# taz.de -- Roman „Wunderkind“: Missbrauch und Superkräfte | |
> Die schwedische Schriftstellerin Karin Smirnoff entwirft in ihrem Roman | |
> „Wunderkind“ eine kindliche Heldin von immenser seelischer Resilienz. | |
Bild: Als Zweijährige kann Agnes gehörte Melodien am Klavier nachspielen | |
Agnes ist ein besonderes Kind. Eines, das es in Wirklichkeit gar nicht | |
geben kann, denn sie verfügt schon als Baby über ein so waches Bewusstsein, | |
dass sie sich auch später noch an Ereignisse aus ihren allerersten | |
Lebensjahren erinnert. Zum Beispiel daran, dass morgens immer die | |
Großmutter zu ihnen nach Hause kam, um sie aus der verkrusteten Windel zu | |
schälen. Und dass sie auf einer Matratze auf dem Boden schlief und ihr | |
weniges Essen mit einer Ratte teilte. | |
Vielleicht liegt es ja an dieser frühkindlichen Bindung, dass Agnes mit | |
Tieren sprechen kann – zum Beispiel mit der Elefantin im Tierpark, in deren | |
Gehege sie als Kleinkind schlüpft, um sich von ihr auf den Rücken heben zu | |
lassen. | |
Als Zweijährige kann Agnes Melodien, die sie nur einmal gehört hat, auf dem | |
Klavier nachspielen; aber richtig Klavierspielen darf sie nicht lernen, hat | |
ihre Mutter Anita bestimmt. Es ist Anitas Rache dafür, dass sie selbst, die | |
ebenfalls als Wunderkind gegolten hatte, nie ein Musikstudium aufnehmen | |
konnte, weil sie statt dessen ein Baby bekam. Wer der Vater des Kindes ist, | |
ist eines der großen unausgesprochenen Geheimnisse in dieser Geschichte. | |
Agnes hasst ihre Mutter. Seelische Nähe findet sie bei ihrem Freund | |
Kristian, ebenfalls ein Wunderkind, das Cello spielt und komponiert. Beide | |
freunden sich mit Miika an, der ein großes Talent fürs Tennisspielen hat. | |
Und vor allem haben die Kinder den Musiker und Trainer Frank Leide in ihrem | |
Leben. Diesen Frank könnte es in Wirklichkeit wohl ebenfalls nicht geben, | |
ist er doch nicht nur ein einstiger Weltklasse-Violinist, sondern auch ein | |
erstklassiger Tennistrainer. | |
## Grenzsituationen menschlicher Beziehungen | |
Frank ist eine monströse Symbolfigur – und dabei irritierend menschlich, | |
denn obgleich er die ihm anvertrauten Jungen sexuell missbraucht, so spürt | |
er doch zugleich eine tiefe Zärtlichkeit für die Kinder. Von Agnes, dem | |
ganz besonderen Kind, lässt er einstweilen die Finger, obwohl er geradezu | |
besessen von ihr ist. | |
Karin Smirnoff hat schon in ihrem [1][ersten Roman „Mein Bruder“] | |
eindrucksvoll gezeigt, dass sie es vermag, Grenzsituationen menschlicher | |
Beziehungen auf eine Weise darzustellen, die das Finstere und das | |
Unerklärliche einfängt, ohne es plakativ auszustellen. Eben das gehört ja | |
zum Wesen dunklerer Aspekte von Beziehungen, dass sie unausgesprochen im | |
Hintergrund wabern, während an der Oberfläche nur wenig von den Untiefen zu | |
spüren ist. | |
Auch „Mein Bruder“ (Hanser. Berlin 2021) hatte eine eigensinnige, besondere | |
weibliche Hauptfigur. Der Roman war der erste Teil einer Trilogie, deren | |
zweiter und dritter Band schon vor ein paar Jahren auf Schwedisch, aber | |
bisher nicht auf Deutsch erschienen sind. Dafür ist für den Herbst | |
hierzulande bereits ein ganz anderer Smirnoff-Titel in Übersetzung | |
angekündigt: Der siebte Teil der „Millennium“-Thriller-Reihe um die so | |
geniale wie schlagkräftige Hackerin Lisbeth Salander, mit der einst der | |
[2][Autor Stieg Larsson] berühmt wurde, wenngleich leider posthum. | |
Larsson starb 2004 mit fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt; die ersten drei | |
Millennium-Bände fanden sich im Nachlass. Um den sensationellen | |
finanziellen Erfolg der Reihe möglichst lange fortsetzen zu können, | |
engagierte der Verlag Norstedts Jahre später den Autor David Lagercrantz | |
als Verfasser dreier weiterer Bände. | |
Wenn jetzt Karin Smirnoff die Stieg-Larsson-Nachfolge antritt (auf | |
Schwedisch ist dieses Thrillerdebüt bereits erschienen und wohlwollend | |
aufgenommen worden), so ist sie mindestens auf der psychologischen Ebene | |
geradezu prädestiniert dazu, der immer wieder schwer geprüften, | |
kämpferischen Lisbeth neues Leben einzuhauchen. | |
## Von Pippi Langstrumpf zu Lisbeth Salander | |
Lisbeth Salander war von Stieg Larsson erklärtermaßen als eine erwachsene | |
Version von Pippi Langstrumpf entworfen worden. Und Lisbeth wie auch Pippi | |
teilen viele Eigenschaften mit Agnes, der wundersamen kleinen Protagonistin | |
des aktuellen Smirnoff-Romans. Alle sind sie Wunderkinder mit Superkräften. | |
Bei Pippi Langstrumpf liegen diese sowohl im Körperlichen als auch in einer | |
märchenhaften seelischen Resilienz. | |
Denn dass dieses Kind mutter- und vaterseelenallein in der Villa Kunterbunt | |
lebt, ist ja ein prinzipiell tragischer Umstand, den Astrid Lindgren zu | |
einem großen Abenteuer umgedeutet hat. Aber klar: Kinder können nur dann | |
echte Abenteuer erleben, wenn keine Erwachsenen da sind, um sie zu | |
beschützen. | |
In Agnes’ Welt gibt es Erwachsene. Doch entweder können oder wollen sie die | |
Kinder eben nicht beschützen, oder sie stellen sogar eine Bedrohung dar. | |
Die Superkräfte, die Agnes und Kristian im musikalischen Bereich besitzen, | |
nützen dagegen nichts. Agnes hat weder Pippis übermenschliche physische | |
Kraft noch Lisbeths profundes Martial-Arts-Know-how. Sie ist machtlos gegen | |
die gezielte Vernachlässigung, der sie durch ihre Mutter ausgesetzt ist, | |
und gegen die Gleichgültigkeit ihres Stiefvaters. | |
Auch das doppelte Spiel, das der pädophile Frank mit den Kindern treibt, | |
kann Agnes nicht wirklich durchschauen. Und dennoch erscheint sie, so wie | |
sich ihr Bewusstsein im Erzählton des Romans manifestiert, absolut nicht | |
als hilfloses Opfer. Dafür ist ihr erzählendes Ich zu wach, ihr Bewusstsein | |
in Pippi-hafter Weise zu resilient gegen Manipulationen jeglicher Art. Die | |
Sprache, die ihrem Erzählton von der Autorin verliehen wird, ist von | |
höchster, lapidarer Klarheit. | |
Das kleine Mädchen pflegt den Hass gegen ihre Mutter so gezielt wie ihre | |
Freundschaften zur Ratte, zu Kristian und Miika; und wo es nur geht, | |
versinkt sie in der „Welt“, zu der sie und Kristian die Musik erklären – | |
alles andere ist die „Unwelt“. | |
Doch auch eine wie Agnes würde wohl letztlich untergehen, wenn es neben all | |
dem Schrecklichen, das in diesem Buch passiert, und all dem Bösen, das | |
Menschen sich gegenseitig antun, nicht doch auch zu einer geradezu | |
märchenhaften Intervention der zwar schwachen, aber sich nicht unterkriegen | |
lassenden Kraft des Guten käme. Karin Smirnoff sieht das Böse im Menschen | |
sehr deutlich. Aber sie lässt es nicht gewinnen. | |
28 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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