# taz.de -- Citizenship fährt nach Kassel: Schiffsbesetzerszene | |
> Das ZK/U lässt jetzt ein DIY-Schiff von Berlin nach Kassel zur documenta | |
> 15 fahren. Dafür braucht es Körperkraft und einen E-Motor. | |
Bild: Wie ein besetztes Haus auf der Spree: Das citizenship fährt am Kanzleram… | |
BERLIN taz | Am 2. Juni brach das sogenanntes citizenship vom Hafen Spandau | |
über Havel und Spree in die Innenstadt Berlins auf. „Das sieht ja aus wie | |
ein besetztes Haus auf dem Wasser“, kommentierte nicht komplett falsch | |
liegend eine Clique Jugendlicher, die gerade am Spreeufer Bierflaschen | |
kreiseln ließ. Denn bei diesem Schiff handelt es sich um Marke Eigenbau, | |
das durchaus den kollektiven Geist besetzter Häuser atmet. | |
Entstanden ist das Schiff auf Initiative der Moabiter Kunstplattform ZK/U. | |
Das ZK/U gehört zu 14 Kunstkollektiven, die von der zehnköpfigen | |
Kurator*innengruppe ruangrupa eingeladen wurde, [1][zur bald | |
eröffnenden documenta fifteen] beizutragen. „Wir sind sehr schnell auf | |
unser Dach gekommen“, erzählt Matthias Einhoff vom ZK/U der taz. | |
Dieses Holzdach einer ehemaligen Lagerhalle auf dem Güterbahnhof von Moabit | |
sollte im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen ohnehin abgetragen werden. Es | |
beherbergte in den vergangenen Jahren viele gemeinschaftliche Projekte am | |
ZK/U, und soll dies ebenso während der documenta tun. „Als wir überlegten, | |
wie wir dieses Tonnen schwere Dach nach Kassel bringen können, kamen wir | |
schnell auf den Seeweg“, so Einhoff. | |
Das ZK/U liegt nahe am Westhafen“, so Einhoff. Die Suche nach einem | |
geeigneten Transportschiff führte dann zur so schrägen wie einleuchtenden | |
Idee: Drehen wir doch das Dach um und machen es zum Schiffskörper. | |
Jetzt sieht dieses etwa 20 Meter lange „Dach-Boot“ aus wie eine schwimmende | |
Gemeinschaftsplattform. Mächtige Holzbalken stabilisieren den Aufbau. An | |
damit verbundenen Metallgerüsten stehen und winken Passagiere. Windräder | |
drehen sich an der Seite. Vorn ragt wie bei einer römischen Galeere ein | |
Metallsporn heraus, der allerdings eine Videokamera trägt. | |
## DIY-Boot vorm Kanzleramt | |
Das citizenship hat eine mehr als 600 km lange Reise auf Havel, Elbe, Weser | |
und Fulda vor sich, um nach 60 Tagen die documenta-Stadt Kassel zu | |
erreichen. Es trägt einen kollektiven Geist, den auch die documenta fifteen | |
nach Vorstellungen von ruangrupa haben soll. „Das Vorwärtskommen | |
funktioniert nur, wenn viele Menschen sich beteiligen“, betont Einhoff. | |
Acht Fahrradrahmen mit Lenker und Pedalen sind auf dem Deck montiert. „Die | |
Kraft der Pedale geht direkt auf eine Propellerachse, mit der das Schiff | |
angetrieben wird“, erklärt er. | |
Oben auf dem Boot sind Solarpaneele befestigt, die Energie für den | |
Elektromotor erzeugen sollen. Eine Brennstoffzelle, die ebenfalls den | |
E-Motor antreibt, dient als Back-Up-System. Bei Wind sollen zwei Windräder | |
helfen, und auch Segel, die beim Start in Berlin noch eingerollt unter der | |
Dachkonstruktion waren. „Unterwegs können wir auch noch auf die Hilfe von | |
Rudervereinen und Kanuklubs zählen. Sie machen sich am Boot fest und ziehen | |
uns“, verspricht Einhoff. | |
Berliner Vereine hielten sich beim Start jedoch zurück. Kein Boot machte | |
längsseits fest. Und auch die Fahrräder blieben weitgehend unbesetzt. Auch | |
deshalb verzögerte sich die Schaufahrt am Schiffbauerdamm, zwischen | |
Berliner Ensemble und den Regierungsbauten, am Donnerstag. Trotzdem | |
Aufsehen erregend, wie da so ein DIY-Boot langsam an der glatten Fassade | |
des Kanzleramts vorbeigleitet. | |
Im Rahmen der Reise sind viele Aktionen geplant: Unterwegs sollen aus | |
Altkleidern Segel und Bekleidung für die Besatzung genäht werden, das | |
queere Fußballaballa-Projekt soll Brandenburg erobern und die historische | |
Zolleintreibung aus Zeiten mittelalterlicher Kleinstaaterei soll an der | |
Weser reenacted werden. | |
Das citizenship wird auch von einem E-Motor angetrieben. Der Prototyp aus | |
einem E-Golf von Volkswagen ist 25 Jahre alt. Dass VW damals schon einen | |
leistungsfähigen E-Motor baute, die Serienfertigung aber jahrzehntelang | |
hinauszögerte und stattdessen lieber Prüfstandsoptimierung für | |
Dieselmotoren betrieb, ist ein trauriger Nebenaspekt dieses ansonsten | |
[2][prächtigen, kollektiven, selbstversorgerischen Projekts]. VW stellte | |
immerhin Praktikanten zur Installation der komplexen Antriebsarchitektur | |
für das citizenship ab. [3][https://citizenship.zku-berlin.org/] | |
3 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-BDS-und-documenta-15/!5825724 | |
[2] /Kuenstlerin-ueber-Oekologie-und-Technik/!5846944 | |
[3] https://citizenship.zku-berlin.org/ | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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