| # taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Viel Platz für freies Denken | |
| > Das Zentrum für Kunst und Urbanistik wird nicht nur energetisch saniert, | |
| > sondern auch erweitert. Das ist eine große Erfolgsstory. | |
| Bild: Die provisorischen Bühne vorm Zentrum für Kunst und Urbanistik in Moabit | |
| Es ist so bitterkalt und nass, dass sich die Menschen mit den hochgezogenen | |
| Schultern, die vom einen Bein aufs andere treten, nur mit Mühe von den | |
| Feuerschalen vorm ehemaligen Güterbahnhof Moabit lösen lassen. | |
| Doch als die Reden auf dem großen Baugerüst beginnen, lösen sich doch die | |
| Leute von der Wärme und treten näher, immerhin ist heute ein großer Tag, | |
| denn am Zentrum für Kunst und Urbanistik, kurz ZK/U genannt, das seit 2013 | |
| den Güterbahnhof bespielt, wird Richtfest gefeiert. „Wir haben uns den | |
| kältesten Tag des Jahres ausgesucht, weil wir Widerstände lieben“, sagt | |
| Matthias Einhoff vom Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK, das hinterm ZK/U | |
| steht. | |
| Und damit hat Einhoff eigentlich gleich schon das Wichtigste zu diesem | |
| wunderbaren Ort zwischen dem Westhafen und dem immer schicker werdenden | |
| Kiez rund um den U-Bahnhof Birkenstraße mitten im Stadtgarten Moabit | |
| gesagt. Das ZK/U ist nicht nur eine der spannendsten Adressen, wo sich | |
| zeitgenössische Kunst und stadtpolitische Diskurse auf eine angenehm | |
| unabgehobene Art treffen. | |
| Es ist auch einer der wenigen Orte in Berlin, den seine Macher*innen mit | |
| viel Geduld und Geschick einer Stadtentwicklung entrissen haben, in der | |
| sich zunehmend alles um Verdichtung und Verteuerung dreht. „2008 haben wir | |
| beschlossen, an dieser Stelle einen Wettbewerb für einen Park ohne Gebäude | |
| auszuloben“, sagt Mittes Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung Ephraim Gothe | |
| (SPD) beim Richtfest. | |
| Er berichtet, wie der Güterbahnhof abgerissen werden sollte und wie er | |
| durch Zufall von dessen Gewölbekeller erfuhr. Und wie viel | |
| Überzeugungskraft es brauchte, den Erhalt dieses Gebäudes in einer Zeit | |
| durchzusetzen, als Berlin noch so pleite war, dass es alle Liegenschaften | |
| verkaufte. | |
| ## Eine weise Entscheidung | |
| Das Projekt auszuschreiben und dann den Leuten vom ZK/U zu geben war eine | |
| weise Entscheidung, haben sie doch viel über die voller werdende Stadt | |
| geforscht, Projekte auf Brachen auf die Beine gestellt, die es heute nicht | |
| mehr gibt, und protestiert gegen die Übermacht des Kapitals, das andere | |
| Städte schon sehr viel kaputter gemacht hat. | |
| Zum Beispiel bauten sie Skulpturenparks auf Brachen, führten Opern in | |
| ausgebrannten Autos auf oder bauten Miniaturplattenbauten für Bienen, wo | |
| heute Bürohäuser oder [1][Luxusapartments wie die Fellini Residences] | |
| stehen. Bis heute kämpfen sie um jeden Quadratmeter in dieser Stadt, sind | |
| beispielsweise Mitglied bei der Initiative Haus der Statistik am | |
| Alexanderplatz, wo in den nächsten Jahren nicht etwa wie in diesem Kiez | |
| üblich öde Shopping Malls entstehen, die kein Mensch braucht, sondern viel | |
| sozialer Wohnraum und Arbeitsräume für Kunst und Kultur. [2][Sie haben viel | |
| getan für all jene, die noch immer hoffen, dass Berlin für immer die | |
| Hauptstadt der Eigensinnigen bleiben möge.] | |
| Es ist also ein schöner Tag am ZK/U, trotz Kälte. Das Gebäude ist dank | |
| Erbpacht weitere 30 Jahre gesichert, außerdem wird das Haus – wenn alles | |
| gut geht – in den nächsten Monaten energetisch saniert und einen | |
| Erweiterungsbau erhalten, der mit drei Millionen Euro von EU, Bund und Land | |
| Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil gefördert wird. | |
| „Die bisherige Veranstaltungshalle wird durch eine transparente Hülle | |
| eingehaust und dabei in ihrem ursprünglichen Charakter erhalten bleiben“, | |
| fasst Staatssekretärin für Mieterschutz und Quartiersentwicklung Ülker | |
| Radziwill (SPD) bei ihrem Grußwort zusammen. „Auf der Halle entstehen | |
| Arbeits- und Veranstaltungsräume“, ergänzt Harry Sachs vom | |
| Künstler*innenkollektiv KUNSTrePUBLIK wenig später bei einem heißen | |
| Apfelsaft und üppig belegten Broten in der ehemaligen Veranstaltungshalle. | |
| ## Mehr Experimente, mehr Nachbarschaft | |
| In der Aufstockung werden weitere Arbeits- und Veranstaltungsräume | |
| entstehen, die dem dringenden Raumbedarf von kulturellen und sozialen | |
| Initiativen nachkommen. Und obendrauf kommt eine öffentlich begehbare | |
| Terrasse – insgesamt also „viel mehr Platz für Experimente, Nachbarschaft | |
| und Veranstaltungen“, freut sich Sachs. | |
| Bis zum Ende des Ausbaus liegen Veranstaltungen wie das berühmte Speisekino | |
| – eine kuratierte Filmreihe mit passendem Essen –, leider weitgehend auf | |
| Eis. | |
| Dafür arbeiten die Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus | |
| aller Welt in den 13 Arbeitsräumen des Hauptgebäudes weiter, die jeweils | |
| zwei bis sechs Monate lang vom ZK/U im Rahmen unterschiedlicher Programme | |
| eingeladen sind, sich mit dem urbanen Lebensraum zu befassen. Einer der | |
| Fellows, die gerade hier sind, ist der Erzähler Jesse Gerard aus Tansania, | |
| der unter anderem an der Bewahrung und Wiederherstellung indigener | |
| Geschichten im globalen Raum arbeitet. | |
| Er ist im Rahmen des TURN2-Programms hier, einem | |
| Rechercheaufenthaltsprogramm für Nachwuchskurator*innen für | |
| postkoloniale Themen, das in Zusammenarbeit von ZK/U und der Kulturstiftung | |
| des Bundes entstanden ist. Am 24. November öffnen die Residents des ZK/U | |
| wieder die Türen ihrer Ateliers. | |
| Übrigens: Das neue Dach, das an diesem Tag eingeweiht wird, erinnert gar | |
| nicht so wenig an das alte, das erst in diesem Sommer munter durch die | |
| Presse ging. | |
| ## Einfach umgedreht | |
| Die Leute vom ZK/U hatten es einfach umgedreht und [3][zum tonnenschweren | |
| Dachboot namens Citizenship ausgebaut], das aussah wie ein besetztes Haus | |
| auf dem Wasser. Nachhaltig, mit Solarpaneelen und E-Motor, Segeln aus | |
| Altkleidern und viel Hilfe von Besucher*innen, Anwohner*innen und | |
| Passant*innen und deren Paddeln, Radeln, Ziehen und Schieben wollten sie | |
| damit 60 Tage lang zur Documenta nach Kassel schippern. | |
| Doch dann lief das Citizenship in der Weser wegen niedrigem Pegelstand auf | |
| Grund und sitzt bis heute im Doktorsee bei Rinteln fest. Im September haben | |
| sie das Boot winterfest gemacht, mal sehen, was im nächsten Jahr damit | |
| passiert. „Wir wollten aufzeigen, wie man ohne fossile Brennstoffe eine | |
| solche Reise machen kann, und dann scheitert die am Klimawandel“, lacht | |
| Einhoff. | |
| Offenbar haben sie am ZK/U wirklich einen Narren gefressen an den | |
| sogenannten widrigen Umständen. | |
| 23 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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