# taz.de -- Deportation von Russlanddeutschen: „Es wird wenig über die Verba… | |
> Der 28. August ist der Gedenktag an die Deportation in der Sowjetunion | |
> nach Sibirien und Kasachstan. Drei BerlinerInnen erzählen ihre | |
> Geschichte. | |
Bild: Der Pass einer „Wolgadeutschen“ mit Deportationsvermerk nach Sibieren | |
Für die rund 150.000 russlanddeutschen BerlinerInnen und Berliner ist der | |
28. August ein wichtiger Tag. Es ist der Gedenktag an die Deportation ihrer | |
Vorfahren aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten an der Wolga und in | |
der Ukraine nach Sibirien und Nordkasachstan im Jahr 1941. Die Deportation | |
war eine Reaktion Stalins auf den Angriff der deutschen Wehrmacht auf die | |
Sowjetunion. Die Russlanddeutschen wurden kollektiv der Kollaboration mit | |
Hitler-Deutschland verdächtigt. Nach Schätzungen waren es mindestens | |
150.000 Menschen, die bei den Deportationen ums Leben kamen. Für andere | |
bedeutete es jahrelange Lagerhaft oder Dahinvegetieren in unwirtlichen | |
Gebieten ohne jede Habe. Drei russlanddeutsche BerlinerInnen erzählen, was | |
der Tag für sie bedeutet. | |
## Andrej Steinke (45), Dolmetscher | |
„Mein Urgroßvater wurde bereits vor 1941 aus seinem [1][Wohnort in der | |
Ukraine] in die Verbannung verschleppt. Nicht, weil er Deutscher war, | |
sondern weil er mehr als zwei Kühe besaß und damit als Kulak galt. Er | |
konnte von dort fliehen, mein Großvater, der Deutschlehrer war und eine | |
Familie hatte, versteckte ihn. Anfang 1941 wurden beide denunziert und zur | |
Zwangsarbeit in einen Gulag nach Sibirien verschleppt. Mein Urgroßvater | |
wurde dort erschossen, mein Großvater musste Bäume fällen. Ich weiß sehr | |
wenig, denn mein Opa starb, als ich zwei Jahre alt war. Einige Briefe von | |
ihm aus dem Lager an seine Schwester sind erhalten, aber sie mussten durch | |
die Zensur und durften nur auf Russisch geschrieben werden. Sie sind also | |
wenig aussagefähig. Laut einer Geschichte, die in unserer Familie | |
weitererzählt wurde, hat mein Opa heimlich einen Lagerhund getötet, | |
versteckt und sich über Wochen von dessen gefrorenem Fleisch ernährt, was | |
ihn vor dem Hungertod bewahrte. | |
Meine Oma und ihre beiden Kinder wurden in eine Sondersiedlung in die | |
nordkasachische Steppe verschleppt. Anfangs mussten sie in Erdhütten | |
hausen. Nachdem mein Großvater den Gulag verlassen durfte, zog er auch | |
dorthin. 1949 wurde mein Vater geboren. Auch er musste als Kind hungern. | |
Eine Nachbarin, die in der Kolchose arbeitete, hat für ihn unter | |
Lebensgefahr Milch geklaut. | |
Meine Mutter, die Belarussin ist, wurde als Gegenleistung für die Erlaubnis | |
zum Studieren verpflichtet, als Ingenieurin in Kasachstan zu arbeiten. So | |
lernten sich meine Eltern kennen und ich kam in Kasachstan zur Welt. Als | |
ich 14 war, siedelten wir nach Deutschland über. Meine Eltern taten das für | |
uns Kinder. Die Sowjetunion war gerade kollabiert, es herrschten Chaos, | |
Arbeitslosigkeit und Armut. Gewalt und Kriminalität explodierten. | |
Glücklicherweise lebten da bereits Verwandte von uns im Oberharz. Sie | |
nahmen uns auf, was es meiner Familie ersparte, in einem Erstaufnahmelager | |
in einer Kaserne in Brandenburg leben zu müssen. Nach dem Abitur zog ich | |
nach Berlin. Das war mein Wunsch, ich fand Berlin toll. An der Humboldt-Uni | |
studierte ich interkulturelle Fachkommunikation, ein Studiengang, der mich | |
auf meinen Beruf vorbereitete und den es leider heute nicht mehr gibt. Ich | |
arbeite als Dolmetscher für Russisch, Englisch, Tschechisch, Belarussisch | |
und Ukrainisch. | |
Ich engagiere mich ehrenamtlich für NGOs mit Bezug zur Ukraine und zu | |
Belarus. Ich bin als einer der wenigen Russlanddeutschen mit dem Glück | |
gesegnet, niemanden in meiner Familie zu haben, der Kreml-Positionen | |
vertritt. [2][Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine geht durch viele | |
russlanddeutsche Familien hier ein Riss:] Kinder können nicht mehr mit | |
ihren Eltern, Ehepartner nicht mehr miteinander.“ | |
## Dara Kossok-Spieß (34), Bezirksverordnete für die Grünen in Spandau | |
„Der Tag der Russlanddeutschen ist für mich eine Mahnung, dass Geschichte | |
sich immer wiederholen kann. Weil ich erwerbstätig bin und zwei kleine | |
Kinder habe, habe ich aber nicht die Möglichkeit, spezielle Veranstaltungen | |
zu besuchen. Ich finde es dennoch wichtig, dass es den Gedenkstein für die | |
russlanddeutschen Opfer des Stalinismus auf dem Parkfriedhof in Marzahn | |
gibt. | |
Mein Großvater mütterlicherseits war Russlanddeutscher. Bei der Verbannung | |
1941 war er glücklicherweise für Zwangsarbeit noch zu klein. Sein Vater und | |
seine beiden älteren Schwestern mussten Zwangsarbeit leisten. Sie fällten | |
unter unmenschlichen Bedingungen in Sibirien Bäume. Eine seiner Schwestern | |
starb an den Folgen dieses Raubbaus an ihrem Körper. | |
Mein Opa, seine Mutter und die jüngeren Geschwister wurden nach Quaraghandy | |
in Kasachstan verbannt, wo auch ich später geboren wurde. Sie wurden dort | |
mit nichts in den Händen einfach abgeladen und mussten sich Erdhütten | |
graben, um zu überwintern. Mein Großvater hat für seine Familie gebettelt. | |
Auch andere Volksgruppen, die Stalin der Kollaboration mit dem Feind | |
verdächtigte, wurden nach Kasachstan verbannt: Ukrainer:innen, | |
Tschetschen:innen, Kosak:innen und Koreaner:innen etwa. So kam auch | |
die ukrainische Familie meines Vaters nach Kasachstan. Die Kasach:innen | |
wurden damals gerade zwangsweise sesshaft gemacht. Sie haben ihr Brot mit | |
den Verbannten geteilt. Sonst hätte meine Familie nicht überlebt. | |
Unsere [3][Übersiedlung 1998 nach Deutschland] war der Wunsch meines Opas. | |
Er wollte dort leben, wo er meinte, seine historischen Wurzeln zu haben. Er | |
wollte den Makel des „Faschisten“ loswerden, der uns Russlanddeutschen seit | |
dem Zweiten Weltkrieg immer anhaftete. Um so mehr war er enttäuscht, dass | |
hier die russlanddeutsche Geschichte nicht bekannt war und er als „Russe“ | |
wahrgenommen wurde. | |
Ich war acht, als ich nach Deutschland kam. Meine Mutter hatte mir nicht | |
erzählt, dass wir umziehen, sie sprach von einem Urlaub. Ich hatte mich | |
sehr gefreut, denn ich hatte zuvor niemals Urlaub gemacht. Da ich in | |
Kasachstan Deutsch gelernt hatte, war ich diejenige aus der Familie, die am | |
besten Deutsch sprach und spürte eine große Verantwortung. Bei allen | |
Behördengängen wurde ich mit meinen acht Jahren gebraucht. Ich wuchs in | |
Spandau auf. | |
Mein Opa hat erst zwei Jahre vor seinem Tod damit begonnen, über die | |
Verbannung überhaupt zu sprechen. Da war ich 14 und ich bin dankbar, diese | |
emotionalen Erzählungen noch gehört zu haben. Meine Oma hingegen hat bis zu | |
ihrem Tod Stalin gottgleich verehrt. Die Verbannung und das schwere | |
Schicksal, das auch sie erleiden musste, sah sie als ein Opfer für das | |
große Ganze.“ | |
## Artur Weimann (34), Synchronsprecher | |
„Ich war drei Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. An meinen Geburtsort | |
in Sibirien bei Tomsk habe ich kaum noch Erinnerungen. Die Familie meines | |
Vaters sind Russlanddeutsche, die meiner Mutter Russen. Meine Oma | |
väterlicherseits wurde 1941 als Kind aus dem Wolgagebiet, wo viele Deutsche | |
lebten, nach Sibirien deportiert. Wie es ihren Mann dorthin verschlagen | |
hat, weiß ich nicht. In russlanddeutschen Familien wird wenig über die | |
Erfahrungen in der Stalinzeit gesprochen. Das ist oft immer noch mit Tabus | |
behaftet. Und ich kann ihn nicht mehr fragen, weil er tot ist. Aus dem | |
Leben meiner Oma kenne ich nur wenige Bruchstücke. Etwa, dass ihre | |
Schwester bei der Deportation im Mutterleib starb und dass sie selbst im | |
Alter von 14 Jahren begonnen hatte, als Melkerin zu arbeiten. Sehr viel | |
später hat sie einen Kolchos geleitet. Trotz der Diskriminierungen, die | |
Deutsche auch lange nach Stalins Tod in der Sowjetunion erfahren hatten. | |
Auch mein Vater wurde in der Schule noch als Faschist beschimpft. | |
Ich wuchs in einer kleinen Ortschaft in Nordrhein-Westfalen bei meiner | |
Mutter auf, meine Eltern hatten sich kurz nach der Ausreise getrennt. Meine | |
Mutter, die Ärztin ist, hat unter großer Mühe ihre Berufsanerkennung | |
durchgesetzt, sie musste dafür Qualifikationen nacherwerben. Das bedeutete | |
für mich, dass ich als Kind oft allein und auf mich gestellt war. | |
Ich habe in Hamburg eine Ausbildung als Musicaldarsteller gemacht und bin | |
danach nach Berlin gezogen, wo ich hauptsächlich als Synchronsprecher | |
arbeite. Ich habe aber auch die Dragqueen Anna Bolika geschaffen, als die | |
ich auftrete. Ich bin schwul und bekenne mich dazu. Klar werde ich dafür | |
diskriminiert. Gerade eben hat mich jemand auf der Straße bei mir in Pankow | |
blöd angemacht. Aber ich sage mir, meine Großeltern haben ja nicht die | |
Deportation überlebt, damit ich an Berlin scheitere. | |
In meiner russlanddeutschen Familie ist die Akzeptanz von Schwulen aber | |
noch ein Stück schwieriger. Mein Onkel spricht seit Jahren nicht mit mir, | |
er gibt mir auch nicht die Hand. Mein Vater akzeptiert zwar, dass ich | |
schwul bin, aber er meint, ich soll das nicht öffentlich zeigen. | |
2017 bin ich anlässlich des CSD in die Linkspartei eingetreten. Zwei Jahre | |
später trat ich wieder aus, weil mich ihr zu unkritisches Verhältnis zu | |
Russland nervte. Nachdem die Wagenknechte und andere pro-russische Stimmen | |
ausgetreten waren, trat ich Anfang dieses Jahres wieder ein. Auch in meinem | |
russlanddeutschen Umfeld gibt es leider viele Menschen, die den ganzen Tag | |
Putins „Perviy Kanal“ sehen und für Russlands Angriffskrieg in der Ukraine | |
Verständnis zeigen. Ich finde es wichtig, dass sich junge Russlanddeutsche | |
auch links von der CDU organisieren und in öffentlichen Debatten eine | |
Stimme haben. Als Vorsitzender der Jugendinitiative „Warum бы и nicht“ | |
(Warum auch nicht) will ich mich da mit einbringen.“ | |
28 Aug 2025 | |
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