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# taz.de -- Roman über Erlebnisdorf am Wattenmeer: Im lebensgroßen Puppenhaus
> Kristin Höller führt in „Leute von früher“ hinter die Kulissen einer
> Insel im Wattenmeer. Der Roman verfolgt den Neuanfang einer jungen Frau.
Bild: Schicksal einer Landschaft und ihrer Bewohner: Fähre nach Pellworm
Strand war der Name jener großen Nordseeinsel vor Husums Küste, die 1634
von einer verheerenden Sturmflut auseinandergerissen wurde. Dabei soll die
legendenumwobene Stadt Rungholt im Meer versunken sein. Seitdem existieren
nur noch Bruchstücke der einstigen Insel – Nordstrand, Pellworm und die
winzige Hallig Südfall.
In ihrem Gegenwartsroman „Leute von früher“ schickt Kristin Höller ihre
Protagonistin als Saisonkraft auf eine der Rest-Inseln. Die ähnelt eher
Pellworm, aber heißt in der Erzählung „Strand“. Marlene, Ende zwanzig, hat
nach vielen Jahren endlich ihr Studium der Medienpraxis in Hamburg beendet.
Doch statt mit dem Abschluss nun etwas Passendes anzufangen (Was könnte das
sein?), heuert sie in einem kuriosen Erlebnisdorf im Wattenmeer an. Dort
stellen sie und andere Aushilfen in historischen Kostümen das Inselleben um
1900 für die Touristen authentisch nach.
Mit weißer Haube und Schürze ausgestattet, ist Marlene dem nostalgischen
Kramladen als Verkäuferin zugeteilt. Innerhalb der „Kostümgrenze“ sind
Handy, Kopfhörer oder Radio tabu – genauso wie Tattoo oder Piercing. Hinter
den historischen Kulissen richtet sich der zusammengewürfelte Haufen der
eintreffenden Aushilfen in der provisorischen Barackensiedlung ein.
## Diffuse Lebenskrise
Mit dem kontrastreichen Szenario schafft die 1996 geborene Schriftstellerin
eine überraschende Ausgangssituation für ihren zweiten Roman. Scheinbar
mühelos verknüpft sie in der vielschichtigen Erzählung die diffuse
Lebenskrise ihrer Protagonistin mit dem Schicksal einer Landschaft und
ihrer Bewohner.
Marlene lässt in Hamburg Robert, ihren queeren Mitbewohner, die enge
Freundin Luzia und auch Paul zurück. „Paul hatte tolle Haare und tolle
Augen, und Marlene war auf eine zurückhaltende Art und Weise von ihm
angezogen. Sie schliefen nur ab und zu miteinander. Marlene machte gerne
Fotos von ihm, weil er in jeder Umgebung sehr gut und irgendwie eigen
aussah. Er machte selten Fotos von ihr, aber das störte sie nicht.“
Bald lernt sie bei der Arbeit auf Strand Arno, den Betreiber des
Kramladens, mit seiner Familie besser kennen, und sie verliebt sich in
Janne aus der Fischräucherei gegenüber. Die junge Frau stammt wie Arno von
der Insel, und alles an ihr ist rätselhaft.
Obwohl er kein klassischer Jugendroman ist, erhielt Kristin Höller für
ihren Debütroman „Schöner als überall“ 2020 das Kranichsteiner
Jugendliteraturstipendium. Auch ihr aktueller Roman, „Leute von früher“,
verhandelt den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Ausgerechnet in
dieser Umgebung zwischen Schein und Sein, unter Menschen, denen sie
woanders nie begegnet wäre, beginnt Marlene die schützende
Unverbindlichkeit ihrer Hamburger Existenz infrage zu stellen.
## Trostlose Insel
Schauplatz des Romans ist die kaum idyllisch anmutende und bei Ebbe schnell
trostlos wirkende grüne Insel ohne Sandstrand. Deren meterhohe Deiche und
die Grabsteine der Namenlosen auf dem Inselfriedhof erinnern an die
zerstörerische Kraft des Meeres.
Trotzdem erlebt Marlene erst in Jannes Gesellschaft die Natur der Insel
sowie sich selbst auf eine intensive, ihr bislang unbekannte Weise.
Risikofreudig verknüpft Kristin Höller in „Leute von früher“ die
Entwicklung ihrer Figuren aus der Gegenwart mit Überlieferungen rund um die
versunkene Stadt Rungholt zu einer geheimnisvollen Erzählung. Geprägt von
den Katastrophen der Vergangenheit, erscheint die Insel zerbrechlich und
dem sich wandelnden Klima bedrohlich ausgeliefert. So wird die Dramaturgie
der Ereignisse auch von den Extremen der Jahreszeiten begleitet.
## Hitze im Juli
„Die Hitze hielt den ganzen Juli über an, wurde zu einem Grundrauschen, zu
einer zermürbenden Tatsache. Die Gäste bewegten sich schleichend durchs
Dorf, selbst die Kinder liefen müde umher. Von den Kostümen wurde nur noch
das nötigste getragen.“
Während sich in den Abläufen des Dorfes erste Auflösungserscheinungen
zeigen, fühlt sich Marlene seltsam befreit. Doch der Stillstand des Sommers
markiert nur den Auftakt zum plötzlich hereinbrechenden Herbst und zu einem
filmreifen Finale.
30 Apr 2024
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
wochentaz
Literatur
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Insel
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