| # taz.de -- Der Hausbesuch: In Organisation steckt Organ | |
| > Fabien Matthias erlebte 2015 das Erdbeben in Nepal. Kurze Zeit später | |
| > gründete er mit Kommilitonen eine Hilfsorganisation für das Land. | |
| Bild: Fabien Matthias (rechts) und Nils Henning auf dem Dachboden des Hauses vo… | |
| Es sind mehr als 6.000 Kilometer Luftlinie zwischen Berlin und Nepal. In | |
| einem Haus im Berliner Stadtteil Zehlendorf dreht sich dennoch alles um das | |
| südasiatische Land.. | |
| Draußen: Eine Kopfsteinpflasterstraße in Berlin, gesäumt von | |
| Einfamilienhäusern. Kaum jemand ist unterwegs. Eines der Häuser liegt | |
| versteckt hinter einer dunklen Holzpforte und einer großen Tanne. Gebaut | |
| wurde es in den dreißiger Jahren im letzten Jahrhundert; der braune Putz | |
| zeigt die Spuren der Zeit. In einem Fenster im Obergeschoss brennt Licht, | |
| ansonsten wirkt es verlassen. | |
| Drinnen: Fabien Matthias öffnet die Tür. „Willkommen in unserer Zentrale“, | |
| sagt er. Der Flur ist dunkel, die Dielen knarren beim Gehen. Rechts liegt | |
| die kleine Küche, links sind die Zimmer zum Garten und geradeaus das | |
| ehemalige Esszimmer. Dort tippen zwei Männer auf ihren Laptops. Es sind | |
| Kollegen von Matthias, gemeinsam arbeiten sie bei der Hilfsorganisation | |
| Nidisi. An der Wand hängt eine graue Pinnwand, daneben ein Jagdhorn. | |
| Gegenüber stapeln sich Flyer mit QR-Codes in einem alten Holzregal. Im Haus | |
| verschmilzt altes Flair mit der Hoffnung auf Zukunft. | |
| Die Vergangenheit: Früher wohnte Matthias’ Großvater hier. Als er vor | |
| einigen Monaten starb, war unklar, was mit dem Haus geschehen soll. | |
| Verkaufen wollte die Familie es zunächst nicht; teuer renovieren ebenso | |
| wenig. Also brachte sich Matthias ins Spiel. Er benötigte Büroräume für | |
| seine Hilfsorganisation, wollte das Haus auf Vordermann bringen. Als | |
| Kompromiss darf er es nun vorübergehend nutzen – ein schmaler Grat. „An dem | |
| Haus hängen viele Emotionen“, sagt Matthias. „Jedes Stück, das hier | |
| verändert wird, bricht ein bisschen mit der Vergangenheit.“ | |
| Der Großvater: Sein Opa sei „alte Schule“ gewesen. Lustig drauf, aber nur, | |
| wenn er die Witze machte. „Zu mir meinte er immer, ‚Junge, du verzettelst | |
| dich, mach mal was Richtiges‘.“ Ethische Grundsätze oder Umweltaspekte, die | |
| Matthias für wichtig hält, hätten für den Opa keine Rolle gespielt. „Er | |
| konnte mir nie sagen, dass er gut findet, was ich mache.“ Anderen hätte er | |
| aber erzählt, wie stolz er auf seinen Enkel sei. | |
| Neuer Anstrich: Ein halbes Jahr haben Matthias und seine Freunde aufgeräumt | |
| und aussortiert. Der Großvater war ein Sammler, das Haus sei vollgestopft | |
| gewesen. Vom Erdgeschoss führt er über eine schmale Holztreppe unters | |
| Dach. Hier liegen noch massenhaft Dinge, die einst dem Opa gehörten, | |
| Teppiche und Nippes; entlang der Schrägen stapeln sich Bücher – vom | |
| Naturreiseführer bis zum Katalog des Museum of Modern Art. | |
| Die Zukunftsvisionen: Im Erdgeschoss dagegen stehen erst zwei Bücher im | |
| Regal neben dem alten Holztisch im Gartenzimmer: „Utopia for Realists“ und | |
| „Im Grunde gut“ von Rutger Bregman. Dort sitzt nicht nur Matthias, sondern | |
| auch Nils Henning am Tisch, Mitgründer und bester Freund. Der eine ist 26, | |
| der andere 28 Jahre alt. Beide haben längere braune Haare und tragen große | |
| Pullover. Was sie noch verbindet: der unbedingte Wille, einen Sinn in der | |
| eigenen Arbeit zu finden. Das habe sich so entwickelt. | |
| Die Suche: Zu ihrem Engagement kamen sie durch Zufall. Beide sind in Berlin | |
| aufgewachsen. Matthias ging in Schöneberg zur Schule, Henning in | |
| Wilmersdorf. Was sie später machen wollten, wussten sie da noch nicht. „Ich | |
| war nirgendwo aktiv“, sagt Henning. „Ich hatte gar keinen Kopf dafür, meine | |
| Zeit in sinnstiftende Sachen zu stecken.“ Stattdessen wollte er seine | |
| Freizeit genießen, Freunde treffen. Nach dem Abitur machte er eine | |
| Ausbildung zum Geomatiker. „Aber schon im zweiten Jahr wusste ich, das | |
| mache ich nicht die nächsten 40 Jahre.“ Matthias wollte nach der Schule | |
| weit weg. Er googelte, in welches Land die wenigsten deutschen Touristen | |
| reisen. Und stieß auf Nepal. | |
| Das Erdbeben: Drei Monate arbeitete Matthias dort Anfang 2015 als | |
| Englischlehrer. Das sieht er heute kritisch: „Ich war grade erst mit dem | |
| Abitur fertig, also eigentlich nicht in der Lage, irgendjemandem | |
| irgendetwas beizubringen.“ Im April 2015 erschütterte ein Beben der Stärke | |
| 7,8 das südasiatische Land. Matthias wollte helfen. Mit anderen | |
| Freiwilligen mietete er Jeeps, brachte Lebensmittel und Zelte in die | |
| abgeschnittenen Bergdörfer. „Dort lag kein Stein mehr auf dem anderen“, | |
| sagt er. Er sammelte per E-Mail Spenden bei Freunden und der Familie – mehr | |
| als 30.000 Euro kamen zusammen. | |
| Learning by Doing: Matthias kehrte mit einem gefüllten Konto und einem Plan | |
| nach Deutschland zurück. Er wollte weitermachen, sich professionalisieren. | |
| In Friedrichshafen studierte er Soziologie, Politik und Ökonomie und stieß | |
| auf Gleichgesinnte. Auch Henning hatte es zum Studieren an den Bodensee | |
| verschlagen. Er erfuhr auf einer Party von Matthias’ Vorhaben. Die Lust auf | |
| Veränderungen und das Schachspiel hätten sie damals verbunden. Neben dem | |
| Studium organisierten sie und andere Freiwillige mit den Spenden den | |
| Wiederaufbau von Häusern und die Schulbildung für Kinder, die ihre Eltern | |
| durch das Beben verloren hatten. „Es war alles Learning by Doing“, sagt | |
| Matthias. | |
| Der Aha-Moment: Die Hilfsorganisation begann schnell seine ganze Energie zu | |
| absorbieren. Matthias schrieb seine Seminararbeiten über die Projekte in | |
| Nepal. Dabei fielen ihm auch viele kritische Stimmen zur | |
| Entwicklungszusammenarbeit in die Hände. Das sei augenöffnend gewesen. Nach | |
| zwei Jahren kam die Erkenntnis: „Was wir machen, ist eigentlich | |
| kontraproduktiv. Wir schaffen Abhängigkeiten.“ | |
| Hilfe zur Selbsthilfe: Sie wollten damals vor allem mit Geld helfen. Das | |
| verbesserte zwar die Lebenssituation vor Ort, drückte die Menschen aber in | |
| die Rolle der Nehmenden und war nicht nachhaltig. Also strukturierten sie | |
| um. Sie begannen etwa, Trinkwasser zu einem günstigen Preis zu verkaufen. | |
| „Einer der größten Kritikpunkte an der Entwicklungszusammenarbeit ist, dass | |
| wir etwas tun, was die Leute vor Ort gar nicht haben wollen“, sagt | |
| Matthias. „Wenn die Nepalesen am Trinkwasser nicht interessiert wären, | |
| würden sie nichts dafür zahlen.“ Den Verdienst steckt die NGO in die | |
| Entwicklung der Dörfer – so soll ein Kreislauf entstehen. „Die Projekte | |
| sollen durch wirtschaftliches Handeln aktiv soziale und ökologische | |
| Herausforderungen lösen“, sagt er. Auch heute ist die NGO spendenbasiert, | |
| dazu kommen Preisgelder, Unternehmenskooperationen und Reinvestitionen aus | |
| Projekten. | |
| Verantwortung: Während der Pandemie musste die NGO wieder einiges | |
| umstellen. Dabei wollten sie eigentlich nicht mehr bloß geben. „Aber ich | |
| habe mich zurückgeworfen gefühlt in die Zeit nach dem Erdbeben, weil | |
| Menschen wieder in Notsituationen waren und aktiv schnelle Hilfe | |
| benötigten“, sagt Matthias. Ihre Mitarbeitenden vor Ort lieferten Essen in | |
| Gegenden, in denen vor allem Lohnarbeiter wohnen. Durch den harten Lockdown | |
| hatten sie weder ein Einkommen noch Rücklagen. Eine Hilfsleistung, die auch | |
| mit viel Verantwortung einhergeht. „Du entscheidest über Hunger und nicht | |
| Hunger“, sagt Matthias. | |
| Motivation: Wenn Matthias und Henning über ihre Arbeit sprechen, fallen oft | |
| Worte wie „Impact“ und „Purpose“. Sie wollen die Leben von anderen zum | |
| Besseren verändern. Dass sie sich in einer privilegierten Position | |
| befinden, wissen sie. Einfach ist es trotzdem nicht. „Die Arbeit kostet uns | |
| viel Zeit und Nerven, und manchmal willst du natürlich alles gegen die Wand | |
| klatschen“, sagt Matthias. „Aber mich erfüllt es, andere Menschen zum | |
| Helfen zu befähigen.“ | |
| Das Jagdhorn: Aus ein paar Studierenden sind 32 Mitarbeitende geworden, ein | |
| großer Teil ehrenamtlich. Mittags bläst jemand mit dem Jagdhorn zur Pause, | |
| dann essen sie gemeinsam am Holztisch. Abends sitzen sie vor dem Kamin im | |
| ehemaligen Wohnzimmer oder um die Feuerschale im Garten. Alle, die | |
| mitmachen, seien mittlerweile Freunde, sagt Henning. Er, Matthias und | |
| dessen Schwester wohnen zudem derzeit in den Schlafzimmern im ersten Stock. | |
| Sie leben in ihrem Büro und arbeiten in ihrem Zuhause. | |
| Der Organismus: Ihre Zusammenarbeit gleiche einem Organismus, sagt Henning. | |
| „Jedes Teammitglied ist ein Organ, das mit den anderen in Wechselwirkung | |
| steht. Nur gemeinsam schaffen sie es.“ | |
| 6 Mar 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Trisha Balster | |
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