# taz.de -- Roman von Emily St. John Mandel: Vorsicht vor Zeitreisen | |
> Der aktuelle Roman von Emily St. John Mandel ist, wie die Autorin selbst | |
> nahelegt, leicht neben der Spur. Doch er ist auch von Lebensfreude | |
> getragen. | |
Bild: Kreativer Leichtsinn unter Corona: Schriftstellerin Emily St. John Mandel | |
In Analogie zu leichtfüßigen Menschen könnte man die kanadische Autorin | |
Emily St. John Mandel als leichthändige Autorin bezeichnen. Ihr ruhiger, | |
fast beiläufig daherkommender Stil prägt auch ihren neuen Roman „Das Meer | |
der endlosen Ruhe“, eine speculative fiction, in der es, zumindest | |
oberflächlich, um Zeitreisen geht. | |
Den allermeisten Zeitgenossen sind die Paradoxa von Zeitreisen bewusst, und | |
St. John Mendel erspart es den Lesern dankenswerterweise, neuerlich auf die | |
Widersprüche dieser Imagination hinzuweisen, auch fährt sie keinerlei | |
technisches Brimborium auf, um sie literarisch doch möglich zu machen. Im | |
Jahr 2401 gibt es sie, aber sie machen Probleme. | |
Die liegen, wie meist, im Menschen selbst, sei dieser nun aus | |
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Denn, so musste der Zeitreisende | |
Gaspery-Jacques Roberts in seiner Ausbildung lernen, bei Reisen in die | |
Vergangenheit muss diese absolut und in jedem Detail so bleiben, auch wenn | |
das bedeutet, dass man auf eine sehr sympathische Person trifft, von der | |
man weiß, dass sie drei Tage später sterben wird, obwohl es leicht zu | |
verhindern wäre. Eingriffe in die Zeit werden nicht geduldet, die Strafen | |
gegen Verstöße sind entsprechend drakonisch. | |
Auf Zeitreise geschickt wird Gaspery vom leicht mysteriösen Zeitinstitut, | |
weil an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten der | |
Vergangenheit Störungen auftreten: kurze Sequenzen, in denen Menschen | |
seltsame, unerklärliche Erfahrungen machen. Dahinter steckt das Phänomen | |
sich überlagernder Zeiträume, die etwa dazu führen, dass der Auswanderer | |
Edward St. John St. Andrew 1912 mitten in einem kanadischen Wald | |
Geigenklänge und seltsame Geräusche aus einem anderen Jahrhundert hört. | |
Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Anomalien reist Gaspery in | |
verschiedene Zeiträume der Vergangenheit und wird dabei natürlich gegen die | |
Kein-Eingriff-Regel verstoßen. Bis er den Grund für die Anomalien findet, | |
springt der Roman zwischen den Zeiten hin und her. Dabei verwebt St. John | |
Mandel Biografisches, Autofiktionales und Intertextuelles in einem | |
komplexen Verweissystem. | |
## Leben auf einer Mondkolonie | |
So begegnet Gaspery 2203 auch der Schriftstellerin Olive Llewellyn, die auf | |
einer Mondkolonie lebend, auf der Erde auf Lesetour ist. Gerade ist ihr | |
Roman „Marienbad“ erschienen, in dem es um eine Pandemie geht. (Gaspery, | |
dies nur nebenbei, ist nach einer der Romanfiguren dieses Romans benannt.) | |
In der Autorin Olive Llewellyn kann man unschwer das Alter ego St. John | |
Mandels erkennen, die mit ihrem kurz vor den Corona-Ereignissen erschienen | |
Roman „Station Eleven“ – in Deutschland zunächst unter „Das Licht der | |
letzten Tage“ veröffentlicht – den Pandemie-Roman der Stunde geschrieben | |
hatte: eine zärtliche Dystopie über das Leben nach einer Viren-Pandemie. | |
Als Llewellyn gefragt wird, woran sie aktuell schreibe, antwortet sie, es | |
sei eine „verrückte Sci-Fi-Geschichte“, die „irgendwie leicht neben der | |
Spur“ sei. | |
Diese Antwort verweist auf „Das Meer der endlosen Ruhe“, also das Buch | |
selbst, das, so St. John Mendel, ein Produkt der Coronapandemie sei. Diese | |
Zeit sei so seltsam gewesen, dass sie ein „Gefühl von kreativem Leichtsinn“ | |
erzeugt habe. Sie habe gedacht: „‚Alles ist schrecklich. Überall um mich | |
herum sterben Menschen. Ich werde einfach schreiben, was ich will.‘ Ich | |
wollte schon immer Zeitreiseromane schreiben, also begann ich, eine | |
Zeitreisegeschichte zu schreiben.“ | |
Auch aus Mendels Roman „Das Glashotel“ (2020) über ziemlich skandalöse | |
Wirtschaftskriminalität finden sich Figuren in „Das Meer der endlosen Ruhe“ | |
wieder – das Thema der Zeitreise wird also gewissermaßen auch intertextuell | |
eingelöst. Und da in diesem neuen Roman tatsächlich alles leicht neben der | |
Spur, aber schön zu lesen ist, reicht an dieser Stelle vielleicht der | |
Hinweis, dass sich nicht nur intertextuelle und biografische Verweise – | |
Edward St. John St. Andrew etwa erinnert an einen Vorfahren der Autorin –, | |
sondern auch die Geschehnisse und Motive natürlich sich ineinander spiegeln | |
und zeitanomalisch aufeinander verweisen. | |
Denn die eigentliche Frage, die der Roman stellt, ist die nach der | |
Realität, in der wir leben. Die Anomalien, die die Figuren erleben, könnten | |
schließlich als Datenfehler darauf hinweisen, dass alle in einer | |
gigantischen Simulation leben – hier erinnert der Roman an literarische und | |
filmische Vorläufer wie „Welt am Draht“ oder „Matrix“. | |
## Von HBO verfilmt | |
Doch wie schon „Station Eleven“ [1][das Dystopie-Genre auf den Kopf | |
stellte,] so wenig setzt der Roman einmal mehr böse Mächte in Szene, die | |
die Menschheit unterjocht hätten und nun mittels Simulationen | |
stillstellten. Vielmehr löst die Frage nach der gigantischen Maschine, die | |
all diese Realitäten in Schwung halten würde, vor allem Staunen aus. | |
Emily St. John Mandel unterwandert die Genres. So wie ihr [2][von HBO | |
verfilmter Pandemie-Roman] „Station Eleven“ tatsächlich tröstlich ist, so | |
ist „Das Meer der endlosen Ruhe“, das den Realitätsbezug infrage stellt, | |
von unerschütterlichem Optimismus und Lebensfreude getragen: „Sollte je der | |
definitive Beweis dafür gefunden werden, dass wir in einer Simulation | |
leben, gibt es nur eine korrekte Reaktion auf diese Neuigkeit: Na und? Auch | |
ein in einer Simulation gelebtes Leben ist ein Leben.“ | |
Womit man wieder beim Menschen ist – und der Frage, welches Leben er lebt, | |
ob mit oder ohne Zeitreisen. Nicht zuletzt hat der Simulationsbegriff bei | |
St. John Mandel eine weite poetische wie politische Dimension. | |
Denn so wie ein Roman eine fiktive Welt sei, sei auch der Kolonialismus | |
eine Erzählung vom „leeren Land, das man sich einfach nehmen kann“: „Aber | |
dort lebten Menschen. Das war es, was die Geschichte falsch machte. Meine | |
Vorfahren, die über den Atlantik kamen, um dieses Land zu besiedeln, | |
lebten, so scheint es mir, in einer Art Simulation. Es gab eine falsche | |
Geschichte, in deren Dienst sie arbeiteten.“ | |
Mit dem Taugenichts Edward St. John St. Andrew, einem von seinem Verwandten | |
nach Kanada abgeschobenen Vorfahren, beginnt der Roman 1912 auf lustige | |
Weise. Damit ist die Zeitreisende St. John Mandel zurückgereist in den | |
Anfang ihrer eigenen familiären wie nationalen Simulationen, die sie zum | |
Ausgangspunkt nimmt, um nach der Rolle von Fiktionen für unser Leben zu | |
fragen. | |
Barack Obama hat „Das Meer der endlosen Ruhe“ auf seine jährliche Liste | |
der Leseempfehlungen gesetzt. Wir schließen uns an. | |
12 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Elke Brüns | |
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