisch tippt sie auf einem alten | |
dicken Laptop ihre Texte. Es ist ein Wunder, dass dieses Gerät noch | |
funktioniert. | |
Lenin zu Hause: In einem Bücherregal stehen Bände marxistischer | |
Philosophie, politischer Ökonomie, die Geschichte der deutschen | |
Arbeiterbewegung und ausgewählte Werke von [2][Wladimir Lenin]. Seine Büste | |
aus Bronze steht im selben Regal. Hemm hat eine weiße, fein gehäkelte | |
Tischdecke unter sie gelegt. | |
Kommunistin: Hemm ist 1935 in Konstanz geboren. In eine kommunistische | |
Familie. „Im,Dritten Reich' waren meine Eltern Persona ingrata.“ Hemm ist | |
auch Kommunistin. Eine überzeugte? Sie lacht. Warum lachen Sie? „Weil ich | |
keine sture Kommunistin bin.“ Und woran kann man das erkennen? „Ich bin in | |
der Theorie nicht sattelfest. Ich kann weder Lenin noch Marx zitieren“, | |
sagt sie. „Ich habe die Theorie aber verinnerlicht durch meine Eltern.“ | |
Die Mutter: „Meine Mutter war eine bekannte Kommunistin“, sagt Hemm. 648 | |
Seiten hat sie in einem Buch über sich und ihre Mutter Johanna Hemm | |
geschrieben: „Im Zeichen der roten Nelke. Mutter und Tochter – zwei | |
politisch engagierte Frauen im 20. Jahrhundert“. Beide waren Stadträtinnen, | |
Gewerkschafterinnen und Kämpferinnen für Frauenrechte. Ein Bild ihrer | |
Mutter hat sie gerahmt und an die Wand gehängt. Auf einem Foto daneben ist | |
auch ihre eigene Namensgeberin zu erkennen – die russische Revolutionärin | |
Vera Figner. | |
Für die kleinen Leute: „Für uns war die soziale Schiene was Wichtiges“, | |
sagt Hemm. Dafür engagiere sie sich immer noch beim DGB in Konstanz. 20 | |
Jahre war sie Vorsitzende im DGB-Frauenausschuss. Als Gründungsmitglied | |
sitzt sie im Vorstand des Vereins pro familia. „In meinem ganzen Leben habe | |
ich mich dafür eingesetzt, dass die Rechte der kleinen Leute mehr gestärkt | |
werden“, erklärt sie und macht klar: „Die Großen müssen was abgeben – … | |
einfach.“ Wer sind die Großen? „Die Reichen, die Millionäre, die | |
Fabrikbesitzer.“ | |
Enteignung: „Das Wort Enteignung kann man schnell falsch in den Mund | |
nehmen“, erklärt sie. Wer die Phrase „Enteignung der Reichen“ in den Mund | |
nehme, würde sofort zusammen mit den Roten und Linken in eine Schublade | |
gesteckt. | |
DKP und die Linke: Seit 1971 ist sie Mitglied in der DKP. „Wir sind zu | |
wenig Kommunist*innen in Konstanz. Und die DKP ist eine so kleine | |
Partei, die sehr wenig bewegen konnte“, sagt sie. Deswegen setzte sie für | |
Veränderungen auf die Linke und engagierte sich für sie im Konstanzer | |
Gemeinderat. Ob die Abschaffung von Ausbeutung jemals was werde, da ist sie | |
skeptisch. „Dazu fehlen die Massen.“ Auch die Bundestagswahl im September | |
habe deutlich gezeigt, dass die Linken keine große Unterstützung in der | |
Bevölkerung haben. „Davon sind wir in der Realität weit entfernt.“ | |
Chemielaborantin: Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung als | |
Chemielaborantin bei Degussa in Konstanz. Sie prüfte Medikamente, „ob auch | |
drin war, was drin sein sollte“. Dann ging sie für ein paar Jahre nach | |
Mainz, „damit ich mir mal in der Ferne Luft um die Nase wehen lasse als | |
Vorbereitung für das ernste Leben“. Dort arbeitete sie in einem Haut- und | |
Haarlabor des Unternehmens Blendax. Aber lange hielt sie es nicht aus. Sie | |
ging wieder zurück nach Konstanz und arbeitete bis zu ihrer Rente im | |
Pharmaunternehmen Byk Gulden. Heute gehört es zum japanischen Unternehmen | |
Takeda, einem der führenden Arzneimittelhersteller weltweit. | |
Traum vom Schwimmen: Ihren Job im Labor vermisst Hemm nicht. Sie habe genug | |
gearbeitet. Vor fast drei Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Jetzt hat | |
sie einen Rollator, mit dem fühlt sie sich sicher. „Es wäre schön, wenn ich | |
mehr unternehmen könnte. Aber das traue ich mich nicht“, sagt sie. Deswegen | |
verkneift sie sich das Schwimmen im See, obwohl sie viel dafür geben würde. | |
Zu den Kundgebungen der Linken hingegen geht sie immer noch. | |
Der rote Knopf: Dafür badet sie zweimal die Woche. Für genau 20 Minuten. | |
Seit dem Schlaganfall 2018 lässt sie sich vom ambulanten Pflege- und | |
Betreuungsdienst der Malteser unterstützen. Jeden Morgen kommt außerdem | |
jemand vorbei, um ihr die Strümpfe anzuziehen. Dafür bekommt die jeweilige | |
Person immer ein Stück Schokolade. Wer beim Baden hilft, bekommt die | |
doppelte Menge. Doch für ein privates Gespräch gebe es leider nie Zeit. | |
Vera Hemm trägt auch einen roten Knopf am Armband – für schnelle Hilfe im | |
Notfall. | |
Sorge: „Vor allem habe ich Angst, dass ich lange liegen muss und nichts | |
mehr machen kann. Oder dass ich auf andere angewiesen bleibe. Das will ich | |
nicht“, sagt sie. „Ich will auch nicht in ein Heim gehen.“ Nicht weit von | |
ihrer Wohnung entfernt gibt es ein Altenheim. Sie gehe ab und zu dahin. Ob | |
sie das macht, um sich doch ans Heim zu gewöhnen? „Nein, weil ich dort | |
günstig essen kann. Ich habe sowieso immer wenig Zeit in der Küche | |
verbracht.“ | |
Vorgesorgt: Sie habe alles für ihren Tod geregelt. Sie wird verbrannt. | |
„Weil ich niemanden habe.“ Ihre Urne komme hinter eine Wandtafel auf dem | |
Friedhof, wo eine ihrer Freundinnen ruht. „Die Gräber meiner Eltern gibt es | |
nicht mehr.“ | |
Rote Vera: Eine eigene Familie zu gründen habe nicht geklappt. „Es hätte | |
sich ergeben können“, sagt sie. „Ich habe für den einen oder anderen jung… | |
Mann geschwärmt.“ Es war für sie wichtig, dass die Männer ähnlich denken | |
wie sie. Doch keiner wollte sich entscheiden, mit ihr das ganze Leben zu | |
verbringen. „Ich habe den Übernamen rote Vera“, sagt sie. „Wenn man rot | |
war, ist das nicht so gut angekommen.“ – „Es ist, wie es ist. Ich bin | |
allein.“ | |
Kinder: Auch einen Kinderwunsch hatte sie. Trotz ihrer Arbeit im Labor und | |
den politischen Aktivitäten hatte sie immer Zeit für Kinder gefunden. Sie | |
habe die Kinder von ihren Bekannten gehütet. Sie spielte mit ihnen und las | |
ihnen vor. „Meine Mutter hätte gerne Enkelkinder gehabt. Sie hat mir aber | |
nie etwas davon gesagt. Das hätte mir wahrscheinlich wehgetan“, sagt sie. | |
„Ich hätte auch gerne Kinder und Enkelkinder gehabt.“ Doch sie kenne viele | |
ältere Menschen, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben und weggegangen | |
sind. „Ich habe Freunde. Und das ist schön.“ | |
Neue Freiheiten: „Als Linke musst du immer konsequent sein“, sagt sie. „I… | |
war streng mit mir.“ Nun will sie nicht mehr so leben und formuliert neue | |
Regeln für sich. Eine lautet: Ich habe das Recht, meine Meinung zu ändern. | |
„Ich erlaube mir, mich als linke Frau nicht mehr rechtfertigen zu müssen. | |
Ich erlaube mir, einfach unlogisch zu sein.“ Erst jetzt, mit 86 Jahren. | |
28 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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