| # taz.de -- Der Hausbesuch: Ein Gefühl aus vielen Schnipseln | |
| > Patrick Grosser ist Schlosser, liebt Musik und fühlt sich in der zweiten | |
| > Reihe wohl. Entscheidungen trifft er durchaus spontan, auch den Hauskauf. | |
| Bild: Patrick Grosser | |
| Groß, muskulös, tätowiert ist Patrick Grosser, und wenn er die Haare zu so | |
| einem Pferdeschwanz gebunden hat und neben seiner Harley steht, sieht der | |
| 33-Jährige genau so aus, wie man sich einen Rocker vorstellt. Oder ist das | |
| nur ein billiges Vorurteil? | |
| Draußen: Das Haus steht in einer Sackgasse in [1][Verden]. Es gibt kaum | |
| Autos hier; im angrenzenden Wald ist ein Spielplatz. Zwischen den Bäumen | |
| ist eine Eisenbahnbrücke erkennbar, das Wohngebiet ist von grauen | |
| Schallschutzwänden umschlossen. „Klar“, sagt Patrick Grosser rauchend in | |
| der Einfahrt, „viele Züge. Aber man gewöhnt sich dran.“ | |
| Drinnen: Das Haus ist noch nicht lange fertig. Grosser bewohnt es mit | |
| seiner Freundin Lisa, seit ein paar Jahren sind sie ein Paar. Acht Wochen | |
| haben sie renoviert. Im Wohnzimmer steht eine Couch, daneben ein Fernseher | |
| mit Spielekonsole. In einem kühlschrankgroßen Käfig rascheln Ratten, sie | |
| klettern über Laufstege. „Die Renovierung war eine gute Ablenkung während | |
| des Lockdowns“, sagt Grosser, „So waren wenigstens ab und zu Leute da.“ | |
| Kontakte haben ihm ansonsten wahnsinnig gefehlt, die Freiheit, sich abends | |
| mit Freunden zu treffen, auch in einer Kneipe. „Das gehört für mich einfach | |
| zum Leben dazu. Das habe ich vermutlich von meinen Eltern.“ | |
| Kindheit: Aufgewachsen ist Grosser auch in Verden, das irgendwo zwischen | |
| Bremen und Hannover liegt. Seine Kindheit und Jugend in den 90er Jahren | |
| waren „insgesamt ziemlich unspektakulär“. Seine Eltern waren „wahnsinnig | |
| jung“, als sie ihn bekommen haben, siebzehn und neunzehn Jahre alt. Da sei | |
| es dann schon mal passiert, dass ihm als Teenager die eigene Mutter in der | |
| Kneipe über den Weg gelaufen ist. Für seine Eltern, speziell wohl für seine | |
| Mutter, sei das einfach etwas früh gewesen mit den Verpflichtungen für ein | |
| Kind. „Sie hat sicher auch viel von ihrem Leben eingebüßt“, sagt Grosser, | |
| „und ich finde und fand immer, sie hat ein Recht darauf, einiges | |
| nachzuholen.“ Als sich seine Eltern trennten, blieb er bei seiner Mutter; | |
| da war er sieben oder acht. | |
| Schule: „Die Schulzeit war scheiße. Man musste halt hingehen, aber bei | |
| vielem wusste ich nicht genau, wofür ich das lerne“, sagt Grosser. Als er | |
| fünfzehn war, erkannte seine Musiklehrerin am Gymnasium sein Talent und | |
| drückte ihm eine Gitarre in die Hand. „Sie sagte: Spiel! Und von da habe | |
| ich jeden Tag gespielt.“ Grosser bekam den Musikunterricht von der Schule | |
| gestellt, samt Gitarre und Verstärker. „Bedingung war, dass ich dafür in | |
| der Schulband mitmache.“ Hauptsächlich spielte er Punk, vor allem die Band | |
| [2][Die Ärzte] liebte er sehr. | |
| Gitarren: Ungefähr in dieser Zeit blieb Grosser einmal vor einem | |
| Musikgeschäft stehen. In der Auslage hing eine E-Gitarre mit kantigem | |
| Körper, gezackt wie ein Blitz. „Ich stand da und wusste: Die muss ich | |
| haben“, erzählt Grosser und drückt die nächste Zigarette aus. „Die war | |
| eigentlich viel zu teuer, da bin ich vielleicht auch etwas verarscht | |
| worden.“ Er hatte noch Geld von Weihnachten und vom Geburtstag. Der | |
| Verkäufer sagte: „Gib mir die Hälfte jetzt, den Rest kannst du in Raten | |
| zahlen.“ Jahre hat Grosser gebraucht, die Schuld zu tilgen. Heute hängt die | |
| Gitarre im Keller an der Wand, als eine von vieren. „Ein Fehlkauf. Aber ich | |
| war jung, und sie war wunderschön.“ | |
| Karriere: Musik ist für Grosser Lebensinhalt und Ausdruck seiner | |
| Persönlichkeit. Den Traum, Profimusiker zu werden, hat er aber früh | |
| aufgegeben. „Ich habe schnell erkannt, dass das Musikerleben doch nichts | |
| für mich ist. Also als Beruf.“ Unstet. Viel Risiko. Sehr anstrengend. | |
| Einige Freunde von ihm lebten es vor. „Außerdem ist es ja so: Wenn man | |
| älter wird, merkt man eben, was man nicht kann. Ich kann zum Beispiel | |
| überhaupt kein Solo spielen, bei dem man improvisiert. Ist halt scheiße bei | |
| Gitarre“, sagt er. Statt Profimusiker wurde er Schlosser. Das war eine ganz | |
| praktische Lebensentscheidung; die Lehre versprach Sicherheit und | |
| anschließend einen festen Job. | |
| Werte: Grosser ist Freiheit wichtig. Jeder Mensch solle sein Leben leben | |
| und niemandem erzählen, wie er seins zu führen habe. „Freiheit ist so ein | |
| Gefühl für mich, das besteht aus ganz vielen Schnipseln.“ Glück sei auch | |
| wichtig. Glück, das ist für Grosser, wenn er nach fünf Tagen Arbeit einen | |
| freien Abend vor sich hat, mit einem Bier in der Hand auf die Straße treten | |
| und denken kann: Und was jetzt? | |
| Das Haus: Sein Plan war doch eigentlich ein anderer gewesen. Er wollte kein | |
| Haus, er wollte eine eigene Kneipe aufmachen, irgendwo, wo es warm ist. | |
| Doch dann klickte sich Grosser durch Ebay-Kleinanzeigen, schaute sich | |
| Angebote aus der Umgebung an – und da war dieses Haus. Nächtelang habe er | |
| überlegt, ob er es nun wolle oder nicht. „Letztlich habe ich mich dafür | |
| entschieden“, sagt er. „Und ich hoffe, dass es die richtige Entscheidung | |
| war.“ Wie bei anderen Entscheidungen auch. Er deutet auf eine Tätowierung | |
| auf seinem Arm. | |
| Tattoos: Davon hat er viele. „Man kann ja immer viel hineininterpretieren“, | |
| sagt er und spannt mit zwei Fingern die Haut an seinem Oberarm. „Aber einen | |
| großen Sinn haben sie eigentlich nicht. Ich habe einfach Sachen entdeckt, | |
| Bilder, die ich mochte, und dann hab’ ich sie mir stechen lassen, auch | |
| einfach, weil ich Bock hatte.“ | |
| Pandemie: Corona habe jede Woche gleich gemacht, erzählt Grosser. Seine | |
| Eltern hätten sich weniger eingeschränkt als er. „Mein Vater hat dauernd | |
| gemeckert, er wolle mal wieder in Urlaub fahren – und ich dachte nur: Na, | |
| wenn das dein einziges Problem ist.“ | |
| Konzerte: Im Keller spielt Grosser Songs ein. Oder probt. Oder putzt seine | |
| Gitarren. Er spielt derzeit in einer Metalband, „dem Mainstream wollte ich | |
| nie hinterherlaufen“. Manchmal, sagt er, sei das auch Trotz. Bei seinem | |
| ersten Konzert war ihm das Publikum exakt egal: „Wir waren jung und sind | |
| bei einem Bandcontest aufgetreten, mit unserem ersten, selbst geschriebenen | |
| Song. Die Leute wollten uns schlicht nicht hören, wir waren einfach nur | |
| schlecht.“ Später lief es besser – und seit Corona wieder schlechter. | |
| Wenige Leute dürfen in die Hallen, die Stimmung sei eine andere. „Bei | |
| diesen Konzerten denke ich oft: Ich würde ja selbst nicht kommen, wenn ich | |
| nicht müsste.“ | |
| Zweite Reihe: „In der Band gibt es schon auch mal Streit“, sagt Grosser. | |
| „Die sogenannte Mucker-Polizei. Also Leute, die meinen, das müsse man | |
| genauso so oder so spielen.“ Aus diesen Dingen halte er sich raus. „Ich | |
| zünde mir dann eine Kippe an und höre zu. Ich muss mit meiner Meinung nicht | |
| so den Ton angeben.“ Manchmal lebe es sich in der zweiten Reihe deutlich | |
| entspannter. | |
| Was fehlt ihm? Zeit. Fürs Gitarrespielen. „Am Anfang will man alles können | |
| und der neue Hendrix werden“, sagt Grosser und zündet sich wieder eine | |
| Zigarette an. „Und man hat alle Zeit der Welt. Dann merkt man, man wird | |
| nicht mehr alles spielen können, man sollte sich auf das fokussieren, was | |
| man gut kann. Und dann merkt man, man hat auch nicht mehr jeden Abend | |
| Energie dazu wie früher, sich nach Feierabend noch vier Stunden zum Üben | |
| hinzusetzen.“ Talent erleichtere viel, klar, sagt Grosser, aber am Ende sei | |
| es vor allem harte Arbeit und Disziplin, wenn man ein Instrument | |
| beherrschen wolle. | |
| Und worauf kann er verzichten? „Ganz schwierig“, sagt Grosser. „Ich glaub… | |
| auf Kinder.“ Auch wenn er Kinder nicht grundsätzlich ablehne. „Ich kann mir | |
| das einfach nicht vorstellen.“ Er habe bei seinen Eltern gesehen, wie viel | |
| sich ändert im Leben, wie viel man aufgeben müsse für noch mehr | |
| Verantwortung. „Dann wäre ich noch mehr gefangen“, sagt Grosser und deutet | |
| in die Ecke. „Lisa hat mich zu diesen Ratten überredet, das war unser | |
| Kompromiss.“ Und wie zur Bestätigung raschelt es kurz in der Ecke. | |
| 5 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexander Krützfeldt | |
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